(Beitrag zu: Klaus Viehmann / Markus Mohr: "Spitzel", Assoziation A, 18 Euro)
»Befreite Zone«
Mina Caribe, ein 300-Seelendorf in der kolumbianischen Serranía San Lucas. Kolonisierungsgebiet im letzten verbliebenen Bergwald am Mittleren Magdalena. Goldgräberstimmung, Klondike, sehr schmutzig. Behelfsmäßige Holzhütten, deren Dächer aus Plastikplanen bestehen, gewellte, von Maultierhufen ausgetretene Lehmwege, die sich in der Regenzeit in Schlammtrassen verwandeln, Müll. Am Wegrand, unter den Pfahlkonstruktionen der Häuser, auf dem staubigen, quecksilberverseuchten Hauptplatz.
Man merkt sofort, dass Mina Caribe nicht außerhalb der kapitalistischen Welt liegt. Bierdosen säumen die Maultierpfade, aus den Kneipen dröhnen mexikanische Hitparadenschlager, es riecht nach Benzin und Blausäure, die – wie die Beschriftung einer leeren Tonne besagt – aus Südkorea importiert wird und zur Herauslösung des chemischen Goldanteils aus dem Erdreich verwendet wird. Und doch dürfte es wenige Orte auf der Welt geben, die der herrschenden Ordnung so sehr entzogen sind wie das Goldgräberdorf. Die Serranía San Lucas repräsentiert das, was Linke vor 15 Jahren überschwänglich und schon damals falsch als ›befreites Gebiet‹ bezeichnet haben. Befreit nicht von Armut und Krieg, aber außerhalb der Kontrolle des Staates. Ein zwei Tagesreisen von der nächsten Stadt entferntes, nur über Maultiertrecks zu erreichendes Gebiet, in dem es weder Polizei- noch Armeeposten gibt und die Guerilla die Aufgaben der Ordnungsmacht und des kollektiven Organisators übernommen hat.
Die ELN-Einheit im Dorf besteht aus einem freundlichen 45-Jährigen und drei Teenagern, die die Bevölkerung unermüdlich zur Selbstorganisierung aufrufen. Sie initiiert mingas, gemeinschaftliche Arbeitseinsätze zur Ausbesserung von Wegen und zur Müllbeseitigung, beruft Dorfversammlungen ein, ermuntert die Bevölkerung, sich an rudimentären Gesundheitsprogrammen zu beteiligen, oder bewegt die Goldsucher zur Vereinbarung kollektiver Arbeits- und Produktionsvereinbarungen.
Doch die Bevölkerung reagiert verhalten. Die Beteiligung an den Arbeitseinsätzen, Kommissionen und Versammlungen ist gering. Man will sich nicht organisieren. Die Bewohner des ›befreiten Gebiets‹ Serranía San Lucas gehen der Verantwortung aus dem Weg. Ein Dorffest wird schließlich – mit Ausnahme eines Hahnenkampfs, bei dem es um Wettgeld geht und der sich daher größter Beliebtheit erfreut – zum größten Teil von den Guerilleros organisiert. Von politischen Kadern, die danach streben, sich politisch überflüssig zu machen.
Auf den ersten Blick könnte man diese Zurückhaltung der Bevölkerung als politische Verweigerung gegenüber selbsternannten Avantgarden interpretieren. Man könnte behaupten, die kolumbianische Landbevölkerung – Spielball der bewaffneten Akteure im Krieg und vielfach vertrieben – sei es leid, sich fremd bestimmen zu lassen. Sei nicht bereit, sich in eine Struktur zu fügen, die sie nicht selbst gewählt hat. Aber so einfach ist es nicht. Die Dorfbewohner, die im ersten Satz stets betonen, den bewaffneten Akteuren des Kriegs gleichermaßen distanziert gegenüberzustehen, schieben nach einem längeren Gespräch meist nach, dass sie ohne die Anwesenheit der Guerilla wohl längst von ihrem Land vertrieben worden wären, denn die Regierung will die Goldvorkommen an ausländische Unternehmen verkaufen. Die Goldsucher stellen hierfür ein Hindernis dar. Und schließlich bemerken die Dorfbewohner auch, dass die Selbstorganisierung ihrer Ortschaften die einzige Möglichkeit sei, dem Elend ein Stück weit zu entkommen.
Und trotzdem organisieren sie sich nicht.
