(Rezension von Giorgios Agambens Werken "Ausnahmezustand", "Homo Sacer" und "Mittel ohne Zweck - Noten zur Politik"; veröffentlicht in der Spex Juli 2004)
Irgendwie ist das Phänomen Giorgio Agamben eigenartig: Er mache die Runde, heißt es in der ‚springerin’, er werde als „standardisierte Erwiderung auf Negri / Hardts ‚Empire’“ verwendet, liest man auf ‚Linksnet’. Wahr ist, dass No-Border-AktivistInnen mit Agamben im Gepäck verreisen und das bürgerliche Feuilleton ihm ganze Seiten widmet. Betrachtet man die Sache jedoch etwas genauer, stellt man fest, dass Agamben zwar zitiert wird, aber von einer Diskussion eigentlich nicht die Rede sein kann. Hier und dort begegnet einem die (in diesem Fall tatsächlich standardisierte) Bemerkung, Agambens In-Eins-Setzungen des Konzentrationslagers mit dem Abschiebegefängnis seien „umstritten“ und seine Verweise auf den Nazi-Staatstheoretiker Carl Schmitt „ein Skandal“. Doch eine Debatte, die diesen Namen verdient, findet deshalb noch lange nicht statt.
Woran das liegt? Möglicherweise daran, dass man gar nicht so genau weiß, was Agambens Thesen eigentlich ausmacht. Der italienische Philosoph verbindet die Methode des assoziativen Sprungs mit der Form der Notiz. So gelangt man als Leser/in ziemlich unvermittelt von der Darstellung römischer Rechtsfiguren zu Foucaults Biomacht oder einer Kafka-Erzählung. Der Vorteil dieser Schreibe ist, dass sich Querverweise eröffnen; der Nachteil, dass jede/r lesen kann, was er / sie lesen möchte. Während das bürgerliche Feuilleton über Agambens Wissensschatz staunt und froh-entsetzt registriert, wie Agamben Carl Schmitt mit Walter Benjamin verknüpft, begeistern sich Linke vor allem dafür, dass bei Agamben der Flüchtling und das Lager zu zentralen politischen Motiven gemacht werden.
Aber worum geht es denn ‚eigentlich’?
Als Ausgangspunkt des Projekts, mit dem sich Agamben in seinen letzten drei Bücher beschäftigt („Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben“, italienische Erstveröffentlichung 1995, „Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge“, 1998, und „Ausnahmezustand“, 2003), fungiert die römische Rechtsfigur des >heiligen Menschen<. „Sacer ist derjenige, den das Volk wegen eines Delikts angeklagt hat; und es ist nicht erlaubt, ihn zu opfern, wer ihn jedoch umbringt, wird nicht wegen Mordes verurteilt.“ Agamben interessiert sich für diesen >Homo Sacer<, den gleichzeitig >heiligen<, >schlechten< und >unreinen< Menschen, der außerhalb des Rechts steht und dessen Ausschluss aus der Rechtsordnung für diese selbst doch konstituierend ist.
Agamben, der Foucaults Überlegungen zu Biomacht und absoluter Souveränität (gegenüber dem >nackt< gemachten Leben) rechts- und staatstheoretisch weiterentwickeln will, folgt diesem Widerspruch und entdeckt ähnliche Bruchlinien auch bei anderen Phänomenen: Ausnahmezustand, Souverän, Lager und Flüchtling. Er reiht die Begriffe wie Perlen auf eine Kette: Der Ausnahmezustand ist jenes Recht, in dem die Rechtsgültigkeit aufgehoben ist. Das Nicht-Recht also. Den Souverän wiederum kann mit Carl Schmitt als jene Macht definieren, die den Ausnahmezustand verkünden, d.h. die Rechtsordnung aufheben kann. Der Souverän begründet das Gesetz und steht doch außerhalb von ihm. Das Konzentrationslager wiederum ist die Verräumlichung des Ausnahmezustands: „Es ist ein Stück Land, das außerhalb der normalen Rechtsordnung gesetzt wird, deshalb jedoch nicht einfach Außenraum ist.“ Und der Flüchtling oder Lagerinsasse schließlich ist Objekt der totalen biopolitischen Souveränität. An ihm wird die Teilung von politischer Existenz und Leben aufgehoben: Auf ihn kann politisch zugegriffen werden, ohne dass ihm irgendein rechtliches Dasein zugestanden würde. Die souveräne Macht und das nackte Leben stehen sich unvermittelt gegenüber. Oder genauer gesagt: Der Flüchtling zeigt, wie die biopolitische Maschine nacktes Leben produziert.
