(Beitrag für das Buchprojekt "Gegenwelten", Graz 2007)

„Gegenwelten“ lautet das Motto, das uns Autoren gestellt worden ist – offensichtlich in der Absicht, Widersprüche und Alternativen aufzuzeigen, die das Bestehende aufheben könnten. Ich bin skeptisch, ob ein solches Kalkül aufgehen kann. Das Sprechen von den Gegenwelten ist mit den Machtordnungen enger verwoben, als es den Anschein hat.
Michel Foucault hat aus diesem Grund immer wieder dafür plädiert, sich von der Logik der Widersprüche, der Antagonismen, der Kampf- und schließlich auch Kriegsanordnungen abzuwenden. Im Theatrum Philosophicum spricht er von der Kraft der Zerstreuung, der Absetzbewegung: „Um die Differenz zu befreien, braucht es ein Denken ohne Widerspruch, ohne Dialektik, ohne Verneinung: ein Denken, das zur Divergenz ja sagt; (...) ein Denken des Vielfältigen, der gestreuten und nomadischen Vielfältigkeit, die von keinem der Zwänge des Selben begrenzt und zusammengefasst wird.“

Foucaults emanzipatorische Hoffnung ist auf den ersten Blick nicht ganz nachzuvollziehen. In der kapitalistischen Gesellschaft bedarf es großer Anstrengungen, um Widersprüche überhaupt kenntlich zu machen. Die Gegensätze werden nämlich von Diskursen des Pluralismus, der Sozialpartnerschaft, rechtlichen Gleichheit, gesellschaftlichen Offenheit usw. systematisch verdeckt. Dazu kommt weiterhin, dass der postmoderne, postfordistische Kapitalismus ganz besonders die Differenz in Wert gesetzt hat. Es waren gerade die ‚Vielfalt’ und die ‚nomadischen Bewegungen’, die ab den 1970er Jahren neue Produktivitätsschübe ermöglichten. Entscheidende Neuerungen der IT- und Kulturindustrie stammten aus Klitschen, Netzwerken, Underground-Szenen – und eben nicht aus traditionellen Konzernstrukturen.
Trotzdem bleibt eines an Foucaults Hinweis richtig: Die kapitalistische Gesellschaft produziert nicht nur Widersprüche, sondern braucht diese auch als ordnendes Muster. Den Kampf- und Kriegsdiskursen, die – wie ebenfalls Foucault nachgezeichnet hat – wesentlich von subversiven, oppositionellen Strömungen als gesellschaftliche Erklärungsmuster durchgesetzt wurden, scheint dabei eine tragende Rolle zuzukommen. Die Macht impliziert nicht nur den Gegensatz, sondern der Begriff des Gegensatzes produziert auch die Machtordnung.

