Der 11. September hat alles anders gemacht. Nichts mehr sei wie zuvor, behaupten die Ideologiemaschinen in den Enklaven von Ruhe & Wohlstand. Man habe es mit einem Angriff auf die Zivilisation zu tun. Mit barbarischstem Terror. Unvorstellbarstem Leid. Alles im Superlativ. Natürlich. Und die Enkel der Auschwitzwächter stellen eine Frage, die sie sonst nicht stellen, nämlich 'wie Menschen so verblendet sein können, Tausende von Zivilisten kaltblütig in den Tod zu schicken'. Das Entsetzen gilt den 'Anderen', den 'Unzivilisierten', den noch nicht Angekommenen. Als wären die neuen Gegner dem Mittelalter und nicht der Moderne entsprungen. Als würde es bei Entwicklung um Frieden und Wohlstand gehen. Und nicht auch um Hunger, Zerstörung und Krieg.
"Herzlich willkommen in der Wüste des Realen", sagt Morpheus, Führer der Aufständischen gegen die Maschinen, in Matrix zu Neo, als dieser aus der kollektiven Simulation erwacht und die Verhältnisse sieht. "Herzlich willkommen in der Wüste des Realen", hat der jugoslawische Philosoph Slavoj Zizek auch über den 11. September geschrieben - was keine Erklärung, nur ein Hinweis war. An den meisten Orten der Welt gleicht der Normalzustand längst eher dem auf Ground Zero als dem im World Trade Center, als dieses noch stand.
Tigerbucht, Pedro Mendes Rosas Notizen von einer Reise durch das südliche Afrika, erzählt von dieser Realität, von der die deutsche Mehrheit, Bürgerliche wie Jungle World-LeserInnen, nichts wissen will: von den unzähligen "Ground Zeros", deren Bewohnern weder das Recht auf Selbstverteidigung zugebilligt wird noch Gedenkveranstaltungen gewidmet werden. Die westliche Variante des Bilderverbots: Über Endzeitwirklichkeiten und Kriegsökonomien, über Regionen, in denen man die Schreckensszenarien von Hollywood nicht fürchtet, weil sie nichts Bedrohliches haben, erfahren wir nichts.
Kavaleka zum Beispiel, das Dorf mit der größten Zahl von Kriegsversehrten pro Quadratmeter weltweit. Eine Organisation betreut dort Menschen, die an Phantomschmerzen leiden: Man gibt ihnen Schmerz lindernde Elektroschocks in die Stümpfe. "Sie warteten bereits lange vor der vereinbarten Zeit, eine riesige Menschenschlange ... Siebenhundert Kriegsopfer klatschten begeistert Beifall, als die Therapeuten den Apparat vorführten. Jubel in einem verstümmelten Land: das Gespenst des Schmerzes geht, dank eines fremden Geräts, das bleibt, und nichts als ein paar Batterien braucht, um zu funktionieren."
700 Leute mit verstümmelten Beinen in einer Schlange - man muss sich das ausmalen. Allerdings nicht aus der popularisierten Albert-Schweitzer-Perspektive eines Mitteleuropäers, der die Welt nicht versteht, weil er sie nicht verstehen will. Die 700 Menschen in der Schlange leiden nicht an Lepra. Lepra ist vormodern. Tatsächlich das Gegenstück zur Zivilisation. Minen dagegen sind Moderne pur. Ein Exportprodukt. Teil fluktuierender Warenströme, Globalisierungsgut. Ein Minen-Entschärfer sagt: "Hier gibt es jeden Minentyp. Die selbstgebastelten rechnen wir erst gar nicht dazu. Das Material hier ist vom Feinsten, und hergestellt ... nun ja, von allen. Israel, Südafrika, China, Korea, Frankreich, Rußland, Amerika, allen. Hier können wir unsere Studien treiben. Und kein Mensch hat je was von Kuíto gehört."
Natürlich nicht, denn Kuíto ist nur das Kaff, in dem die Leute sterben; mit Stümpfen herumlaufen. Gelegen auf einem der "Ground Zeros", die nicht ins Fernsehen kommen. In Angola. Einem Land, das etwa zu gleichen Teilen zwischen dem französischen Ölmulti Elf Aquitaine, internationalen Diamantenhändlerringen, britischen und südafrikanischen Söldnerfirmen und Waffenhändlern aufgeteilt ist -und von diesen produktiv vernichtet wird. Auf den Gedanken, diese Unternehmen des Terrors zu bezichtigen, kommt allerdings niemand. Sie fliegen ja auch keine Flugzeuge in Hochhäuser, sie machen nur Geschäfte. Verdienen ihr Geld damit, dass etwas Ähnliches geschieht wie am 11. September in New York: Auslöschung ohne Rücksicht auf Verluste. Ein unauffälliger Vorgang. Die ideologische Begleitmusik besteht nicht aus Koran-Suren, sondern aus Börsenberichten. Und an die haben wir uns so gewöhnt, dass wir sie kaum als Ideologie wahrnehmen.