Auf diese Weise ist Agamben bereits in „Homo Sacer“ zu seiner etwas apodiktischen These gekommen, „das Lager und nicht der Staat“ sei „das biopolitische Paradigma des Abendlandes“. Den antirassistischen Gruppen hat das natürlich gefallen – setzt die These den eigenen Ansatzpunkt doch unvermittelt ins Zentrum der Staatstheorie. Doch so gradlinig darf man Agamben wohl nicht verstehen. Wenn er nicht gerade von einem Tute-Bianche-Aktivisten interviewt wird, erwähnt Agamben zwar sein Entsetzen über die Lage der Guantánamo-Gefangenen, doch dass er sich mit dem Flüchtling als politischem Subjekt beschäftige, kann man nun nicht gerade behaupten.
Agamben geht es nicht um konkrete Politik. Er interessiert sich für den Schnittpunkt von Herrschaft, Biopolitik, Recht, Entrechtung. Und in diesem Sinne besitzt der umstrittene Satz über das Lager eine Dimension, die mit dem Migrationsregime weniger zu tun hat als mit dem Verständnis von (Rechts-) Staatlichkeit an und für sich. Letztlich besagt seine These nämlich nichts Anderes, als dass Souveränität (auch die bürgerliche) auf Unrecht basiert – auf bloßer Gewalt und der Aufhebung des Rechts.
Diese These steht auch im Mittelpunkt von Agambens neuem Buch „Ausnahmezustand“. Der 1942 geborene Benjamin-Schüler geht dabei erneut von der These des Nazi-Juristen Carl Schmitt aus, wonach Ausnahmezustand und Souveränität eng miteinander verwoben seien. Daran anknüpfend definiert Agamben seinen Untersuchungsgegenstand als „eine Gesetzeskraft ohne Gesetz“ – ein Widerspruch, den er zu verschriftlichen sucht, in dem er bei >Gesetzeskraft< einen Strich über >Gesetzes< legt und damit den inneren Bruch der Figur deutlich macht.
Der Ausnahmezustand zeichnet sich, so Agamben, dadurch aus, dass er „die Unterscheidung zwischen öffentlich und privat“ aufhebt und damit jenes >nackte Leben< hervorbringt, über das der Souverän uneingeschränkt verfügen kann. Das ist auch der Grund, warum >nacktes Leben< kein vorpolitischer Urzustand ist, sondern immer ein Ergebnis biopolitischer Praxis. Bevor Agamben diese Überlegung zuspitzt, widmet er sich noch einmal einigen begrifflichen Grundlagen. Er skizziert Benjamins und Schmitts Überlegungen zum Verhältnis von gesetzloser Gewalt und Souveränität, um den rechten Staatstheoretiker mit dem jüdischen Kulturwissenschaftler zu widerlegen. Der von Schmitt angestellte Versuch, die Gesetzlosigkeit als Ausnahmezustand zu ordentlichem Recht zu machen und so der Staatsmacht einzuverleiben, ist, so Agamben, eine fictio iuris, eine rechtstheoretische Fiktion. Im Anschluss daran untersucht Agamben die Begriffe auctoritas und potestas, was dem rechtshistorisch wenig bewanderten Leser nicht allzu sagen dürfte. Doch zuletzt wagt er denn doch ein zwar verklausuliertes, aber doch fulminantes Finale. Es vertieft die schon in „Homo Sacer“ aufgestellte These, dass sich im Zentrum politischer Souveränität bloße Gewalt verberge. Düster bemerkt Agamben, dass diese Anomie, die Rechtlosigkeit, das Recht verdränge; und zwar nicht als Verfall des Staates, wie der Song deutscher Schmitt-Rezipienten (wie des Berliner Staatstheoretikers Herfried Münkler) geht, sondern als Konsequenz des Staates: „Der Ausnahmezustand hat heute seine weltweit größte Ausbreitung erreicht.“ Beunruhigender Weise könne diese Entwicklung, die sich nicht nur in Guantánamo manifestiert, nicht durch eine Rückkehr zu einer >liberalen<, die Allmacht des Souveräns einschränkenden Rechtspolitik aufgehalten werden. Die Verbindung von Gesetz und bloßer Gewalt habe sich offenbart und damit sei der Begriff des Rechts an und für sich in Frage gestellt.
Wer schon mal von der Staatsmacht verprügelt worden ist, hat das natürlich längst geahnt: Die Rechtsordnung ist nicht die, die sie zu sein vorgibt. Was bedeutet das jedoch für eine Diskussion? Man kann mit Agamben zu sehr unterschiedlichen Erkenntnissen kommen , die alle – notwendigerweise – vage bleiben. Seine Bücher sind herrschaftskritisch, irgendwie anarchisch, sicher kulturpessimistisch und im Gegensatz zu „Empire“ alles andere als ein politisch-emphatischer Entwurf.
Aber: muss ja auch nicht sein.
Giorgio Agamben:
Homo Sacer – Die souveräne Macht und das nackte Leben (Suhrkamp Verlag, 10 Euro)
Mittel ohne Zweck – Noten zur Politik (Diaphanes-Verlag, vergriffen)
Ausnahmezustand (Suhrkamp Verlag, 9 Euro)
Raul Zelik