Carl Schmitt: Feindschaft und die Ordnung der Dinge

Wenn man die Ordnungsmotive internationaler Politik betrachtet, wird vielleicht deutlicher, was ich damit sagen will: Zum einen definieren sich die bürgerlichen Gesellschaften (so wie andere Machtordnungen auch) offensichtlich nach außen und innen über ihren Gegner, zum anderen hat es in den vergangenen 20 Jahren in diesem Bereich auffällige Paradigmenwechsel gegeben. Lange Zeit strukturierten der Kampf gegen den Kommunismus und der Kalte Krieg das politische Feld und sorgten für Ordnung. Als sich diese Dichotomie – im Zusammenhang mit der Entspannungspolitik – abzunutzen begann, erwuchs ein neuer, homogenisierender Feind. Präsident Nixon gab erstmals die Parole des „Kriegs gegen die Drogen“ aus, der nach dem Ende der Sowjetunion vorübergehend zum zentralen Motiv US-amerikanischer Ordnungspolitik wurde. Es sticht ins Auge, dass in diesem Zusammenhang nicht einfach von der Regulierung oder Unterbindung des Drogenhandels und -konsums geredet werden konnte, sondern gleich ein Krieg, also eine unversöhnliche Beziehung der Feindschaft erklärt werden musste. Ende der 1990er Jahre verlor dieses Paradigma an Bedeutung; nicht zuletzt deshalb, weil die Feindschaft mit ‚Drogen’ ein nebulöses System bleibt. Stattdessen sprach man nun wie orchestriert vom Kampf (und bald auch schon vom Krieg) gegen den Terrorismus. Dabei wurden aus alten Verbündeten Feinde: Ausgerechnet die vom Westen während der sowjetischen Besatzung Afghanistans aufgebauten islamischen Religionskrieger repräsentierten nun jenen Antagonismus, durch den Ordnung erst wirklich schlüssig wird.
Es mag unterschiedliche Gründe dafür geben, warum Herrschaft, der Diskurs vom Gegensatz und Ordnung so eng miteinander verknüpft sind – ich glaube, dass sich keiner der drei Begriffe einfach aus dem anderen ableiten lässt. Doch das von Carl Schmitt 1927 formulierte, dem Autoritarismus verpflichtete Postulat steckt das Feld recht klar ab: „Die eigentlich politische Unterscheidung ist die Unterscheidung von Freund und Feind. Sie gibt menschlichen Handlungen und Motiven ihren politischen Sinn; auf sie führen schließlich alle politischen Handlungen und Motive zurück.“

Die Feindschaft als radikalste Form des Gegensatzes ist ein Ordnungsprinzip. Bemerkenswerter Weise bezieht sich das große, global gültige Paradigma heute selbst auf den Krieg. Während früher der Kommunismus, also ein politischer Akteur, als Feind galt, so richtet sich die unversöhnliche Gegnerschaft heute einer spezifischen Gewaltform. Man meidet die frontale Konfrontation mit dem Islam und spricht stattdessen vom ‚Terror’ oder – wenn es etwas distinguierter zugehen soll – ‚dem asymmetrischen Krieg’, der jenes ‚Andere’ repräsentiert, das das ‚Eigene’ erst ermöglicht. So wird an den Militärakademien des Westens die „asymmetrische Bedrohung“ als die große Herausforderung des 21. Jahrhunderts beschwört. Die enthegte, entgrenzte Gewalt nomadisiere, so die Militär- und Sicherheitsstrategen, in Gestalt von fanatisieren Selbstmordattentäter durch die Welt und gefährde die Ordnung.
Dieses Konfrontationsparadigma ist eigenartig – formuliert es doch einen Gegenpol, der anders als einst das kommunistische Lager nicht nur andere Ziele verfolgt, sondern ein prinzipiell anderes Wesen besitzt. Eigentlich setzt die dichotomische Ordnung eine gewisse Symmetrie voraus. Der große ordnende Widerspruch jedoch, von dem heute die Rede ist, fußt auf einer Asymmetrie.
Ich glaube, dass es sich lohnt, diesem Muster nachzugehen, das als strukturierendes Motiv der Politik und der Feindschaft, also als ‚Gegenwelt’ etabliert worden ist.

