1998 haben eine Reihe von Leuten, die wir nicht einmal blöd finden, der rot-grünen Regierung ihre Stimme gegeben, weil sie glaubten, dass sich damit ein wenig verändern könnte. Sie haben zum Beispiel gehofft, dass ein neues Staatsbürgerrecht weniger blutsnationalistisch ausfallen oder Sozialkürzungen verhindert werden könnten.
In den vergangenen Jahren haben zumindest die nicht ganz Verstrahlten festgestellt, dass sich – entgegen ihrer Erwartungen – nicht ein bisschen, sondern eine ganze Menge verändert hat. Deutschland hat sich unter rot-grün nicht nur zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder offen an einem Krieg beteiligt. Damit sich der Neueinstieg auch richtig lohnt, hat Deutschland gleich einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg geführt.
Ex-RKler, Ex-Turnschuhminister, Ex-runtergehungerter Fettsack Josef Fischer (seine Frisur finden wir im Übrigen auch nicht gut) verwendete im Zusammenhang mit diesem Krieg jene mittlerweile berühmt gewordene Argumentation, mit der sich Geschichte entsorgen lässt, indem man nachdrücklich auf sie verweist. Eine Volte, die man als beispielhaft für die Normalisierung unter Rot-Grün bezeichnen könnte: Gerade wegen der nationalsozialistischen Geschichte, so Fischer damals, müsse Deutschland Krieg führen. Ein abgefahrener Satz: Weil Deutschland die europäischen Juden vernichtete, muss Deutschland in einem der damals überfallenen Länder völkerrechtswidrig Krieg führen?
Die Liste ist lang: Deutschland erklärt nicht Führungsanspruch, sondern –notwendigkeit, drängt in den UNO-Sicherheitsrat, immer neue Überwachungs-und Polizeigesetze werden geschaffen, die Bereicherung der Eliten beschleunigt, die europäischen Außen- und mittlerweile auch die außereuropäischen Vorfeldgrenzen militarisiert. Die Gewerkschaften werden vor die Wahl gestellt, sich als Arbeitnehmer-FDP überflüssig zu machen oder frontal angegriffen zu werden. Mal ehrlich: Hätte eine Kohl- oder Stoiber-Regierung das jemals so geschafft?
Wenn sie es probiert hätte, wären wahrscheinlich heftige gesellschaftliche Auseinandersetzungen ausgebrochen. Und auch der internationale Widerstand wäre größer gewesen. Wenn Deutschland auf die Bühne der Weltordnungspolitik zurück will, muss es zivil werden. Ohne das Reden von Humanität und Verantwortung – und damit auch ohne ein Eingestehen historischer Schuld – wäre das unmöglich.
Weiß möglicherweise jede und jeder hier im Raum: Es ist im 20. Jahrhundert immer wieder die historische Mission der europäischen Sozialdemokratie gewesen, jene Transformationen zu produzieren, die die Rechte aufgrund ihrer Herkunft weder konzipieren noch vermitteln konnte.
Was aber möglicherweise weniger klar hier im Raum ist, dass sich eine ganz ähnliche These auch für eine „kulturelle Linke“ oder das, was dafür gehalten wird, formulieren lässt.
Einiges davon ist schon öfter selbstkritisch diskutiert worden: Die neoliberale Formierung des Ich wurde in der Kunst-Szene mitgeboren. Politische Aktivisten haben die volkswirtschaftlich so erfolgreichen Prozesse hin zu flachen Hierarchien, Eigenverantwortlichkeit und permanenter Kommunikation ausgetestet. Das neue Berlin wird heute nicht wegen des Bundeskanzleramts für einigermaßen chic gehalten, sondern wegen der Clubs und Projekte, die den angeblich leeren Raum in Mitte – zumindest in einigen Fällen im übrigen in zwangsarisierten Immobilien – Anfang der 90er Jahre füllten.
