Meine Tochter fängt zu schreien an, und frage ich mich, was das bedeutet. Bei Deleuze / Guattari heißt es ja, dass so etwas gar nichts bedeutet, weil etwas ist, was es ist. – Wenn ich D&G richtig verstanden habe.
Meine Tochter schreit weiter, und ich denke, dass meine Freundin das auch sagt: dass ein Gefühl ist, was es ist. Sie behauptet außerdem, dass man keine 500 Seiten braucht, um darauf zu kommen. Jähzorn hat sie neulich gesagt, seien ungefilterte Gefühle, aber ungefilterte Gefühle von was, habe ich mich gefragt.
Ist das Ohnmacht oder Allmacht? Schreien die Kinder, weil sie das Gefühl haben, nichts in der Hand zu haben oder umgekehrt weil sie wissen, dass sie alles in der Hand haben? Wie taktisch ist so ein Blag?
Angefangen hat es damit, dass ich vor ein paar Tagen ein paar Tassen gekauft habe. Blöd wie ich bin, habe ich gedacht: drei Tiermotive, da hat man immer was zu schauen. Aber drei Motive bei zwei Kindern, das sind jeden Tag sechs Gründe, sich zu streiten.
Ich frage mich also, ob meine Tochter schreit, weil ihr ungefiltertes Gefühl ihr sagt, sie sei der Mittelpunkt der Welt und Herrin aller Giraffentassen, oder ob es nur Neid auf den Bruder ist, der ihr immer im Weg steht.
Der Bruder meiner Tochter, also mein Sohn, klar, er wird auch jähzornig, aber anders. Er verdreht die Augen wie Zombie, prügelt mit den Fäusten auf irgendetwas ein, zum Beispiel auf mich, und will „nach Hause“, obwohl er vielleicht schon zuhause ist oder zuhause 8000 Kilometer entfernt liegt. Er schreit auch, aber er schreit anders, ich habe das Gefühl, weniger taktisch. Aber das ist ja auch schon wieder so eine blöde Interpretation: taktisch.
Jähzorn ist Ausdruck eines starken Willens, hat meine Freundin behauptet, und ich habe gedacht, dass es sich vielleicht doch lohnt, 500 Seiten zu schreiben, weil Wille ein blöder Begriff ist. D&G sagen Wunsch; wir sind Wunschmaschinen, irgendwie bringt das Gefüge, das wir sind, permanent Wünsche hervor. Aber was sind das für Wünsche?
Meiner Tochter geht die Luft aus, und ich spüre, dass der Moment gekommen ist. Aber Vorsicht: Nichts sagen, was wieder auf eine Giraffe verweist. Also zum Beispiel nicht: Schau mal der Mann da, der hat aber einen langen Hals. Das gerade nicht.
Ich sage also laut, möglichst ruhig: Schaut mal der rote Vogel da draußen.
Raul Zelik (MISSY MAGAZINE 1 / 2011)