Der asymmetrische Krieg

Über das dem Paradigma zugrundeliegende Phänomen lässt sich kaum streiten: Seit 1945 sind immer weniger Kriege zwischen Staaten, immer mehr Konflikte zwischen regulären Streitkräften und irregulären Verbänden ausgetragen worden. Der zwischenstaatliche Krieg, der (in Europa) die Zeit zwischen dem Westfälischen Frieden 1648 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 prägte, war von zwei sich ähnelnden Armeekörpern bestimmt, bewegte sich also in einer symmetrischen Anordnung. Das Zerstörungspotenzial der Massenvernichtungsmittel entzog diesem Krieg im 20. Jahrhundert die Grundlage. ‚Reguläre’ Waffengänge zwischen den großen Militärblöcken konnten spätestens ab 1950 nur noch zum Preis völliger gegenseitiger Vernichtung geführt werden. Im gleichen Maße wie der zwischenstaatliche Krieg an Bedeutung verlor, gewannen die Partisanenkriege an Gewicht. In diesen Konflikten, die Sebastian Haffner bereits 1966 als „neue Kriege“ bezeichnete, waren Staatskörper mit Rebellen konfrontiert, die in der Zivilbevölkerung untertauchten und manchmal sogar deckungsgleich mit dieser waren – eine asymmetrische Anordnung. Der Partisanen- oder Guerillakrieg wurde extrem erbittert und doch niederschwellig geführt. Es gab keine Entscheidungsschlachten, keine eindeutigen Fronten mehr. Stattdessen ging es um Abnutzung, Nadelstiche, Zermürbung und den politisch-psychologischen „Kampf um die Köpfe und Herzen der Menschen“.

Diese Entwicklung der Kriegführung wurde in den letzten Jahren zunehmend als Asymmetrisierung bezeichnet; ein Konzept, das in Deutschland v. a. durch den Politikwissenschaftler Herfried Münkler verbreitet wurde. Der Berliner Professor, der im politischen Feuilleton in Deutschland so etwas wie eine Definitionshoheit erlangt hat, veröffentlichte 2002 ein Buch über veränderte Konfliktkonstellationen und sprach – 35 Jahre nach Sebastian Haffner und einige Jahre nach der britischen Konfliktforscherin Mary Kaldor – von „neuen“ Kriegen.
Eine von Münklers Kernthesen lautete, dass die asymmetrische Kriegsanordnung zu einer Verselbständigung und Entgrenzung der Gewalt geführt habe. Während der zwischenstaatliche Krieg „gehegt“ gewesen sei, weil Staatlichkeit mit international etablierten Regeln und den politischen Unterscheidungen Krieg/Frieden, Schlachtfeld/Etappe, Kombattanten/Zivilisten einhergehe, habe der Guerillakrieg diese Eingrenzungen beiseite gefegt. Im Partisanenkampf gibt es keinen Frieden, aber auch keinen erklärten Kriegszustand mehr, das Schlachtfeld befindet sich nirgends und überall, der Kombattant ist vom Zivilisten nicht eindeutig zu trennen. Den Terrorismus hält Münkler für eine Weiterentwicklung, die Entgrenzung der Gewalt werde radikalisiert und verschärft, es entfalte sich ein „Terrorkrieg (...), der weltweit und ohne jede Selbstbeschränkung bei der Auswahl der Opfer geführt wird.“ Recht nebulös greift Münkler auf den Kampfbegriff „internationaler Terrorismus“ zurück und setzt diesen als Synonym für die zeitliche, räumliche und qualitative Expansion des Schreckens. Jede gewalthegende Ordnung, so Münkler, werde durch die Asymmetrisierung aufgehoben, Zivilisten seien nicht mehr nur Opfer, sondern verwandelten ich in unmittelbare Kriegsziele.

