Auf den ersten Blick scheinen die Bilder identisch. Ein aufgepeitschter Mob versammelt sich vor Flüchtlingsunterkünften, es fliegen Steine und Flaschen, und die Polizei konzentriert sich in erster Linie darauf, antifaschistische Gegendemonstrationen zu verhindern. Nur die Mode hat sich verändert: Lag über den Pogromen der frühen 1990er-Jahre der Flair einer von Skinhead-Glatzen und Vokuhila-Frisuren geprägten Subkultur, so ist die Bewegung heute rein optisch in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Die Demonstranten von Dresden-Laubegast, Dortmund-Saarlandstraße oder Heidenau tragen H&M-Klamotten und Baseballkappen. Die Mischung aus Jungnazis, „besorgten Bürgern“ und Familien verweist dabei darauf, wie absurd es ist, wenn staatliche Programme zur Extremismusbekämpfung regelmäßig „die Zivilgesellschaft stärken“ wollen. Was sich da vor den Asylbewerberheimen versammelt, ist unübersehbar selbst Teil der „Zivilgesellschaft“. Das war zwar auch schon vor 25 Jahren so, ist jetzt aber noch augenscheinlicher geworden.
Polarisierung in der Flüchtlingsfrage
Doch einiges hat sich gegenüber der Situation Anfang der 1990er Jahre auch verändert. Obwohl das Erstarken von Pegida-Bewegung und AfD davon zeugen, dass sich immer mehr Deutsche offen zum Rassismus bekennen, ist andererseits auch die Solidarität mit Flüchtlingen groß wie selten zuvor. Überall in Deutschland haben sich Bürgerinitiativen zur Unterstützung von Refugees gegründet, auch intellektuell eher unterbelichtete Prominente rufen zu Kleiderspenden auf, und selbst die Boulevard-Presse überrascht mit Appellen an die Menschlichkeit. Während die Presse 1991/92 als Konsequenz aus den Pogromen von Hoyerswerda und Rostock in erster Linie die Abschaffung des Asylrechts forderte, titelt jetzt sogar die ultrarassistische Bild-Zeitung „Refugees welcome“. Der Druck aus der Gesellschaft ist so groß geworden, dass sich selbst Bundeskanzlerin Merkel, ansonsten ewige Aussitzerin, am Ort der rassistischen Randale in Heidenau blicken ließ, um sich mit den Opfern zu solidarisieren.
Offensichtlich ist die deutsche Gesellschaft beim Thema Flüchtlinge polarisierter als früher. Auch wenn die größten rassistischen Demonstrationen in den neuen Bundesländern stattgefunden haben, verläuft der Konflikt keineswegs einfach zwischen Ost und West. Einer Statistik der Amadeu-Antonio-Stiftung zufolge hat die rechtsextreme Mobilisierung 2015 die gesamte Republik erfasst. Die meisten Brandanschläge, nämlich sieben, sind in Bayern verübt worden, und neben Sachsen ist Nordrhein-Westfalen das Bundesland mit den meisten Demonstrationen gegen Flüchtlingsunterkünfte.
Was den Osten und v.a. Sachsen jedoch vom Rest der Republik unterscheidet, ist die Tatsache, dass rassistische Angriffe hier oft auf die Zustimmung von breiten Teilen der Bevölkerung zählen können und dementsprechend tagelang andauern. Westdeutsche Medien haben das in der Vergangenheit stets damit erklärt, dass der Staatssozialismus mit seiner autoritären und monoethnischen Alltagskultur dem Rassismus das Feld bereitet habe. Doch 25 Jahre nach dem Ende der DDR ist dieses Argument immer weniger überzeugend. Tatsächlich sind es wohl mindestens drei Faktoren, die für die besondere Situation in Ostdeutschland verantwortlich sind:
Da ist zum Einen der niedrige Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund. Schon Anfang der 1990er Jahre wurde der Widerstand gegen Nazi-Anschläge maßgeblich von Betroffenen und ihren Freunden getragen. Dort, wo es weniger MigrantInnen gibt, haben es Rassisten einfacher. Das ist auch diesmal nicht anders. In monoethnisch-deutschen Ortschaften ist die Akzeptanz für rassistische Kundgebungen größer als in von Migration geprägten Gegenden. In Ostdeutschland fehlt es also nicht an „Möglichkeiten der direkten Begegnung zwischen Deutschen und Nicht-Deutschen“, wie viele Kommentatoren pastoral verlautbaren, sondern am Widerstand von MigrantInnen gegen den Alltagsrassismus aus der Mehrheitsgesellschaft.
