Martín Kohans grandioser Roman „Zweimal Juni“
Rezension für die DIE ZEIT 20.5.2009
Die Berichte aus Guantánamo, Abu Ghraib und den vielen anderen, namenlos gebliebenen US-Sondergefängnissen haben in den letzten Jahren dafür gesorgt, dass das Phänomen der Folter wieder öffentlich thematisiert wird. Die gleichzeitig entgrenzte und doch kalkulierte Gewalt des Staates ist eben nicht nur ein Merkmal rückständiger Dritt-Welt-Despotien. Auch westliche Demokratien greifen offensichtlich auf sie zurück, wenn sie sich in ihrer Existenz bedroht sehen.
Dass Folter ein unsichtbares Gravitationszentrum politischer Herrschaft darstellt, könnte man wohl auch als Ausgangsthese von Martín Kohans grandiosem Roman „Zweimal Juni“ bezeichnen. Der 42jährige argentinische Schriftsteller erzählt darin die Geschichte eines jungen Mitläufers während der Militärdiktatur 1976-83. Kohans Ich-Erzähler, ein junger Rekrut, arbeitet als Chauffeur des Militärarztes Doktor Mesiano, der Richtlinien zum Einsatz der Folter zu definieren hat. Tatsächlich wurde Folterungen während der südamerikanischen Diktaturen – ähnlich wie zuletzt im Irak – von medizinischem und psychologischem Fachpersonal begleitet. Über den Dienstweg erreicht diesen Doktor Mesiano die zunächst reißerisch anmutende Frage, ab welchem Alter man Kinder foltern könne.
Dieses scheinbar anklagende Ausgangsstatement dient Martín Kohan dann aber nicht zu einer simplen Denunziation des argentinischen Militärregimes, das in den 1970er Jahren 30.000 Oppositionelle ermordete. Kohan entwickelt aus der Frage vielmehr eine kleine, fern jedes moralisierenden Kitsches verlaufende Geschichte. Sein mit der Bearbeitung der Anfrage beauftragter Ich-Erzähler muss zunächst den Vorgesetzten auftreiben, was sich allerdings nicht ganz einfach gestaltet. Denn Argentinien befindet sich während des Erzählfensters – zweimal im Juni – noch in einem zweiten Ausnahmezustand: Der Roman fokussiert auf jene Tage während der Fußballweltmeisterschaften 1978 und 82, als die Partien Italien-Argentinien ausgetragen wurden. Ganz nebenbei wird der Blick somit auf die Schlüsselmomente der Diktatur gerichtet: die Hochphase des Regimes 1978, als die von oben verordnete nationale Begeisterung mit dem WM-Sieg in eine regelrechte Hysterie umschlug, und 1982, als die Niederlage im Falkland-Krieg den Kollaps der Diktatur einleitete.
Kohan begleitet den etwas farblosen, aber nicht wirklich unsympathischen Ich-Erzähler bei der Pflichterfüllung. Gemeinsam mit dem Vorgesetzten gelangt der Rekrut schließlich sogar in jenes Foltergefängnis, aus dem die Anfrage erfolgt war. Er begegnet dabei sowohl dem besagten Kind, einem Säugling, als auch der Mutter, einer seit Monaten gefolterten „Terroristin“. Doch obwohl die Mutter den Rekruten in einem unbeobachteten Moment um Hilfe anfleht, ihn bittet, um des Kindes willen einen Anwalt zu informieren, stürzt die Begegnung den jungen Soldaten nicht in eine Krise. Er weiß um ein Argument, das durchaus auch hierzulande bekannt ist: Wer sich außerhalb einer Gesellschaft stellt, darf sich nicht wundern, wenn die Gesellschaft ihn mit allen Mitteln bekämpft. Der Rekrut entwickelt kein Mitleid mit der Gefangenen, seine wachsende Empathie gilt vielmehr dem Vorgesetzten, den er schließlich im letzten, 1982 spielenden Teil des Romans während des Falkland-Kriegs noch einmal besucht.
„Zweimal Juni“ trägt eindeutig Züge eines Thesenromans. Unweigerlich fallen einem Hannah Arendts Überlegungen zur „Banalität des Bösen“ oder Walter Benjamins „Kritik der Gewalt“ ein. Martín Kohan erzählt von den unaufgeregten Logiken des Ausnahmezustands, der Verbindung von politischer Herrschaft und individuellen Machtfantasien, der technischen Sachlichkeit von Terror. Er findet dafür jedoch Sprache und Form, die über die – auch im argentinischen Zusammenhang – bekannten Erkenntnisse hinausweisen. Der berichtende, aber nicht wirklich sachliche Ton bewahrt den Text vor der Eindimensionalität. Zudem wird die Geschichte des Rekruten mit Nebenerzählungen und Szenen verschränkt, die den linearen Fluss des Romans unterbrechen. Die Beobachtungen über Fußball, die Stadt Buenos Aires, die kleinen individuellen Desertionsmanöver, über Sexualität und Gewaltfantasien sorgen für ein seltsames Gleichgewicht zwischen Statement und assoziativen Bild- und Gedankensplittern. Und auch inhaltlich unterläuft Kohan die Eindeutigkeit seines Sujets: Der Militärarzt Doktor Mesiano verliert im Falkland-Krieg 1982 den einzigen Sohn und wird für einen Augenblick selbst zum Opfer staatlich organisierter Gewalt, das seine Rolle allerdings nicht annehmen kann.
Der Säugling hingegen, mit dem der Roman seinen Anfang nimmt, entkommt auf beiläufige Weise seinem Schicksal und wird ausgerechnet von den Leuten, die ihn zunächst als medizinisch-technisches Problem betrachtet haben, sorgsam behütet. Diese Verschiebung scheint an die Geschichten deutscher KZ-Kommandanten zu erinnern, die zu Hause liebevolle Familienväter waren. Aber bei Kohan wird mehr verhandelt. Er erzählt von einem rätselhaften, aber alltäglichen Gefüge aus Rationalität, Terror, sexualisierter Macht und politischer Ordnung, von der Verschränkung von Normalität und Ausnahme. Diese Geschichte ist – jenseits der Eingangsfrage, die am Ende abschlägig beantwortet wird: kleine Kinder foltert man nicht und sei es auch nur, weil das keinen Nutzen hätte – auf subtile Weise beunruhigend. Martin Kohán hat mit „Zweimal Juni“ einen großen Roman über das innere emotionale Gleichgewicht politischer Herrschaft geschrieben.
Martín Kohan: Zweimal Juni, Roman, 181 Seiten, Suhrkamp-Verlag, 19,80€, ISBN 978-3-518-42078-2)
Raul Zelik