Tagebuch einer Reise nach Florenz
7. November, Brüssel, Pisa, Empoli: Es regnet. Fliegen mit Ryanair hat etwas Seltsames. Man wird das Gefühl nicht los, dass an der Sache etwas faul ist. Wer Flüge für unter zehn Euro anbietet, muss Drogen schmuggeln oder seine Flugzeuge auf dem Gebrauchtmaschinenmarkt einkaufen. Das Verhalten der spanischen Stewardess trägt auch nicht gerade dazu bei, Vertrauen zu wecken. Sie kennt sich weder mit Preisen noch mit Flugzeiten aus. Wahrscheinlich hat sie als Ferienaushilfe angeheuert und würde im Ernstfall genauso hysterisch durch die Kabine laufen wie die Passagiere.
Wir kommen trotzdem an. Die Einreisekontrollen am Flughafen Pisa sind streng. Die italienische Regierung hat das Schengen-Abkommen außer Kraft gesetzt. Reisende mit Rucksäcken und No War-Ansteckern werden besonders gründlich gefilzt. Aber niemand wird abgewiesen oder festgenommen. Das übliche Säbelrasseln. Zwei Stunden später sind wir in Empoli. Wir übernachten mit kolumbianischen Freunden in einem "Centro Sociale", das zwar nicht anders aussieht als ein Autonomes Jugendzentrum in Deutschland - Plakate, Parolen, ein Konzertraum -, aber über mehr gesellschaftliche Akzeptanz verfügt. "Akzeptanz vielleicht", sagt M., während sie in den Schlafsack steigt, "aber leider über keine Heizung." Es ist knapp über null Grad - Zeltlageratmosphäre: 30 Leute liegen in einem Konzertraum auf Styroporbrettern und versuchen zu schlafen. So sind sie, die Großveranstaltungen der Antiglobalisierungsbewegung.
8. November, 10 Uhr, Florenz-Fortezza, Haupteingang. Man bekommt sofort vor Augen geführt, was man an der Linken so oft unerträglich findet. Da sind die Ordner der Gewerkschaft CGIL, die wichtig herumstehen und dafür sorgen, dass alles in geordneten Bahnen verläuft; die trotzkistischen Marktschreier, die ihre Zeitungen in die Luft recken und einen zu bekehren versuchen: 5 Strömungen wie in Deutschland, aber das leider aus mindestens 5 verschiedenen Ländern, also insgesamt 25; die friedensbewegten Esoteriker, die einen Gandhi-inspirierten Meditationsraum eingerichtet haben, in dem man - "silenzio, per favore" - seinen Beitrag für eine Welt ohne Kriege leisten kann. Oder der Hauptplatz auf dem Kongresszentrum: Die britische Linksruck-Mutterorganisation SWP (Socialist Worker Party) lässt ihr Agitationskommando mit Gitarrengeklimper auf die Menschenmenge los, zwei andere Grüppchen stimmen immer wieder begeistert Parolen an und verbreiten Kirchentagsatmosphäre, und über all dem thront ein Transparent mit PKK-Chef Öcalan.
Glücklicherweise sind wir mit Leuten von der Basisgewerkschaft COBAS unterwegs, die uns, unbeeindruckt von Skurrilitäten, zur ersten Veranstaltung lotsen. Ohne die italienischen Kollegen wären wir verloren. Es gibt keine Pläne oder Aushänge, die erklären, was wo stattfindet. Erleichtert lassen wir das Getümmel zurück.
12 Uhr. Weil ich im Workshop "Krieg gegen die sozialen Bewegungen in Kolumbien" höre, was ich schon weiß, beschließe ich, mich ein wenig umzuschauen: Veranstaltungs-Hopping. Das Hauptgebäude, in dem die Organisationen ihre Stände haben, erinnert an einen Flohmarkt. Von der sardischen Schäferunion bis zu allerlei renommierten NGOs ist das gesamte Spektrum anwesend. Ich kontrolliere, ob auch wirklich niemand fehlt: Linkskatholiken, Ökos, diverse Unabhängigkeitsbewegungen, Gewerkschaftsapparate, Anarchisten, sozialdemokratische Stiftungen, sämtliche kommunistischen Strömungen. Leicht benommen torkele ich durch einen Seitenausgang hinaus, über eine freie Fläche und ins nächste Gebäude wieder hinein, in dem Eva Forest, baskische Schriftstellerin und Chronistin des ETA-Attentats auf den ehemaligen Franco-Premier Carrero Blanco, gerade die Kontinuitäten zwischen Frankismus und spanischer Demokratie aufzeigt. Das heißt, ich glaube, es ist Eva Forest. In den Messehallen der Fortezza sind zwischen 2000 und 10000 Menschen unterwegs. Die Referenten sind da nur eine dünne Stimme, die sich in den Bewegungen der Masse verliert. Ich habe Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren, und drängele mich durch die Menschentraube am Ausgang wieder hinaus. Das nächste Gebäude ist leer. Ich werfe trotzdem einen Blick hinein, genauso wie drei, vier andere Bewegte, die offensichtlich ebenso wenig wie ich wissen, ob sie sich nun mit "Mobilisierung gegen den Krieg", "demokratische Verfassung für Europa" oder "Klasse, Masse, Multitude" beschäftigen sollen.
