ypsilanti

Andrea Ypsilanti war lange Jahre eine der renommiertesten VertreterInnen des linken Parteiflügels in der SPD. Sie war hessische Landesvorsitzende, Mitgründerin der linken Programmwerkstatt Institut Solidarische Moderne und erklärte Gegnerin der neoliberalen Hartz-IV-Reformen. 2008 wurde sie trotz eines Wahlsiegs von innerparteilichen Gegnern gestürzt und in die dritte Reihe verbannt. Zum Ende ihres zwanzigjährigen Abgeordnetenlebens hat sie in diesen Tagen das Buch „Und morgen regieren wir uns selbst“ (Westend-Verlag) veröffentlicht – eine Streitschrift über die Krise der Sozialdemokratie.

 

Ihr Buch ist eine kritische Auseinandersetzung mit sozialdemokratischer Politik. Anders als man bei dem Thema erwarten würde, geht es dann allerdings weniger um Jeremy Corbyn, den britischen Labour-Vorsitzenden, als um den französischen Schriftsteller Albert Camus.

Ich habe etwas gesucht, das über die Verhältnisse hinausweist. Ich bin keine ausgemachte Camus-Kennerin, aber drei Dinge finde ich an ihm beeindruckend: Erstens schreibt er, dass wir eine organische Intoleranz gegenüber Ungerechtigkeit benötigen. Das halte ich für eine sehr gute Grundlage, um Politik zu machen. Zweitens hat er, obwohl er kein Pazifist war, Gewalt als politisches Mittel immer abgelehnt. Und drittens hat er zwar von der Revolte gesprochen, aber als Migranten- und Arbeiterkind nie unterschätzt, dass es auch unter den bestehenden Verhältnissen kleine Schritte der Veränderung braucht.

 

Außerdem hat – wie Sie im Buch hervorheben – vom „mediterranen Sozialismus“ gesprochen …

Ja, ein sehr guter Begriff. Ich verbinde damit das gute Leben, das buen vivir. Das heißt, dass Menschen frei entscheiden können, wie sie leben wollen und auch über ihre Zeit verfügen können. Voraussetzung dieser Freiheit ist das solidarische Miteinander. Eine Freiheit, die darauf Rücksicht nimmt, dass ich nicht auf Kosten anderer lebe.

 

Sie gewannen 2008, als sich die deutsche Sozialdemokratie bereits im Niedergang befand, die Wahlen in Hessen spektakulär. Mit einem dezidiert linken Reformprogramm – für einen ökologischen Umbau und eine Einheitsschule für alle Kinder – wurde die SPD genauso stark wie die CDU. Bei den Wahlen davor hatte die Union noch 20 Prozentpunkte vor der Sozialdemokratie gelegen. Sie gewannen damals die Wahlen, durften aber trotzdem keine Regierung bilden. Warum?

Es war wirklich ein sehr erfolgreicher Wahlkampf, was auch daran lag, dass wir sehr früh einen Programmentwurf ins Netz gestellt und dann alle Akteure eingeladen hatten, den Inhalt mitzugestalten. Es gab ein Team, das herausfilterte, was wir als sozialdemokratische Partei an Vorschlägen aufgreifen konnten. Viele Gruppen und Einzelpersonen hatten deshalb das Gefühl, das SPD-Programm mitgeschrieben zu haben, und durch diese Beteiligung wurde der Wahlkampf zu einem Selbstläufer.

Gescheitert ist das Projekt, weil einige Medien eine große Kampagne gegen uns gestartet haben. Die Gegner der geplanten Reformen – u.a. die Energiekonzerne und konservative Kreise – haben mobil gemacht.

Das Argument der sozialdemokratischen Parteiführungen ist ja immer, dass linke Wahlprogramme Stimmen kosten, weil sie die Leute verschrecken. Ihre Erfahrung, aber auch der Corbyn-Effekt in Großbritannien verweisen eher auf das Gegenteil: Das Aufzeigen von Alternativen mobilisiert. Warum wurden Sie auch von der Führung der Bundes-SPD damals so erbittert bekämpft? Auch die Parteispitze hätte doch ein Interesse an besseren Wahlergebnissen haben müssen.