Das Problem ist hier nicht, dass jemand „Verrat“ begangen hätte. Es geht vielmehr darum, wie Dinge zusammenkommen und herrschende Verhältnisse dann auf sehr produktive Weise modernisieren können. Manchmal ermöglicht die Naivitiät der Akteure solche Prozesse, der Zufall oder inhaltliche Kriterienlosigkeit. Tatsache ist auf jeden Fall, dass das neue Reich der Mitte im Herzen Europas gerade entscheidend von unverbrauchten, sagen wir mal irgendwie ‚lockeren’ Leuten fit gemacht wird.
Das lässt sich bei verschiedenen Aspekten der aktuellen Normalisierungsmodernisierung erkennen: Die Deutschquote in der Musik zum Beispiel, nichts Anderes als nationalistische Standortverteidigung in der Kulturindustrie, wird nicht von Heino stark gemacht. Diejenigen, die dafür sorgen, dass „Deutsche kauft deutsche Musikware“ wieder diskursfähig wird, sind Leute wie Jan Eisfeldt von den Absoluten Beginner oder Max Herre von Freundeskreis, die vom Publikum, einschließlich uns selbst, – wahrscheinlich aufgrund eines schrecklichen Missverständnisses – für systemkritisch, links oder sogar intelligent gehalten worden sind oder immer noch werden.
Nicht die Stahlhelmfraktion der CDU oder die Störkraft-Subkultur-Jugend sind entscheidend für das neue nationale Selbstbewusstsein Deutschlands. Die deutsche Rechte spricht nur diejenigen an, die sich von Deutschland immer schon angesprochen fühlten. Viel produktiver für diesen Prozess sind Leute wie MIA oder Paul van Dyk, die in den vergangenen Monaten mit ziemlich irren, aber auf den ersten Blick unverdächtig erscheinenden Erweckungserlebnissen an die Öffentlichkeit traten: DJ Paul van Dyk z.B. erlebt sich als musikalische Wiedergeburt von Fritz Walter in Bern 1954 und will der mutlosen, ausgebombten Nation wieder Hoffnung spenden. Wir sind wir.
MIA & Co hingegen interpretieren in einer Volte, wie sie Fischer nicht schöner hinkriegen würde, die Demonstrationen gegen den Irak-Krieg als Momente deutsch-europäischen Glücks. Ihre Logik lautet: Wenn wir beim Krieg im Mittleren Osten nicht mitmischen (was immer auch „wir“ hier bedeuten soll, denn ehrlich gesagt hatten wir beide nie vor, in irgendeinem Land einzumarschieren), können wir so schlecht nicht sein, wie alle behaupten, ergo dürfen wir stolz sein: Auschwitz ist ja auch schon eine ganze Weile her.
Interessanterweise findet diese europäische Renaissance Deutschlands in der linksliberalen Intellektualität ihre Entsprechung: Jürgen Habermas hat sich in seinem letzten Buch „Der gespaltene Westen“ ausführlich dazu erklärt. Zu den Anti-Kriegsdemonstrationen im Februar 2003 startete er mit einigen europäischen Philosophen einen Aufruf für ein europäisches Bürger- und Nationalbewusstsein und betrachtete die Proteste ganz ähnlich wie die jungen Deutschland-Popper als Ausdruck eines Wir sind wir, Wir müssen uns dessen allerdings noch stärker bewusst werden, Vorwärts mit dem Modell Europa.
Es ist nicht wirklich wichtig, ob die Leute, die solche Identitätsfindungen in der Öffentlichkeit stark machen, eine Normalisierungsstrategie verfolgen oder nicht. Entscheidend ist das Ergebnis des Prozesses: die Etablierung eines Zustandes, in dem Deutschland sich zwar hinter Europa versteckt, aber nicht weniger mitmischt als bei alten nationalistischeren Konzepten. Und letztlich wird dieser Zustand vor allem eines garantieren: imperiale Teilhabe.
Raul Zelik / Sophia Schmitz