Panoptikum
Das Prinzip des Panoptikums besteht darin, dass ein Gefängniswärter in die ihm zugeteilten Häftlingszellen hineinblicken kann, ohne von den Insassen gesehen zu werden. Damit entfaltet sich eine Form der Kontrolle, die dazu tendiert, vom Gefangenen verinnerlicht zu werden. Der Häftling wird keineswegs permanent beobachtet, weiß aber nicht, wann sich der Blick des Wärters abwendet und nimmt sich daher aus Furcht vor möglicher Bestrafung selbst zurück. Die Überwachung gewinnt neue Effizienz: »Die Häftlinge [werden zu] Gefangenen einer Machtsituation, die sie selber stützen«, sagt Foucault. Die Selbstdisziplinierung des Gefangenen nimmt dem Wärter einen erheblichen Teil seiner Arbeit ab.
Seit Foucault ist vielfach beschrieben worden, wie sich dieses System von Überwachung und verinnerlichter Kontrolle vom Gefängnis ausgehend in den gesellschaftlichen Alltag hinein ausgebreitet hat. Die Entwicklung der Sicherheitstechnologien hat diese Panoptisierung weiter fortgeschrieben. So ist beispielsweise die gesamte Innenstadt Londons unter dem Vorwand der City-Maut-Erhebung in einen panoptischen Raum verwandelt worden, bei dem ein Netzwerk aus Verkehrsüberwachungsstellen, Kontrollbehörden und Geheimdiensten den Gefängniswärter ersetzt hat. 800 Kameras erfassen die in die Innenstadt hineinrollenden Fahrzeuge und gleichen Insassen und Autokennzeichen automatisch mit Fahndungslisten ab. Insgesamt hat man in Großbritannien mittlerweile 2,5 Millionen Überwachungskameras installiert. Der Einzelne muss ständig davon ausgehen, bei Regelübertretungen beobachtet und bestraft zu werden – er steht wie der Gefängnisinsasse unter Generalverdacht. Bemerkenswerterweise versucht dieses System, seine Allmacht gleichzeitig zu annoncieren und zu kaschieren. Die Überwachung wird nicht von Wachtürmen aus ausgeübt, die über den Lagerinsassen thronen und den Kontrollzustand vor Augen führen. Die Überwachungskameras sind omnipräsent und doch unsichtbar. Immer wieder weisen Schildern auf ihre Existenz hin, aber besonders aufdringlich sind die Kameras selten angebracht. Der Zustand der Überwachung bleibt dezent. Der Eindruck einer umfassenden Kontrolle soll – gerade weil sie faktisch ist – vermieden werden. Das gesellschaftliche Gefängnis darf nicht als solches wahrgenommen werden. Die automatisierte, entindividualisierte Form der Macht entwickelt immer technischere Züge.
Gesehen werden durch die Zeit
Im kolumbianischen Bergwald gibt es keine Überwachungskameras. Personalausweise sind so gut wie bedeutungslos, der Arm des bürgerlichen Strafsystems reicht nicht in die Minendörfer – Justiz- und Polizeiapparat sind in weiten Teilen des Territoriums faktisch nicht präsent. Dennoch ist die Angst der Bevölkerung, als Staatsfeind identifiziert zu werden, auch in der Serranía San Lucas allgegenwärtig. Der Ladenbesitzer erklärt, den Guerilleros nur deswegen Lebensmittel zu verkaufen, weil es sich um Bewaffnete handele. Die Friseuse, die zum Frauentag ein buntes Programm auf dem Hauptplatz organisiert, vermeidet jede Äußerung, die als politisch interpretiert werden könnte – obwohl ihr eine solche Haltung bei der faktischen Ordnungsmacht Guerilla durchaus Sympathien einbringen würde. Und der Sprecher der Goldsucherassoziation spricht, wenn man ihn nach Menschenrechtsverletzungen fragt, nur von der »schwierigen Situation der öffentlichen Sicherheit«. Schon die Verwendung des Begriffs »Paramilitärs« würde ihn in den Augen der kolumbianischen Eliten als potenziellen Guerillasympathisanten brandmarken. Das System der Überwachung wirkt lange vor der Verhinderung konkreter Handlungen bei der Einschränkung des Denkens und Sprechens.
Dass das auch an jenen Orten Kolumbiens funktioniert, die vom Zugriff staatlicher und parastaatlicher Sicherheitsorgane mitunter jahrelang verschont bleiben, hat damit zu tun, dass Armee und Paramilitärs ein eigenständiges Kontroll- und Strafsystem etabliert haben, das zwar nur selten offene Präsenz zeigt, aber dennoch wie der mit dem panoptischen Blick ausgestattete Wärter jede Handlung registrieren könnte. Selbst in den abgelegensten Berg-, Dschungel- und Savannendörfern Kolumbiens muss die Bevölkerung damit rechnen, beobachtet und irgendwann einmal für ihr Verhalten zur Rechenschaft gezogen zu werden. Wenn Mina Caribe eines Tages in einer Militäroperation besetzt wird – und in regelmäßigen Abständen kommt es immer zu solchen Operationen –, stehen die Sprecher der Dorfversammlungen und Kooperativen ganz oben auf der Abschussliste. Sie werden brutal gefoltert, strandrechtlich erschossen oder massakriert. Auf diese Weise unterbindet das von den kolumbianischen Eliten mittels (Para-)Militärs etablierte Überwachungs- und Strafsystem nicht nur die Kommunikation zwischen Guerilla und möglichen Unterstützern, sondern jede Art systemkritischer Organisierung und Artikulation. Auch in Abwesenheit des bürgerlichen Herrschaftsapparats bleibt die Kontrolle bestehen.