Weil die Verantwortlichen dann ihre eigene Politik hätten infrage stellen müssen. Die Neoliberalisierung der SPD war schon so weit voran geschritten, dass man davon keinen Abstand mehr nehmen konnte.

Sie dürfen nicht vergessen, dass es immer auch um persönliche Karrieren geht. Die Verantwortlichen der Agenda-Politik, also der Hartz-IV-Reformen und Sozialkürzungen, hätten ihr Scheitern eingestanden, und das hätte sich natürlich auch auf ihre persönlichen Projekte ausgewirkt.

 

Sie sagen, dass die Sozialdemokratie einen Gegenentwurf braucht, eine konkrete Utopie formulieren muss. Aber ist das an der Basis der SPD mehrheitsfähig? In der deutschen Sozialdemokratie hat dieses opportunistische Zur-Macht-Gehören-Wollen ja immer schon eine wichtige Rolle gespielt: Von den Kriegskrediten 1914 bis zum autoritären Kanzler Helmut Schmidt. Selbst der viel gepriesene Willy Brandt kümmerte sich in den 1970ern im Auftrag des „Westens“ in Portugal und Spanien um Revolutionsbekämpfung …

Wenn wir in der Bundespartei von der Basis her ein Reformprogramm entwickelt hätten, dann bin ich mir sicher, dass wir 2008 eine Mehrheit für eine solche Politik gehabt hätten. Wir wurden von so vielen Parteimitgliedern als Beispiel einer progressiven Politik gelobt. Heute hingegen bin ich mir nicht mehr so sicher. Während der Agenda-Zeit sind Hunderttausende GenossInnen aus der SPD ausgetreten, weil sie die neoliberale Wende nicht mittragen wollten. Die Parteilinke, die eine Veränderung will, existiert heute so nicht mehr. Es gibt Einzelpersonen, Menschen mit Haltung und Mut, aber das ist keine relevante Größe mehr. Und eine Erneuerung ist auch nicht in Sicht. Wie nach jeder verlorenen Wahl hat es ein Stühlerücken gegeben, aber im Grunde haben wir das alte Führungspersonal. Und es gibt keine Rebellion an der Basis.

 

Die Neoliberalisierung der Sozialdemokratie war ein Trend in ganz Europa. Und es war auch überall zu beobachten, dass es giftige Medienkampagnen gab, wenn jemand auszuscheren versuchte. Warum ist die Sozialdemokratie von solchen Angriffen immer besonders stark betroffen?

Ich denke, auch andere Parteien bekommen so etwas zu spüren. Im Übrigen gibt es auch bei Grünen, Linken und Christdemokrat/innen gerade heftige Auseinandersetzungen darum, wie es weitergehen soll. Mein Eindruck ist deshalb eher, dass das Konstrukt Partei in einer schweren Krise steckt. Die Basis hat in den festen Strukturen kaum eine Chance. Der Wille der Parteibasis wird auf dem Weg nach oben gekappt. Die Vermögenssteuer z.B. haben wir in der SPD gefühlte 50 Mal beschlossen. Sie stand im Wahlprogramm, wird aber einfach nicht weiter verfolgt.

Derartige Erfahrungen führen dazu, dass viele Menschen Parteien einfach nicht mehr für den richtigen Ort halten, um Politik zu machen. Das kann auch zu einer Chance werden: Wenn Menschen erkennen, dass die Parteien die notwendigen Veränderungen nicht bewältigen, kann das dazu führen, dass sich die Zivilgesellschaft in Bewegung setzt.

 

Hat das Versagen linker Parteien nicht vielleicht auch damit zu tun, dass Parlamente als Orte der Macht völlig überschätzt sind und Entscheidungen ganz woanders getroffen werden?

Das würde ich so nicht unterschreiben. Wenn Politik sich wieder eine Haltung zulegen würde, gäbe es durchaus Gestaltungsmacht. Parlamente und Regierungen können durchaus Gesetze beschließen, die die Macht der Unternehmen beschneidet, Reiche besteuert, die Arbeitszeit verkürzt und die Ungleichheit zwischen Frauen und Männern bekämpft. Das Problem ist, dass die Haltung fehlt.

Das drückt sich auch darin aus, dass die Parlamente von Lobbygruppen durchsetzt sind. Die Übergänge zu den Unternehmensvorständen sind fließend geworden – bei allen Parteien, mit Ausnahme vielleicht der Linkspartei.

