Marc Thörners Buch: „Afghanistan-Code. Reportagen über Krieg, Fundamentalismus und Demokratie“
Rezension TAZ April 2010
Bei der NATO ist seit Ende der 1990er Jahren viel von Warlords, Drogenhandel und Fundamentalismus die Rede. Die irregulären Kriegsakteure, aus Hollywood-Streifen bestens vertraut, gelten als die große neue Herausforderung des Westens. Nicht zuletzt auch der Militäreinsatz in Afghanistan wird mit dieser „asymmetrischen Gefahr“ legitimiert.
Dass hier etwas nicht stimmt, könnte auch schon bei oberflächlicher Betrachtung auffallen. So wurde der religiöse Fundamentalismus, beispielsweise in Gestalt des wahabitischen Saudi-Arabiens, jahrelang als wichtiger geopolitischer Verbündeter betrachtet. Der Drogenhandel gewann im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet erst an Bedeutung, als der vom Westen unterstützte „Freiheitskrieg“ gegen die Sowjetunion finanziert werden musste. Und der Warlords schließlich bediente man sich 2001, als es galt, die Taliban-Regierung zu stürzen. Die westliche Staatengemeinschaft pflegt ganz offensichtlich ein pragmatisches Verhältnis zu jenen Akteuren, die doch gleichzeitig als Hauptfeinde bezeichnet werden.
Diese Unstimmigkeiten stellen auch den Ausgangspunkt für Marc Thörners Buch „Afghanistan-Code“ dar. Der Hamburger Journalist, der die Schauplätze des „War on Terror“ seit einigen Jahren bereist, wirft die Frage auf, inwiefern die Kriegführung des Westens mit Warlords und Fundamentalismus verflochten ist. Anhand von Einzelreportagen rekonstruiert er zunächst die verschiedenen Ebenen des Afghanistan-Krieges. Dabei bestätigt sich nicht nur die Annahme, dass die Situation am Hindukusch komplex ist, weil sich Besatzung, ethnische Widersprüche, religiöser Fundamentalismus und ökonomische Strategien der Selbsterhaltung überlagern. Liest man Thörners Berichte, so gewinnt man außerdem den Eindruck, dass auch die Akteure keine rechte Ahnung haben, was sie eigentlich machen. Wüsste man nicht von Tausenden von Toten, so könnte man Thörners Reportagen als Realsatire lesen. Da gibt es Bundeswehrsoldaten, die ihr Camp kaum verlassen (Man wohl hinzufügen, dass es etwas sehr Sympathisches hat, wenn deutsche Soldaten nicht kämpfen wollen). Thörner spricht mit US-Feldgeistlichen, deren religiöser Wahn dem Eifer der wahabitisch inspirierten Taliban in nichts nachsteht. Er trifft sich mit Beamten, die zwar wissen, dass sie bedroht sind, aber nicht so recht, ob von Warlords, Taliban oder Spezialeinheiten der Besatzungstruppen. Und er recherchiert über das Todesurteil gegen den Studenten Sayed Perwiz Kambakhsh, von dem es zunächst geheißen hatte, es stehe in Zusammenhang mit Internetrecherchen des Studenten, und von dem später zu hören war, es sei als Drohung gegen den Bruder des Verurteilten, einen unabhängigen Journalisten, gedacht gewesen. Thörner bekommt nun die Version präsentiert, der Prozess habe einfach mit Denunziationen eines beleidigten Hochschullehrers zu tun gehabt.
Der Wahnwitz, der sich Afghanistans bemächtigt hat, scheint keine Grenzen zu kennen. Und so kommt man zu dem Eindruck, dass das Land vor allem deswegen als „Friedhof der Supermächte“ bekannt wurde, weil die undurchsichtige Lage jede imperiale Strategie blockiert.
Es ist zwar einerseits ganz beruhigend, dass imperiale Strategien scheitern können, hat aber auch bedrohliche Rückwirkungen auf die Besatzungsmächte selbst: Die westlichen Staaten selbst gehen zu immer irregulären Formen der Kriegführung über. So entwickelt sich ein unerträglicher Pragmatismus: Zwar kamen die Besatzungsmächte 2001 angeblich, um die afghanische Gesellschaft von einer religiösen Tyrannei zu befreien. Doch in Anbetracht der Stärke der Islamisten versucht man nun, mit dem Fundamentalismus zu paktieren. Noch drastischer ist der Umgang mit dem Warlordismus: Als Ordnungsmacht wird jeder akzeptiert, der bewaffnet Kontrolle ausüben kann. Im akademischen Neusprech wird so etwas als „Security Governance“ bezeichnet, als informelle Sicherheitspolitik. Doch man sollte sich nichts vormachen: Wenn Besatzungsmächte und Warlords lokale Militärregime errichten, hat das mit Sicherheit nichts zu tun.
Thörners „Afghanistan-Code“ sollte Pflichtlektüre für alle sein, die dem Militäreinsatz jemals etwas abgewinnen konnten. Vielleicht hatte das demokratisierende Nation-Building, von dem westliche Politiker – nicht zuletzt der grüne Außenminister Fischer – so viel gesprochen haben, tatsächlich einmal eine Chance. Aber dann zuletzt 1979, unter den Sowjets. Heute, so könnte man den afghanischen Irrsinn mit Thörner beschreiben, paktiert der Westen heimlich mit jenen Kreaturen, die er zwar einst mit erschuf, aber mittlerweile bekämpft; es sei denn, sie lassen sich irgendwie in die eine Kontrollstrategie einbinden.
Raul Zelik
Marc Thörner: „Afghanistan-Code. Reportagen über Krieg, Fundamentalismus und Demokratie“, Flugschrift Edition Nautilus, 160 Seiten, 16 Euro