Die Logik von »Überwachen und Strafen«
Foucault beschreibt in »Überwachen und Strafen« das Entstehen einer Ökonomie der Bestrafungen. Die exzessiven Marterungen, mit denen Vergehen bis ins 18. Jahrhundert geahndet wurden, werden allmählich von ›kalkulierteren‹, ›gemäßigteren‹ Strafen abgelöst. Der Souverän erscheint weniger gewalttätig und setzt seine Legitimität damit nicht mehr in der gleichen Weise aufs Spiel. Es entsteht ein System zur »differenzierten Behandlung von Gesetzwidrigkeiten, nicht zu ihrer globalen Unterdrückung«. Eine regulierte Strafkunst, die darauf abzielt, stets nur so viel Bestrafung einzusetzen wie zur Abschreckung nötig.
Auf den ersten Blick scheint es, als hätten die Eliten Kolumbiens diese Ökonomie des Strafens außer Kraft gesetzt. Die Handlungen der (para-)staatlichen Organe entbehren jeder Zurückhaltung. Sie wirken willkürlich und von zügellosem Hass geleitet. Von »regulierter Strafkunst« kann wahrlich nicht die Rede sein. Tatsächlich geht die Brutalität, mit der in Kolumbien überwacht und gestraft wird, mit einer Krise der Staates im doppelten Sinne einher. Zum einen durchdringt der Sicherheitsapparat einen Teil des Landes nicht vollständig: Die späte Erschließung von Wald- und Savannengebieten, die Präsenz von Guerillabewegungen und die Ineffizienz der staatlichen Organe selbst haben verhindert, dass Polizei und Justiz ihre ganze Macht entfalten konnten. Zum anderen hat die soziale Auseinandersetzung in Kolumbien aber auch einen Punkt erreicht, an dem sich der herrschende Status quo mit den üblichen Instrumentarien bürgerlicher Macht nicht mehr aufrechterhalten lässt. In Anbetracht eines drohenden Aufstands der Unterschichten und der Existenz großer Guerillaarmeen stellt jede eigenständige soziale Organisierung eine Bedrohung für die Besitzenden dar. Keine bürgerliche Justiz kann jedoch die Gründung von Kooperativen, Bauernverbänden oder Gewerkschaften unter Strafe stellen, ohne die Legitimität des Staates zu gefährden. Daher ist das ›gemäßigte‹ Strafsystem durch ein ›roheres‹, ›vorbürgerliches‹ System ersetzt worden, das zwar weniger »ökonomisch« zu strafen scheint, aber nicht minder kalkuliert agiert.
Auch in diesem System fungiert die Überwachung neben der Strafe als zweite tragende Säule, wobei die Grenzen zwischen gegenseitiger Kontrolle der Bevölkerung, Denunziantentum und massenhaftem Spitzelwesen fließend sind:
– In Ovejas, einem Dorf im nordkolumbianischen Department Sucre, treibt eine Marine-Einheit im Jahr 2000 die Bevölkerung zusammen und ermordet 40 Menschen. Es geht weniger um die Bestrafung konkreter Guerilla-Unterstützer, sondern um die Disziplinierung einer ganzen Region: Die Bevölkerung soll wissen, dass sie kollektiv zur Rechenschaft gezogen werden kann, wenn Einzelne aus der Ortschaft mit den Aufständischen zusammenarbeiten. Das heißt, es wird ein Klima geschaffen, in dem sich die Bevölkerung gegenseitig bespitzelt und gegebenenfalls denunziert, um der kollektiven Strafe zu entgehen.
– In einer anderen nordkolumbianischen Region, im Küstengebirge der Sierra Nevada, ermorden Paramilitärs Mitte der 90er Jahre Dutzende Bauern, die von einer Ex-Guerillera denunziert worden sind. Berichten der Bevölkerung zufolge war die Frau zu den Todesschwadronen übergelaufen, nachdem diese sie und ihre Verwandten entführt und die Angehörigen vor den Augen der Frau Kaimanen zum Fraß vorgeworfen hatten. In ihrer Ohnmacht wechselte die Guerillera die Seiten und wurde zur Geliebten ausgerechnet jenes Kommandanten, der ihre Familie ermordet hatte. Solche Fälle des Überlaufens, von denen in ganz Kolumbien berichtet wird, sind besonders wirkungsvoll: Der Kontrollblick bekommt einen neuen Zeithorizont. Der Freund, dem man heute vertraut und alles erzählt, kann in einigen Monaten schon ein Informant sein. Nicht nur Nachbarn kontrollieren das Verhalten, sondern die Einzelnen sich selbst, weil ihnen selbst im engsten Kreis jede Bemerkung oder Handlung zum Verhängnis werden kann.