Hunger macht sich bemerkbar. In Empoli gab es nur einen Kaffee, kein Frühstück. Ich überlege, dass ich mit M. etwas essen gehen könnte. Auf dem Weg zurück zu den Bekannten schnappe ich noch ein paar Fragmente auf: Euromärsche, Kurdistan, Osteuropa. Ein Referent sagt: "Ich schäme mich jedes Mal, wenn ich an der tschechischen Grenze 15jährige Mädchen in deutsche Autos steigen sehe ... Ich wünsche mir ein Europa, in dem sich niemand mehr schämen muss, ein Deutscher, Däne oder Tscheche zu sein." Ich frage mich, was so schlecht daran ist, sich fürs Deutschsein zu schämen, überquere zum vierten Mal an diesem Morgen den Hauptplatz, auf dem langhaarige Jongleure trotzkistischen Agitatoren allmählich den Rang ablaufen, und bin dann sehr erleichtert, als wir wirklich endlich essen gehen.
9. November, morgens. Was haben die italienischen Medien nicht alles an die Wand gemalt: Die Gewalttäter wollten die Kunstschätze Florenz´ zerstören, hieß es, die Läden plündern und sich tagelang Straßenschlachten mit der Polizei liefern. Star-Autorin Oriana Fallaci, die sich mittlerweile als Kämpferin gegen Kommunismus, den Islam und Jugendbewegte gefällt, verglich das Europäische Sozialforum gar mit Mussolinis Marsch auf Rom. Wie unspektakulär ist hingegen die Wirklichkeit. Die als radikaler Teil der Bewegung geltenden Disobbedienti, die "Ungehorsamen", campieren an einer Pferderennbahn am Stadtrand und machen nur mit einem Fernsehsender, der über einen gepachteten Satellitenkanal übertragen wird, auf sich aufmerksam. Auch die große Demonstration erinnert an ein Festival. Eine eigenartige Stimmung, die einen das Gespött des Vortags vergessen lässt. Im Fünfminutentakt treffen überfüllte Züge mit Jugendlichen, Gewerkschaftern und Rentnern ein. Fahnen von Rifondazione Communista hängen aus dem Fenster, Joints machen die Runde. Zwischen 500.000 und einer Million Menschen, wird es am Abend heißen, demonstrieren an diesem Tag gegen Rassismus und Krieg. Zehntausende von ihnen sind Fiat-Arbeiter, die im Rahmen der Sanierungsmassnahmen entlassen werden sollen.
M. und ich stehen am Straßenrand und lassen die Menschen vorbeiströmen. Man merkt, dass etwas in Bewegung geraten ist. Dass trotz des 11. Septembers und der darauf folgenden sicherheitspolitischen Mobilmachung der "Sommer von Genua" noch nicht vorbei ist. Dass trotz der eigenartigsten Diskurse, der traditionellen Brandreden und Agitationsversuche dieses Forum in Florenz etwas ganz und gar Unlächerliches manifestiert hat: ein Klima von Aufbruch, Mut und Zuversicht.
Ich bin verwirrt. Mir haben die Diskussionen des Forums nichts gesagt, ich habe mich fremd gefühlt. Aber dieser Morgen ist eindeutig. In Kolumbien gibt es für derartige Situationen einen griffigen Satz, an dem man sich festhalten kann: "Die Massen sind klüger als die Organisationen." Hoffentlich.
Raul Zelik wurde 1968 in München geboren. Er lebt nach mehreren Latein-Amerika-Aufenthalten seit 1989 als freier Autor in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm die Bände La Negra und Grenzgängerbeatz.
http://www.freitag.de/2002/47/02471101.php
Kultur | Die Ungehorsamen | 15.11.2002 | Raul Zelik