Es ist in Deutschland vielleicht noch erschreckender als anderswo, dass eine derartige These vertreten werden kann, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Immerhin widersprechen die europäischen Erfahrungen Münklers These im Kern: Die Entgrenzung und Totalisierung der Gewalt bedurfte hier keiner irregulären Partisanen, kommunistischen Guerillas, islamistischen Attentäter oder Terroristen. Es war ein regulärer Staat und seine patriotisch mobilisierte Bevölkerung, die die massivste Enthegung von Gewalt zu verantworten hatten. Es war die deutsche Staatsmacht, die die Zivilbevölkerung Osteuropas und das Judentum als ganzes zu Kriegszielen machte.
Es ist nicht nur aus Gründen historischer Genauigkeit geboten, auf diesen Umstand hinzuweisen. Noch wichtiger erscheint mir, dass mit Münklers These von der Asymmetrisierung und Irregularisierung des Kriegs ein ordnungspolitisches Konzept transportiert wird – eine Gedankengebäude, das letztlich beim Theoretiker der absoluten Feindschaft, nämlich bei Carl Schmitt entliehen ist.
Schmitt, autoritärer Staatsrechtler, Vordenker des Ausnahmezustands und zeitweise NS-Kronjurist, legte seine Interpretation der Enthegung des Kriegs in dem 1963 veröffentlichten Aufsatz „Theorie des Partisanen“ dar, den er auf Einladung des Franco-Regimes zuvor in Spanien als Vortrag gehalten hatte. In dieser Arbeit unterscheidet Schmitt zwischen der an ihren Boden gebundenen, „tellurischen“ Guerilla, wie sie sie sich im Kampf gegen die napoleonische Besatzung 1808 in Spanien herausgebildet hatte, und dem kommunistisch motivierten Berufsrevolutionär-Partisan des 20. Jahrhunderts. Erst letzterer habe den Krieg seiner Beschränkungen entledigt und eine „absolute Feindschaft“ hervorgebracht. Schmitts These kulminiert in der eher unauffällig eingeflochtenen Bemerkung, der Partisan mache mit seiner irregulären Taktik tendenziell jeden Uniformträger zur Geisel.
Es ist ein bemerkenswerter Satz – manifestiert sich in ihm doch die ganze Unerhörtheit der Enthegungs-These, die Schmitt skizziert und Münkler wieder aufgegriffen hat: Es kommt nicht dadurch zu einer Totalisierung der Gewalt, dass Besatzer, etwa die Deutschen in der Sowjetunion, die Zivilbevölkerung systematisch aushungern, Massaker verüben und Hunderttausende verschleppen, sondern dadurch, dass sich Partisanen nicht als ordentliche Kämpfer zu erkennen geben. Der Heckenschütze und nicht das Exekutionskommando reißt die zivilisierten Schranken nieder. Dementsprechend waren es auch nicht die Kolonialmächte, die in Algerien oder Südostasien soziale Geflechte zerstörten und Angst und Schrecken zu verbreiten suchten, sondern die Aufständischen.

Im englischsprachigen Raum hat sich unter anderen Vorzeichen ein ähnlicher Diskurs durchgesetzt. Als Referenz diente hier besonders der israelische Militärhistoriker Martin van Crefeld, der mit „Die Zukunft des Krieges“ Anfang der 1990er Jahre die internationale Debatte über die „neuen Kriege“ maßgeblich mit auslöste. Crefeld geht in seinem Buch davon aus, dass die alten Clausewitzschen Prinzipien der Kriegführung ihre Gültigkeit verloren haben. Auch er meint zu erkennen, dass die bewaffneten Konflikte der Zukunft nicht von staatlichen Streitkräften, sondern von „Gruppierungen, die wir heute Terroristen, Guerillas, Banden und Räuber nennen“, ausgetragen würden. In einer Lesung an der HU Berlin zog van Crefeld 2003 daraus dann die zu erwartenden sicherheitspolitischen Schlüsse: Er malte, die Anschläge des 11. September 2001 vor Augen, ein weltumspannendes Bedrohungsszenario an die Wand und forderte, der Westen müsse darauf mit einer umfassenden Mobilmachung reagieren. Der Partisanen-Terrorist der Gegenwart zeichne sich durch eine hyperflexible, moderne Kriegführung aus und sei den ordentlichen Militärs stets überlegen. Al Qaeda – eine Gruppe, über deren Struktur genau genommen wenig gesicherte Informationen vorliegen: das wenige, was man zu wissen glaubt, stammt aus Geheimdienstquellen und ist den Informanten vielfach aus dem Leib gefoltert worden – beschreibt van Crefeld, als wäre die Informationslage völlig eindeutig, als hochtechnisierte, transnationale Großstruktur, die den bürokratisch verwalteten Armeekörpern immer mehrere Schritte voraus sei. Selbst waffentechnisch besitze diese Organisation einen Vorsprung – immerhin seien am 11. September 2001 so viele Menschen gestorben wie beim japanischen Angriff auf Pearl Harbor.