– Im Catatumbo, Norte de Santander, einer an Steinkohle reichen Region an der Grenze zu Venezuela, beginnt 1998 eine Armeeoffensive. Die Bauern berichten später, die Militärs hätten genau gewusst, gegen wen sich die Repression richten musste, um die in den Dörfern existierenden Organisationen zu zerschlagen. Die Militärgeheimdienste hätten über einen längeren Zeitraum Informanten in das Gebiet eingeschleust und so Nachrichten über die Dorfstrukturen gesammelt. Offensichtlich bereitet die Armee ihre Operationen heute anders vor als noch vor zehn Jahren, sie untersucht nicht mehr nur die Topographie einer Region, sondern platziert auch Spitzel, um das soziale Netz im Einsatzgebiet zu durchleuchten.
Die Beispiele zeigen, dass der kolumbianische Staat in Teilen seines Territoriums keine permanente Kontrolle ausübt, aber ein Überwachungs- und Strafsystem hervorgebracht hat, das in vielerlei Hinsicht engmaschiger ist als die bürgerlichen Disziplinierungsapparate. Die Überwachung durch Spitzel und potenzielle Überläufer, die Traumatisierung durch Folter und Massaker und die Selbstdisziplinierung einer eingeschüchterten Bevölkerung bilden ein Gesamtgefüge, das oppositionelle Handlungen an jedem Ort des Landes – früher oder später – bestrafen kann. Noch im abgelegensten Urwaldgebiet müssen die Menschen, wie im panoptischen Modell, davon ausgehen, beobachtet zu werden. Der Spitzel, der Überläufer und das Massaker sorgen als Gesamtsystem für politische Lethargie, Ohnmacht und eine aus der Verzweiflung geborene Identifikation mit dem Aggressor, dem Staat.
Eine Million Spitzel
Kolumbien hat sich – so lautet eine weit verbreitete These – in den vergangenen Jahrzehnten in ein Laboratorium für neoliberale Restrukturierungen und Kriegführung verwandelt. Für das Spitzelwesen trifft die Behauptung nicht weniger zu. Mit dem (unter US-Präsident Bill Clinton konzipierten) Plan Colombia sind v.a. Überwachungstechniken finanziert worden. So fließt die US-Militärhilfe in Höhe von ca. 500 Mio. US-Dollar jährlich in drei Hauptbereiche: Ausbau der Luftaufklärung und -überwachung, Training von Eliteeinheiten der Counterguerilla, Modernisierung der Geheimdienst- und Informationsapparate.
Der kolumbianische Präsident Uribe hat das Konzept der panoptischen Gesellschaft – jeder muss davon ausgehen, beobachtet zu werden, ohne zu wissen, wann und von wem – ganz unverhohlen zum politischen Ziel erklärt. Eine Million Informanten werde die Armee anwerben, verkündete der von US- und EU-Regierungen geschätzte Uribe bereits während des Wahlkampfs 2002. Das bedeutet nichts Anderes, als dass einer von zwanzig erwachsenen kolumbianischen Bürgern als ›Auge‹ der Militärs tätig wird. Die gesellschaftlichen Folgen kann man sich ausmalen: Denunziation als alltägliche Praxis, Furcht und allgemeines Misstrauen, paranoide Durchdringung der Bevölkerung. Dass manche Kolumbianer ihre Privatstreitereien lösen werden, indem sie Nachbarn oder Kollegen als Guerilleros denunzieren, ist durchaus einkalkuliert. Letztlich geht es in einem derartigen System nicht in erster Linie um den Sieg über die Untergrundorganisationen, sondern um die Zerstörung jedes sozialen Geflechts. Selbst verwandtschaftliche Beziehungen werden von Angst besetzt. Weil sich jede Äußerung, jedes emotionale Verhalten im Nachhinein als fatal erweisen kann, nimmt man sich vorausschauend zurück und geht anderen aus dem Weg. Das Ergebnis ist eine auf eigentümliche Weise konditionierte Gesellschaft, die nicht so sehr in den maschinenhaften Prozeduren von Schule und Kaserne ihre Selbstdisziplinierung erlernt, sondern deren Unterwerfung in der massenhaften Traumatisierung durch Bespitzelung, Folter und Massaker geboren und perpetuiert wird.
Raul Zelik