Reformregierungen als Legitimationshilfen der Rechtswende

(Diskussionsbeitrag für den ak und das ND Sommer 1999)

Gerade einmal ein Jahr ist es her, daß in der linken Popkulturzeitung SPEX (die sonst nicht gerade im Ruf steht, ein Blatt der rot-grünen Klientel zu sein) über die Chancen des Regierungswechsels debattiert wurde. Rene Martens spekulierte in der Ausgabe von Mai '98, ein Kanzler Schröder könnte eine Linksverschiebung in der Kulturszene verursachen, weil man sich an Rot-Grün stärker abarbeiten werde als an Kohl. Im Juli dann interviewte der rennommierte Pop- und Rassismusanalytiker Mark Terkessidis für die SPEX den grünen Spitzenkandidaten Joschka Fischer.

Das Gespräch war bezeichnend für die Endphase Kohl. Terkessidis äußerte im Vorwort zurückhaltenden Optimismus: Bei allen Einschränkungen "bleiben die Grünen doch - vor allem was die sensiblen Fragen Jugend, Drogen, Migration, Kriminalität, Innere Sicherheit anbetrifft - definitiv die andere Stimme im ansonsten recht harmonischen Konzert der Parteien". Mit seiner wohlgesonnenen Interviewführung ermöglichte der Journalist Terkessidis es dem Außenminister in spe, sich als Progressiver zu präsentieren. Fischer durfte unhinterfragt bekräftigen, er habe sein geistiges Erbe nicht aufgegeben und sei in manchen Fragen "immer noch Marxist".

Dieser Rückblick ist nicht als nachträgliche Attacke gegen Martens und Terkessidis gemeint. Daß es in der linkskritischen SPEX damals keinen Aufschrei über die merkwürdige Verharmlosung von Rot-Grün gab, war nicht nur den RedakteurInnen geschuldet, es war auch Ausdruck der Zeit: Wer sympathisierte nicht zumindest innerlich mit der Forderung "Kohl muß weg!"?

Inzwischen weiß man es besser. Die Abwahl der CDU-FDP-Koalition ebnete nicht etwa einem bescheidenen Reformprojekt den Weg, ja stoppte noch nicht einmal den neoliberalen Trend, sondern beschleunigte im Gegenteil den gesellschaftlichen Rechtsruck. Unter Rot-Grün führte Deutschland seinen ersten Angriffskrieg seit 1945, wurde das unsozialste Kürzungsprogramm der vergangenen 20 Jahre beschlossen und ein Großangriff auf die Gewerkschaften eröffnet, der auch denjenigen Sorge bereiten sollte, die von den Gewerkschaftsführungen nichts (oder zumindest nichts Positives) erwarten. Deutschland ist nicht einfach auf dem Weg zur "Neuen Mitte", sondern es wird von seiner Geschichte befreit und von lästigen sozialen Kompromissen entsorgt, die über ein Jahrhundert lang erkämpft wurden. Die Debatte um die Entschädigung der Zwangsarbeiter ist in dieser Hinsicht ebenso als Schlußstrich unter die alte Bundesrepublik zu verstehen wie das mediale Dauerbombardement gegen "Traditionalisten", "Alt-Linke" und leicht beschränkte 68er.

Daß Rot-Grün eine derartige Modernisierung im Sinne des Kapitals erleichtern würde, wäre eigentlich vorauszusehen gewesen. Wenn man sich umschaut, ist es in den letzten 25 Jahren oft die Funktion der europäischen Sozialdemokratie gewesen, jene Umstrukturierungen politisch durchzusetzen, die als nicht mehrheitsfähig galten. In Spanien und Portugal beispielsweise konzentrierten sich die "sozialistischen" Parteien 1975-87 nicht etwa (wie oft unterstellt) darauf, die "Transformation zur Demokratie" zu gewährleisten - diese war von der Straße längst erkämpft worden -, sondern umgekehrt jene Modernisierungsschritte politisch zu vermitteln (Deindustrialisierung, Integration in NATO und EU, Zurückdrängung der außerparlamentarischen Linken), vor der die rechten Parteien kapituliert hatten. Mit den im Baskenland aktiven GAL baute die spanische Sozialdemokratie sogar rechtsradikale Todesschwadrone auf, um die Integrität des monarchistischen Staates zu sichern. In Frankreich und Großbritannien gibt es zwar einige Unterschiede, aber auch dort gilt, daß Mitterrand und Blair klassische Modernisierungsfunktionen ausübten.