Es gibt sicherlich keinen Grund, Sympathien für den politischen oder bewaffneten Islam zu hegen. Trotzdem muss man darauf hinweisen, dass die seit Nine-Eleven gebetsmühlenartig wiederholte Formel falsch ist. In den Attentaten von New York, Madrid oder London mag sich eine apokalyptische Menschenverachtung ausdrücken, die auch faschistoide Züge trägt. Eine neue Qualität des Schreckens habe diese Anschläge auf Bürogebäude, Nahverkehrszüge und Busse jedoch nicht bedeutet. Der systematische Angriff auf Zivilisten war keine Erfindung des islamistischen oder „internationalen Terrorismus“. Der kalkulierte Einsatz des Schreckens, die Einschüchterung durch Mord und Verstümmelung, der politisch gewollte Angriff auf Nicht-Kombattanten ist seit Jahrzehnten Teil der Kriegführung – auch und gerade jener „stabiler Staaten Westeuropas und Nordamerikas“ (Münkler), die sich in einer erbitterten Anstrengung seit 2001 als Hort von Aufklärung und Zivilisation zu affirmieren versuchen.
Man kann gegen die These, dass Staatlichkeit die Gewalt gehegt, der Partisan / Terrorist sie hingegen entgrenzt hat, eine Reihe guter Argumente vorbringen: a) Erst der moderne Staat hat die industrielle Mobilisierung der Gewalt und damit ihre Entgrenzung in Gang setzen können; b) mit der Konzentration auf die Enthegungstendenzen der so genannten „neuen Kriege“ im (nicht-stabilen) Süden werden Gewaltordnungen externalisiert und den Staaten des Nordens die Rolle von Zivilisations- und Ordnungshütern zugewiesen (eine Schlussfolgerung, die Münkler in seiner Arbeit über die Imperien denn auch unverhohlen verteidigt); c) die Begriffe „Irregularisierung des Kriegs“, „internationaler Terrorismus“ und „Staatszerfall“ üben eindeutige Legitimationsfunktionen aus...
Der wichtigste Einwand scheint mir jedoch, dass es ganz andere Enthegungs- und Asymmetrisierungsbewegungen im Krieg gegeben hat, als Schmitt, Münkler oder auch van Crefeld sie erzählen.

Wandel und Kosten herrschaftlicher Gewalt

Zweifellos richtig ist, dass die Ausbreitung der Partisanenbewegungen im 20. Jahrhundert mit Macht-Asymmetrien zu tun hatte. Wenn ein politisches System fast ausschließlich die Funktion besitzt, die Interessen von Eliten zu verteidigen, und gleichzeitig grundlegende Veränderungen strukturell ausgeschlossen sind, gibt es zur bewaffneten Revolte wenig Alternativen. Aus diesem Grund, und weil der Marxismus eine operable Theorie der Sozialrevolution zu liefern schien, breiteten sich v.a. in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf der ganzen Welt Guerillabewegungen aus – in der Regel im übrigen ohne die Unterstützung der UdSSR (in China etwa versorgte Moskau nicht etwa Maos Partisanen, sondern die Verbände des chinesischen Rechten um Tschiang Kai-Shek).
Auf diese asymmetrische Situation – ein aufgerüsteter Staat stand aufständischen, aber weitgehend mittellosen Bevölkerungsteilen gegenüber –, antwortete der ‚freie Westen’ mit einer umfassenden Irregularisierung seiner Militärstrategie. Nationale Sicherheitsdoktrin und Low-Intensity-Warfare hießen zwei Konzepte dieser zunächst von den Kolonialmächten England und Frankreich, später auch von den USA betriebenen Umstrukturierung der Sicherheitspolitik. Die mächtigsten regulären Militärmächte der Welt antworteten auf die Herausforderung durch den Partisanenkampf mit der ‚Irregularisierung’ ihrer Militärpraktiken. Sie folgten damit der schon von Napoleon in Spanien formulierten These: ‚Partisanen kann man nur mit Partisanenmethoden bekämpfen’.