Die Bevölkerungsstruktur der neuen Bundesländer spielt aber auch in einer zweiten Hinsicht eine wichtige Rolle. Die Deindustrialisierung der ehemaligen DDR hat dazu geführt, dass v.a. mobile, junge, ausgebildete und eher weltoffene Leute abgewandert sind – also diejenigen, die sich (neben den MigrantInnen) antirassistisch engagieren könnten. Zurück geblieben sind Ältere und Modernisierungsverlierer, von denen zumindest ein Teil begeistert auf rechtsextreme Erklärungsmuster zurückgreift.
Ein dritter wichtiger Faktor sind die Nazistrukturen. Die sächsische Schweiz, also das Grenzgebiet südlich von Dresden, gilt schon lange als NPD-Bastion. Spätestens die Ermittlungen zum Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) haben gezeigt, dass diese Netzwerke nicht nur über eine Vertretung in Gemeinderäten und die Lufthoheit an Stammtischen, sondern auch über bewaffnete überregionale Strukturen verfügen.
Dass die rechten Netzwerke im Osten so stark wurden, hat nicht zuletzt mit der Politik von Inlandsgeheimdiensten und Polizei. Während Antifa-Demonstrationen wie „Dresden Nazifrei“ vom sächsischen Innenministerium mit allen Mitteln kriminalisiert werden, halten sich die Sicherheitsapparate gegenüber den Nazis auffällig zurück. Ganz besonders deutlich ist das im Fall der Geheimdienste. In Thüringen haben, wie man mittlerweile weiß, 20 Prozent der organisierten Nazis als Informanten des Verfassungsschutzes gearbeitet. Die Geheimdienste rechtfertigen dies mit dem Zwang zur Informationsbeschaffung, doch klar ist, dass die ostdeutschen Nazistrukturen ohne ihre Symbiose mit den Geheimdiensten nie so stark hätten werden können. Das Anstacheln von Aktionen durch die V-Mann-Führer hat die Naziszene militanter und handlungsfähiger gemacht.
Linker Populismus?
Manche Journalisten, so etwa der Spiegel-Kolumnist und Herausgeber der Freitag Jakob Augstein, fordern in Anbetracht der fehlenden ökonomischen Perspektiven im Osten einen „linken Populismus“, der der Rechten das Terrain streitig machen soll. Die These dahinter lautet, dass die rassistischen Demonstrationen gegen Flüchtlingsunterkünfte v.a. von den Modernisierungsverlierern getragen werden.
Doch Umfragen unter Pegida-Demonstranten im Winter haben keineswegs belegt, dass hier die ökonomisch Abgehängten auf der Straße wären. Auf den Vorträgen Thilo Sarrazins, Gallionsfigur des neuen Rassismus in Deutschland, tummeln sich Akademiker und Gutsituierte. Und auch in der neuen Rechtspartei AfD sind Zahnärztinnen, Anwälte und Perlenkettenträgerinnen gut repräsentiert.
Der Hinweis, dass linke Politik keine akademische Angelegenheit sein, sondern unmissverständlich die Anliegen der Verlierer im Kapitalismus verteidigen sollte, ist zwar immer richtig. Aber die Verknüpfung von Rassismus und sozialer Krise, wie sie Augstein und andere machen, ist trotzdem falsch. Sie entmündigt die Unterklassen und bekräftigt das – im Übrigen sehr akademische – Stereotyp, wonach kluge Führer die Massen zum Besseren bekehren müssen. Der Mob von Pegida, AfD und Heidenau setzt sich nicht aus Kapitalismusopfern, sondern aus RassistInnen zusammen.
Raul Zelik