 

Trotzdem gibt es durchaus auch noch Erfolge: Die Energiewende z.B, die Ihr Mitstreiter, der 2010 verstorbene Politiker Hermann Scheer, 25 Jahre lang einforderte, wurde durchgesetzt und hat den Stromkonzernen Milliarden Euro gekostet. Beschlossen wurde diese Wende paradoxerweise allerdings von einer CDU-FDP-Regierung.

Ja, aber diese Wende kam nur, weil sich in Fukushima der schreckliche AKW-Unfall ereignet hatte. Andererseits ist es tatsächlich so, dass es ohne den Druck sozialer Bewegungen und ohne die Vorarbeit von Menschen wie Hermann Scheer nicht zu dieser Wende gekommen wäre. Als sich der Unfall von Fukushima ereignete, hatten Leute wie Scheer eine Antwort vorbereitet. Ich denke, so müssen wir uns Transformation vorstelle: Wir müssen uns vorbereiten auf die Fragen, die kommen.

 

Was wären denn die zentralen Inhalte für einen Gegenentwurf?

Ich sehe v.a. drei Themen, die wir auch mit dem Institut Solidarische Moderne stark zu machen versuchen: Erstens eine Umverteilung von Arbeit und Reichtum, damit alle Menschen wieder über ihr Leben entscheiden können. Zweitens die ökologische und Wachstumsfrage. Wie müssen wir unsere Lebensweise, die auf Kosten anderer und der Umwelt geht, verändern? Und das dritte schließlich ist die Demokratisierung aller Lebensbereiche, also auch der Arbeitsbeziehungen.

Auf all diesen Feldern gibt es bereits Initiativen, Projekte und Modelle - wir müssen also nicht bei Null anfangen. Mein zentraler Ansatzpunkt wäre die Arbeitszeitverkürzung. Das wäre eine sehr nachhaltige Transformation der Gesellschaft, die auch Kräfte freisetzen würde für demokratische Beteiligung. Wir brauchen ja auch Zeit, um die notwendigen Veränderungen als Gesellschaft gemeinsam zu entwickeln.

Der zweite große Ansatzpunkt wäre für mich, dass wir die Geschlechterrollen neu definieren. Es kann nicht länger sein, dass die Männer die Lohnarbeit, und die Frauen die unbezahlte Pflegearbeit leisten, oder oft sogar beides.

 

Sie treten im Buch auch für ein Grundeinkommen ein. Armutsforscher/innen und Gewerkschaften kritisieren, dass ein solches Grundeinkommen auch an diejenigen ginge, die es nicht benötigen, nämlich an die Reichen, und deshalb nichts zur Umverteilung beitragen würde.

Es gibt völlig unterschiedliche Grundeinkommensmodelle, und man muss natürlich aufpassen, dass das nicht zu einer Subventionierung von Niedriglöhnen wird, wie sich manche Unternehmer das wünschen. Aber das könnte man verhindern. Und auch die Trennung zwischen Umverteilung und Grundeinkommen kann man aufheben. Man kann die Steuern für Reiche erhöhen und ein Grundeinkommen einführen. Das wäre kein Widerspruch.

Sie müssen sehen, dass die Forderung nach einem Grundeinkommen ungeheure Dynamik annimmt. Viele Menschen fragen sich, was passiert, wenn ….

 

die Maschinen kommen …

Genau. Die Automatisierung wird viele Tätigkeiten überflüssig machen. Und ein Grundeinkommen ist für viele das letzte Netz. Da machen es sich die Gewerkschaften zu einfach. Selbst Superreiche wie Bill Gates reden heute über eine Maschinensteuer. Das gehört auch zur Umverteilung von Reichtum.

 

Sie verlassen nach 20 Jahren die Berufspolitik. Was ist das vorherrschende Gefühl?

Eine große Sehnsucht nach Freiheit. Ich möchte ohne Terminkalender leben, für mich selbst bestimmen, was ein gutes Leben ist. Aber ich bleibe ein politischer Mensch und möchte meine Kenntnisse dort zur Verfügung stellen, wo sie nützlich sein können – bei außerparlamentarischen Bewegungen.

 

Interview: Raul Zelik

 

 

 

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