Besonders seit die USA in den 1960er Jahren die sogenannte nationale Sicherheitsdoktrin zu exportieren begannen, wurde in den betroffenen Ländern ein tiefgreifender Staatsumbau vorangetrieben. Häufig gerade erst erkämpfte Rechtsgarantien wurden außer Kraft gesetzt, die Gesellschaft autoritär durchdrungen, Ausnahmezustände verhängt und offene oder schleichende Militärputsche durchgeführt. Gleichzeitig forcierten die USA den Aufbau irregulärer Spezialverbände, die sich bemerkenswerter Weise der Aufstandsbekämpfung (Counterinsurgency) und nicht einfach der Guerillabekämpfung widmeten. Diese Truppen, wie etwa die Green-Beret-Sondereinheiten wurden in „psychologischer Kriegführung“ ebenso geschult wie in „robusten Verhörmethoden“ und einer Art Anti-Terror-Terror. Die in jenen Jahren verlegten und in den Staaten des Südens, zum Teil aber auch in Westeuropa verbreiteten Armeehandbücher weisen so etwas wie ein biopolitisches Profil auf: Das Leben der Zivilbevölkerung als ganzes (und nicht mehr der feindliche Armeekörper) wurde zum Objekt des militärischen Denkens. Die kolumbianischen Armeehandbücher beispielsweise (die auf französischen und US-Texten beruhen) legten den Soldaten nahe, sich gleichzeitig als Polizisten, Psychologen, Geheimdienstagenten und Biopolitiker zu betätigen. Die Soldaten sollten verhaften und verhören, mit Propaganda, Desinformation, Verunsicherung und Tricks die Bevölkerung manipulieren, sie ausforschen, erfassen und sogar ihre Gesundheit zum Kriegsmittel machen – sei es, indem man Impfkampagnen durchführt oder aber ein Medikamenten-Embargo über ganze Regionen verhängt.

Martin van Crefeld hat in einem Punkt Recht: Die Asymmetrie des Partisanenkriegs stellt für den aufstandsbekämpfenden Staat ein Problem dar. Er hat zwar die effektiveren Mittel zur Verfügung, doch weil er nicht mit einem klar abgegrenzten Armeekörper, sondern mit Teilen der Bevölkerung kämpft, trifft seine Gewalt auch immer Zivilisten. ‚Kollateralschäden’ erhöhen jedoch die Legitimation der Aufständischen. Van Crefeld behauptet deshalb, der Partisan / Terrorist sei im asymmetrischen Krieg der Staatsmacht tendenziell immer überlegen.
Was Van Crefeld und andere allerdings nicht sagen, ist, dass die Aufstandsbekämpfung auf dieses Problem frühzeitig Antworten formulierte. Im Rahmen von so genannten Kriegen geringer Intensität (im Militärjargon: Low-Intensity-Conflicts) versuchte man schon vor vier Jahrzehnten, auf die asymmetrische Konstellation des Partisanenkampfs mit einer Re-Symmetrisierung zu reagieren – der für die betroffenen Länder vielleicht folgenschwerste Aspekt der Irregularisierung von Krieg.
Ab Anfang der 1960er Jahre forcierten US-Militärberater in Konfliktländern der so genannten Dritten Welt die Gründung zivil- bzw. paramilitärischer Verbände. In Lateinamerika tauchten sie genauso auf wie auf den Philippinen oder später im Südosten der Türkei. Sie organisierten die Bevölkerung an der Seite der Armee und stellten damit ein neues Gleichgewicht her: Es standen sich nicht länger der Staat auf der einen und die Bevölkerung / der Partisan auf der anderen Seite gegenüber, sondern der Bruch verlief direkt durch die Bevölkerung hindurch.
Mit der Militarisierung des Zivillebens fräste sich die Willkür in die Gesellschaft hinein. Recht wurde von faktischer Gewalt verdrängt, der Ausnahmezustand oder eigentlich richtiger: Hunderte von lokalen Ausnahmezuständen etabliert.