Pedro Mendes Rosa, 1968 in Serto/ Portugal geboren und lange Zeit Journalist für den Lissabonner Público, zieht solche Parallelen in Tigerbucht nicht. Seine Notizen sind zurückhaltend, vorsichtig, leise. Kaum Anklagen, keine politische Erörterungen, die eigene Wut schwingt nur in Untertönen mit. Genauso wie die Melancholie, die Verzweiflung, der Hass und die Fremdheit. Wie ein Mosaik setzt sich die Erzählung zusammen, verwirrend, facettenreich, schillernd. Gesprächsnotizen, Unterhaltungen, Beobachtungen, Gedichte, ein Treatment. Eine Stimme spricht von einer Liebe in Kambodscha. Erst später erfährt man, dass sie einem in Angola stationierten französischen UN-Soldaten gehört. Eine andere berichtet von den bizarren Begebenheiten an der Universität von Lubango, die in den 70ern zum Schauplatz denkwürdiger Begegnungen wurde - fast schon magischer Realismus. Dann wieder werden Biographien erzählt, z. B. die von Portugiesen, die sich nach dem Abzug der Kolonialmacht auf der einen oder anderen Seite im Krieg wiederfanden.
Seitenlang weiß man in Tigerbucht nicht, wer redet. Die Chronologie wird zerbrochen, man irrt zwischen Reiseetappen und Zeiten hin und her. Man verliert sich, fühlt sich wie ein Schiffbrüchiger. Ausgeliefert. Und doch merkt man, dass das genau die richtige Form für diesen Stoff ist: ein Stimmen- und Bildergewirr, so chaotisch wie unverkraftbar. Die einzige Konstante ist die Beschreibung des Wartens, der wichtigsten Tätigkeit eines Reisenden. Man wird verschlungen von Orten, von den terras de ninguém, den Niemandsländern, die längst nicht mehr existieren, weil sie Teil der Welt sind und doch wieder nicht.
"Der Fluß hier, dessen Namen ich nicht weiß, und der Kubango, in den der Namenlose, 17 km weiter südlich, mündet; in beiden darf ich nicht baden, angeblich wegen der Krokodile
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Die Nachrichten, die mich weder interessieren noch betreffen (wozu Zeitgeschehen, wenn die Zeit stillsteht?)
Anna Karenina als Hörspiel in Fortsetzungen, jeden Sonntagmorgen, BBC. Rundfunkstation, ein Wort, das auf Umbundu besser klingt als in jeder anderen Sprache: ondja iepopero, Hauszum Sprechen.
Mein Dasein hier? Ich verliere keine Zeit. Ich verliere mich aus ihr ... Die Abwesenheit meines Gesichts macht mich zunehmend wütend."
Tigerbucht transportiert Stimmungen, wie es nur sehr gute Bücher können: Reisen als Qual, als Begegnung mit dem eigenen Fremdsein, aber auch als Antwort auf die Sehnsucht, irgendwo aufzugehen. Der Fremde als Beobachter. Als Schwamm, der sich vollsaugt mit Bildern und Worten, um sie zu verändern und wieder auszuspucken. Als Verlorener.
Man könnte kritisch anmerken, dass Mendes Rosa die eigene Perspektive dabei nicht einziges Mal thematisiert. Auch wenn er von der Bedeutungslosigkeit der Hautfarbe spricht, schreibt er doch immer wieder aus der Sicht eines Weißen. Eines Europäers, Portugiesen. Er sind diese Gesprächspartner, die er am besten versteht, weil er ihre Vorlieben, Erinnerungen, Empfindungen teilt. Das ist nicht überraschend, auch nicht verwerflich. Aber es wäre eine Reflektion wert gewesen. Auch ein stiller Beobachter ist ein Sprecher. Wo steht er?
Und doch bleibt von Tigerbucht vor allem die Schönheit von Worten angesichts des Schreckens, Schreiben als Ausflucht aus der Verzweiflung:
"Wenn du mich zurückhast, wird mein Kopf in Stücken sein und mein Körper die Einsiedelei seines Besitzers .... Die Wolken hängen tief und fliehen dennoch unaufhaltsam, bedeuten Abschied für immer. Du sollst von meiner Unordnung hören, und sie wird laut sein. Du wirst am Flughafen einer Rückkehr winken und einen Stummen mit nach Hause nehmen. Wir werden sprechen ohne die Verletzung durch das Licht ... von einem nächtlichen Ort, an dem die Schurken befehlen und die Toten gehorchen. Es wird leise sein, das Gespräch, bei Fenstern, offen bis zur letzten Sommerwärme...
Ich weiß noch, wann genau ich Angola verließ, die Stunde, die Minute. Es war Nacht. Die Frösche am Fluß, die Hölle. Kein Blick zurück."
Ground Zero. Nichts ist anders seit dem 11. September.
Raul Zelik
Pedro Mendes Rosa: Tigerbucht; Verlag Ammann - Meridiane