Rezension von Nick Srnicek / Alex Williams' "Inventing the Future. Postcapitalism and a World without Work" (Verso)
Im Kulturbertrieb geht es bekanntlich nicht anders zu als sonst irgendwo auf dem Markt: Wichtiger als der Inhalt eines Produkts ist seine Vermarktung. Kein Erfolg ohne passendes Label. Beim „Akzelerationismus“, der sich als „neuere politischen Philosophie“ begreift und vom Mainstream-Feuilleton mit einiger Aufmerksamkeit bedacht worden ist, hat man den Eindruck, es mit einem solchen Marketing-Label zu tun zu haben. Seine Kernthese lautet, dass wir in Anbetracht der Krise ein neues, großes Zukunftsversprechen benötigen und diese Zukunft nur aus der beherzten Affirmation des technischen Fortschritts erwachsen kann.
Bei Armen Avanessian, dem bekanntesten Repräsentanten des Akzelerationismus im deutschsprachigen Raum, klingt das einigermaßen überspannt: „Wenn Fortschritt ... nur über Akzeleration zu denken ist, die sich über die links und rechts gezogenen Reterritorialisierungen hinwegsetzt, dann steht (nach Hegels zeitgenössischer) wohl eine aktuelle spekulative ‚Kritik‘ von Kants bis heute – bis in die, je nach Zählweise, fünfte oder achte Generation der Frankfurter Schule – wirkmächtiger Kritik der Spekulation an ... Gegen das technologische Weiterwursteln im Dienste des Gegebenen ... setzt das Projekt eines akzelerationistischen (politischen) Denkens ein spekulatives Festhalten am Absoluten als konkrete Politik.“
Die Autoren des „akzelerationistischen Manifests“ von 2013, die britischen Akademiker Nick Srnicek und Alex Williams, haben mit Inventing the Future. Folk Politics and the Left nun ein Buch veröffentlicht, in dem das Vorhaben etwas verständlicher dargelegt. Was bei Avanessian als diffuse Generalschelte von Frankfurter Schule, linker Gesellschaftskritik, Universitäten und Neoliberalismus daher kommt, entpuppt sich hier als Wiederkehr eines relativ klassischen – und auch etwas oberflächlichen – Fortschrittsmarxismus.
Srnicek / Williams liefern gehen von einer Zustandsbeschreibung aus. Ihrer Ansicht nach hat sich die Linke auf sogenannte folk politics zurückgezogen: eine Praxis, die das „Kleinteilige, Authentische, Traditionelle und Natürliche“ idealisiert und sich auf den symbolischen Widerstand gegen Konzerne und Staaten beschränkt. Als Beispiele für diese Praxis, die Bewegungspolitik und horizontale Organisationsformen mystifiziert, werden Occupy, die spanische 15M-Bewegung oder das insurrektionalistische „Unsichtbare Komitee“ herangezogen. Srnicek / Williams propagieren dagegen die Entwicklung einer Strategie, die den Gesamtzusammenhang wieder in den Blick nimmt und systematisch auf eine Gegenhegemonie hinarbeitet.
Anhand des Neoliberalismus Jahren versuchen die Autoren zu zeigen, wie eine solche Strategie entwickelt werden kann. Hayek und die anderen Urheber der neoliberalen Doktrin hätten es verstanden, ihr Projekt strategisch in der Gesellschaft zu verankern. Man habe die Ideologie der effizienten Märkte mithilfe von Think Tanks und universitärer Lehre zunächst mit großer Geduld verbreitet. In einem zweiten Schritt habe man die Krise der 1970er Jahre dann zu nutzen verstanden, um das neoliberale Projekt politisch durchzusetzen, und schließlich, anders als der klassische Liberalismus, auch den Staat entschlossen erobert. Laut Srnicek / Williams war „die Durchsetzung des Neoliberalismus ein alle Bereiche umfassendes Projekt zur Konstruktion einer hegemonialen Weltsicht.“
Da ein postkapitalistisches Projekt etwas Ähnliches vollbringen müsste, sei die Schaffung eines neuen utopischen Versprechens von zentraler Bedeutung. Srnicek / Williams sind der Ansicht, dass die durch Automatisierung möglich gewordene radikale Arbeitszeitverkürzung genau dies sein könnte. Die Linke dürfe also nicht länger auf Abkehrkämpfe zur Verteidigung von Arbeitsplätzen oder die Rückkehr auf handwerklichere, weniger entfremdete Formen der Produktion (wie sie die Ökobewegung anstrebt) setzen, sondern müsse die volle Automatisierung und das bedingungslose Grundeinkommen propagieren. Letzteres sei zwar noch nicht antikapitalistisch, aber ermögliche doch eine ausgeglichenere Reichtumsverteilung und einen Bruch mit der bürgerlichen Leistungsethik.