In Ländern wie Guatemala, der Türkei oder Kolumbien wurde diese Strategie der Entgrenzung und Irregularisierung staatstragender Gewalt besonders weit voran getrieben. Aus den Geheimdienstapparaten heraus entstanden verwandelten sich die irregulären Verbände im Dienst der Ordnung ab Ende der 1970er Jahre zu einer teilautonomen parastaatlichen Kraft und entfalteten eine (wissenschaftlich interessanterweise bislang weitgehend ignorierte) Form des Klassen-Terrorismus. Die kolumbianischen Paramilitärs beispielsweise haben seit den 1981 Tausende von Massakern verübt – alle an Angehörigen der Unterschicht: an Kleinbauern, Slumbewohnern, gewerkschaftlich organisierten Arbeitern etc. Dieser Terrorismus, der in der internationalen Sicherheits- und Konfliktforschung nicht die geringste Rolle spielt, hat den Krieg tatsächlich jeder Schranke beraubt. Auf kein anderes Phänomen lässt sich der Begriff des Terrorismus so sinnvoll anwenden wie auf die Vorgehensweise der Paramilitärs. Wenn Bauern vor den Augen einer versammelten Dorfgemeinschaft mit der Motorsäge massakriert oder im eigentlichen Sinne geschlachtet und ausgeweidet werden, dann geht es tatsächlich um nichts anderes als den politisch kalkulierten, medial und theatralisch inszenierten und systematischen Einsatz des Schreckens. Mit dieser Entgrenzung der Gewalt aber ist von Anfang an – und im offensichtlichen Widerspruch zu den Thesen Carl Schmitts oder Herfried Münklers – die Absicht verfolgt worden, Ordnung und Staatlichkeit durchzusetzen und eine politische Krise ‚zu hegen’. Diese Variante des Terrors ist Ergebnis einer westlichen Militärdoktrin.

