stadionDeutschland scheint kein anderes Thema mehr zu kennen als die Hamburger Krawallnacht. Dabei wird das Ausmaß der Ereignisse maßlos übertrieben. Schon am Morgen nach den Unruhen bot das Schanzenviertel ein überraschend normales Bild, und die im Internet kursierenden Handyaufnahmen zeigen auch, dass dort eher eine zufällig zusammengewürfelte Menge als organisierte Gruppen zugange waren.

Doch die von Sicherheitspolitikern geschürte Hysterie erfüllt einen wichtigen Zweck. Sie erleichtert nicht nur Gesetzesverschärfungen und macht die Kritik an den G20 vergessen. V.a. verdeckt sie, was die Gipfelproteste eigentlich auszeichnete:

Hamburg hat sich eine Woche lang der G20-Weltordnung aus neoliberalem Freihandel, Krieg und Demokratieabbau auf bunte und doch sehr entschlossene Weise widersetzt. Jene KritikerInnen, die die Mobilisierung zum Gipfel im Vorfeld als „in die Jahre gekommenes Ritual“ abstempelten, haben Unrecht behalten. Die Proteste von Hamburg waren – wenn man von den Straßenschlachten einmal absieht – von einer Lebendigkeit geprägt, wie sie im Vorfeld kaum jemand für möglich gehalten hatte.

Die gute Nachricht in diesem Zusammenhang lautet: Obwohl die Polizei von Anfang an mit großer Brutalität vorging und am Ende sogar mit Sturmgewehren vorrückte, haben sich Hunderttausende nicht einschüchtern lassen. Unmittelbar nach dem Polizeiangriff auf die Demonstration am Donnerstagabend haben 10.000 Menschen spontan erneut demonstriert. Auch die Blockadeaktionen am Freitagmorgen fanden wie geplant statt: Unter dem Motto „Shut down the Logistics of Capital“ blockierten antikapitalistische und linksgewerkschaftliche Gruppen den Frachtverkehr am Hamburger Hafen. An anderen Stellen wurden die Zufahrtsrouten zu den Messehallen blockiert, weswegen der offizielle Gipfel nur mit Verspätung beginnen konnte. Am Stadion von St. Pauli arbeiteten Hunderte Freiwillige in einem selbstorganisierten Medienzentrum, das Netzwerk „Recht auf die Stadt“ hat mit seinen mobilen Sound Systems Plätze, Straßen und sogar die Elbe zu Protestorten gemacht. Und bei der Großdemonstration „Grenzenlose Solidarität statt G20“ beteiligten sich 100.000 Menschen – zehn Mal so viel wie bei der Konkurrenzveranstaltung von SPD, Grünen und Gewerkschaftsverbänden.

Beeindruckend war weiterhin auch, wie stark der Protest in den Vierteln verankert war. Überall in der Stadt öffneten Kirchengemeinden und Genossenschaften ihre Türen für Gipfel-GegnerInnen, nachdem der rotgrüne Landesregierung die Protestcamps verboten hatte. Aus vielen Fenstern hingen Transparente, in den Schaufenstern kleiner Geschäfte waren Protestplakate zu sehen.

Und das alles, obwohl die Polizeiführung systematisch ein Klima der Angst zu erzeugen suchte. 20.000 Uniformierte, unzählige Wasserwerfer, Räumpanzer und Helikopter beherrschten das Stadtbild. Auch wenn viele Linke mit ihrer vermummten Selbstinszenierung zur Eskalation beigetragen haben – wahr ist eben auch, worauf Christoph Kleine, Sprecher der „G20-Plattform“, hingewiesen hat: Schon vor den Krawallen hat „die Polizei mehrmals Tote in Kauf genommen“.

Von einem „Fest der Demokratie“, wie es der rotgrüne Senat angekündigt hatte, war wahrlich nichts zu spüren. Die Polizeistrategie wirkte, als solle die Einführung des Ausnahmezustands einstudiert werden. Doch die gute Nachricht lautet eben auch: Hamburg hat sich davon nicht beeindrucken lassen. In der Hansestadt sind die Verbindungen zwischen Fußball, Musik, Politik und Nachbarschaft durchlässiger als anderswo, und viele Gruppen, v.a. aus der Kunstszene, machen seit Jahren Stadtteilprojekte. Das hat dafür gesorgt, dass immer wieder Aktionsformen gefunden wurden, mit denen man den Polizeiapparat einfach ins Leere laufen lassen konnte.

Jene Autonomen, die die Krawalle mitgetragen und vielleicht sogar angezettelt haben, wären gut beraten, sich diese anderen Aktionsformen genauer anzuschauen. In einer Zeit, in der der Einsatz von Sturmgewehren gegen Protestierende zur Normalität zu werden droht, stärkt die Randale nämlich das, was sie zu bekämpfen hofft. Die große Frage heute lautet, wie sich öffentliche Orte gegen Ausnahmezustand und alltägliche Kommerzialisierung behaupten lassen. Die renitent durch die Stadt fließenden „Finger“ und Sound Systems, das Medienzentrum im St.Pauli-Stadion und viele andere Aktionsformen mehr haben gezeigt, dass es durchaus Mittel gibt, mit denen sich die Abläufe unterbrechen lassen, ohne eine entpolitisierende Konfrontation zu provozieren. Und das könnte (auch wenn im Moment niemand darüber redet) eine sehr ermutigende Lehre aus den Gipfelprotesten in Hamburg sein.

 

Raul Zelik

 

 

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