Srnicek / Williams sind der Ansicht, dass diese Doppelforderung Gewerkschaften, Umweltverbände und Prekarisierte zusammenschweißen könnte. Die Verkürzung der Arbeitszeit würde nicht nur die Lebensqualität erhöhen, sondern auch die Umweltbelastung verringern; und das universelle Grundeinkommen das Lebensniveau auch von Erwerbslosen sichern.
An dieser Stelle greifen die Akzelerationisten schließlich auch auf die Populismustheorie Ernesto Laclaus zurück: In Anbetracht der gesellschaftlichen Fragmentierung sei es zentrale Aufgabe der Linken, ein kollektives politisches Subjekt zu schaffen. Der Fortschrittsmarxismus wird hier allerdings erstaunlich sozialliberal: Als positive Beispiele verweisen Srnicek / Williams auf die brasilianische Regierungspartei PT oder Podemos in Spanien. Die beiden Parteien hätten, so heißt es, überzeugende Konzepte entwickelt, wie heterogene Bewegungen zusammengeführt und Institutionen erobert werden können.
Dieser Verweis auf die politische Praxis macht das Problem von Inventing the Future und wohl auch des Akzelerationismus als Ganzem deutlich: Die Thesen sind nicht völlig falsch, aber eben leider auch nicht richtig. Man hat den Eindruck, dass die Autoren sich zwar an die Linke richten, aber doch nur oberflächlich mit linker Theorie und Praxis in Berührung gekommen sind.
Natürlich haben die Akzelerationisten recht, dass Slowfood-Bewegung und Platzbesetzungen den Kapitalismus nicht überwinden. Aber wer behauptet das ernsthaft? Selbstverständlich ist die alte These vom emanzipatorischen Potenzial der Automatisierung richtig. Aber richtig ist leider auch der Hinweis von Adorno & Co, dass der Effizienz der industriellen Gesellschaft eine instrumentelle Vernunft zugrunde liegt, die die Entfremdung der Menschen auch in den Arbeitsprozess und die technischen Abläufe einschreibt. Es stimmt, dass die Linke eine Gegenhegemonie entwickeln und sich diese auch in institutionalisierten Machtbeziehungen niederschlagen muss. Aber gerade die Entwicklung von PT, Syriza und Podemos beweist doch, dass der Weg in Regierungsämter offensichtlich keine Strategie zum Aufbau von Gegenmacht ist.
Inventing the Future nimmt Autoren wie Erik Olin Wright oder David Harvey, die in den letzten Jahren Einiges dazu geschrieben haben, wie sich Antikapitalismus, lokale Praxis und Reformpolitik miteinander verbinden ließen, kaum zur Kenntnis. Emphatisch plädieren Srnicek / Williams für das Grundeinkommen, aber ignorieren den linksgewerkschaftlichen Hinweis, dass die entscheidende Frage ja darin besteht, ob dann eine Umverteilung der Vermögen die soziale Grundsicherung oder umgekehrt die Lohabhängigen einen weiteren Steuererlass für die Eliten finanzieren. (Ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle wirkt letztlich nämlich wie eine negative Einkommenssteuer).Und auch zu der Frage, wie eigentlich verhindert werden könnte, dass die „Akzeleration“ inform von Kriegs- und Kontrolltechnologien die Herrschaftsverhältnisse weiter verfestigt, ist nichts zu lesen.
Am Ende ist es bei den Akzelerationisten gar nicht so anders als bei den – vom Mainstream-Feuilleton ebenfalls hochgeschätzten – Fortschrittskritikern Byung-Chul Han oder Hartmut Rosa: Man spricht mehr über die Erscheinung als über die Ursache. Die neoliberale Lebensweise kann weder durch Technikverweigerung und Entschleunigung noch durch Automatisierung überwunden werden. Es sind auch weiterhin die sozialen Kämpfe, die Machtverhältnisse aufbrechen. Srnicek / Williams haben völlig recht, dass ein gutes Leben auf dem heutigen Stand der Technik unvergleichbar einfacher zu haben wäre als 1917 in Russland. Doch Akzeleration ist keine überzeugende Antwort. Das Kernproblem bleibt das, worüber im bürgerlichen Feuilleton – aus gutem Grund – ungern gesprochen wird: die Macht- und Eigentumsverhältnisse.
Raul Zelik
Nick Srnicek / Alex Williams: Inventing the Future. Folk Politics and the Left, Verso 2015
Armen Avanessian (Hg.): #Akzeleration, Merve 2013