Der entfesselte Krieg

Zusammenfassend kann man also feststellen, dass es tatsächlich eine Irregularisierungs- und Entgrenzungsbewegungen des Krieges gibt, doch dass diese eine andere Dynamik besitzen, als Schmitt, Münkler oder Van Crefeld unterstellen. Parallel zur Informalisierung von ökonomischen Strukturen und Regierungstechniken – ein Prozess, der kritisch als „Übergang von Government zu Governance“ bezeichnen worden ist – hat offensichtlich auch eine Irregularisierung staatlicher Sicherheitspolitik stattgefunden. Dabei ist es häufig die stabile Staatlichkeit selbst, die den regulären Staat außer Kraft setzt, um Ordnung zu etablieren. (Man denke nur an die wachsende Rolle, die die US-Regierung den privaten Militärdienstleistern im Irak, in Afghanistan und Kolumbien zukommen lassen hat.)
Michael Hardt und Toni Negri haben in „Multitude“, über das man ansonsten geteilter Meinung sein kann, über diese andere Seite der Enthegung von Krieg und Gewalt geschrieben. In Anlehnung an Giorgio Agamben sehen sie einen globalen Ausnahmezustand heraufziehen, in dem internationale Polizeimaßnahmen, Krieg, Folter, Entrechtung und die Errichtung einer einzigen, fast ungreifbaren transnationalen Macht miteinander einhergehen: der „Albtraum eines anhaltenden und unbestimmten Kriegszustands (...), der das internationale Recht außer Kraft setzt und keine klare Unterscheidung zwischen Friedenserhaltung und Kriegführung zulässt.“ Diese Kriegführung beinhaltet all das, was Münkler oder van Crefeld dem Terrorismus an Eigenschaften zuschreiben. Der Krieg gegen den Terror ist eine zeitlich und räumlich unbegrenzte Operation, eine entregelte Gewaltanwendung, die nicht als Krieg erklärt wird und doch so geführt werden kann, in der Trennlinien verschwinden, Außen- und Innenpolitik vermengt, äußerer Feind und innerer Gegner ununterscheidbar sind. Und die letztlich mit einem vorpolitischen Argument legitimiert wird, denn der ‚Terrorismus’ ist im Unterschied zum ‚Kommunismus’ kein politischer Gegner, sondern eine ‚Menschheitsgeißel’. Das große Ordnungsparadigma präsentiert sich also als unhinterfragbarer Feldzug der ‚Gerechtigkeit’ – ein Motiv aus dem Mittelalter, in dem, so Hardt / Negri, das Echo der Religionskriege nachhallt.
Die Dimensionen dieser Entgrenzung sind furchterregend, auch wenn sie von der europäischen Mehrheitsbevölkerung nur am Rande wahrgenommen wird. Die Legalisierung der Folter, die Einrichtung gesetzloser Zonen, die Verschleppung von Menschen in Lager, die Tötung von Zivilisten, die allgemeine Einschüchterung einer Bevölkerung durch Terrorhandlungen ist schließlich nicht von irgendwelchen Gruppen, sondern von den bestausgestatteten Geheimdienst- und Militärkörpern der Welt zu verantworten. Die internationale Sicherheitspolitik läuft damit, wie Agamben warnt, auf eine „Gesetzeskraft“ (mit durchgestrichenem Gesetz) hinaus, in der das Gesetz eliminiert ist. Es ist die schwerwiegendste Enthegung der Gewalt, die gefährlichste und weitreichendste Irregularisierung, die wir heute erleben: ein gesetzloser Schrecken, der aus dem Inneren der Staatlichkeit selbst hervorgeht und die geballte militärische, politische und ökonomische Macht hinter sich weiß. Dieser Ausnahmezustand ist selektiv und differenziert, richtet sich nur gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen, wird nur in konkreten Konstellationen angewandt und ist im Alltag der Mehrheitsbevölkerung des Nordens nicht spürbar. Und doch repräsentiert er einen allgemeinen Bruch.

Gegen die Ordnung der Gegenwelten

Wie könnte eine Gegenwelt aussehen, die sich dieser Gewaltordnung widersetzt, ohne sofort wieder Teil ihrer Struktur zu werden und innerhalb ihrer Logik zu verharren? Wir befinden uns in einer eigenartigen Situation. Die Kampferklärung an die Verhältnisse stärkt diese ebenso wie der Aufruf zur Zerstreuung und Desertion. Alles scheint vollständig integriert. Wer sich radikal, militant, vielleicht sogar bewaffnet widersetzt, formt, ohne es zu wollen, jenes identitätsstiftende Andere, das in einer auf Dualismus beruhenden Ordnung so dringend gebraucht wird. Doch das nomadische Sich-Verweigern, das von Foucault vor 30 Jahren propagiert und sich in Italien in den 1970er Jahren so beeindruckend ausbreitete, führt heute auch nur noch zu einer Erweiterung möglicher Lebensmodelle. Früher konnte ein Nein eine Provokation, eine Herausforderung sein, die irritierte und den Ablauf der Dinge störte. Heute ist es als konstituierendes Moment der Feindschaft und als Bereicherung der Lebenswelt gleich doppelt in die Verhältnisse integriert. Die Welt des asymmetrischen Konflikts scheint eine hermetische Ordnung.

Raul Zelik

 

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Kopfbild Freddy Sanchez Caballero / Kolumbien