Nun ließe sich dieses Verhalten der Sozialdemokratie etwas einfältig damit erklären, daß Regierungen immer nur ausführen, was ihnen vom Kapital diktiert wird, und es deswegen sowieso völlig egal ist, wer gerade die Ministerien besetzt. Doch das wäre, wie man heute sehen kann, eine Verharmlosung. Die wesentliche Aufgabe von Regierungen besteht eben nicht darin, Grundsatzentscheidungen zu treffen und gesellschaftliche Transformationen einzuleiten, sondern solche politisch zu vermitteln. Genau darin besteht ein wesentlicher und verhängnisvoller Unterschied zwischen den Konservativen und Rot-Grün.

Es ist nur auf den ersten Blick überraschend: De facto hat das Gespann Schröder-Fischer in Deutschland einen gesellschaftlichen Rechtsruck ausgelöst, wie es Schäuble niemals möglich gewesen wäre. Schlagworte wie "sicherheitspolitische Verantwortung Deutschlands", "individuelle Versorgungspflicht" oder "Entlastung von höheren Einkommen" sind erst durch Rot-Grün wirklich hegemonial geworden.

Besonders verheerend ist also nicht, daß die Regierung Schröder eine Politik wie die CDU macht, sondern daß sie dafür sorgt, ihre Modernisierung alternativlos erscheinen zu lassen, nach dem Motto: "Wenn die Linke (obwohl sie eigentlich nicht will) das Gleiche macht wie die Rechte, dann muß es wohl notwendig sein."

Ein solcher Stimmungsumschwung in der Bevölkerung ändert die Gesellschaft mehr als politische Entscheidungen, die in den Ministerien getroffen werden, sich jedoch letztlich immer an Kräfteverhältnissen und "Sachzwängen" orientieren. Die marxistisch inspirierte Regulationsschule untersucht seit nun bald 20 Jahren, wie sich in kapitalistischen Gesellschaften Konsens formiert, ohne den diese aus dem Gleichgewicht geraten würden. Ihre Erkenntnisse könnten einiges dazu beitragen, ein differenzierteres Verständnis von Staat, Politik und bürgerlicher Demokratie zu erlangen. So schreibt der Frankfurter Professor Joachim Hirsch in "Der nationale Wettbewerbsstaat": "Neben dem engeren, kann man mit Gramsci von einem 'erweiterten' Staat sprechen, der den ganzen Komplex der 'zivilen Gesellschaft' umfaßt. Das ist das verzweigte Netzwerk der vom Staat formell mehr oder weniger unabhängigen Organisationen oder freiwilligen Zusammenschlüsse." Mit öffentlichen Debatten (die natürlich im Kapitalismus keineswegs demokratisch organisiert sind) sorge dieses Netzwerk, so Hirsch, für die ständige Reproduktion von jenem Konsens, der als Kitt einer im Prinzip nach wie vor antagonistischen Gesellschaft dringend gebraucht wird.

Wenn nun grundsätzliche Reformen in die eine oder andere Richtung durchgesetzt werden sollen, muß auch dieser Konsens verschoben werden. Dies leisten Lobbys oder Massenmedien, aber umgekehrt auch soziale Protestbewegungen und Revolten, die die Verhältnisse von unten thematisieren.
Es ist also ein verhängnisvoller Irrtum anzunehmen, gesellschaftliche Reformen seien vorrangig das Ergebnis von Regierungswechseln. Auch die Politik der Regierung Brandt war eine Antwort auf die 67er Revolte und nicht etwa Folge des SPD-Programms. Noch verhängnisvoller ist es jedoch, wenn man übersieht, wie "linksliberale" Regierungen mit ihren Sachzwangdiskursen den gesellschaftlichen Konsens - gewollt oder ungewollt - nach rechts verschieben.
Man kann nur hoffen, daß die PDS diesen Trend mit ihren zuletzt von Gysi formulierten Angeboten an die SPD-Wählerschaft nicht zusätzlich anheizt. Wer den neoliberalen Modernisierern etwas entgegensetzen will, daß nicht auf 2 oder 3% mehr Stimmen spekulieren, er / sie muß dafür sorgen, daß alternative Gesellschaftskonzepte wieder in die Diskussion kommen und sich außerhalb der Parlamente eine Gegenströmung konstituiert. Eine Debatte darum, was Gerechtigkeit auszeichnet, wäre dabei nicht falsch, wenn sie sich nicht ständig auf die (ideologisch konstruierten) Argumentationsmuster des Mainstreams einlassen würde.

Gesellschaftliche Veränderungen wird es nur geben, wenn der herrschende Konsens durch Kritik, Kämpfe und soziale Unruhe zerbricht und damit verschoben wird. Gutmeinende, aber staatsfixierte ReformistInnen, die auf die Entwürfe von "linksliberalen" Regierungen setzen, werden hingegen ewig warten müssen. Von oben kommt gar nichts (außer Schnee und Regen)! Oder ganz simpel wie bei Chuck D: Fight the power!

Raul Zelik

 

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