Ein Beitrag über das Stipendiumshopping für die Berliner Seiten der FAZ
Wewelsfleth? - Der Deich, das geräumige, alte Haus, die Ausflüge auf der Stör. Und sonst? - Ich weiß nicht ... Nach zwei Jahren Stipendiumsbetrieb ist meine Erinnerung an die verschiedenen Aufenthaltsorte zu einer amorphen Bildermasse verschwommen. Die bizarre Seite der Literaturförderung: Zwar gibt es eine Reihe freundlich gemeinter Programme, die einem auch als nur klassischem Zweiteliga-Schreiber über die Runden helfen, aber meistens sind die vergebenen Stipendien mit Aufenthalten so 'jwd' verbunden, daß man jedesmal froh sein muß, sozial mehr oder weniger unbeschädigt nach Hause zurückzukehren.
Da war zum Beispiel die Ortschaft S. im Münsterland, wohin man auf Einladung der nordrheinwestfälischen Kulturstiftung landverschickt wird. Wie den meisten meiner Freunde war mir die Gegend zwischen Ems und Aa bis dahin nur deswegen ein Begriff gewesen, weil viele Berliner hier auf dem Weg Richtung Haschischgrenze letzte Rast einlegen. "Ein öder Landstrich, wo ein paar Tausend Katholiken den 30-jährigen Krieg für eine brandheiße Nummer halten", hatte mich mein Kumpel Ömer vor der Abreise denn auch gewarnt.
Okay, religiös, das stimmte: In der Katholenmoschee von S. hing ein Plakat über die "Kirche in der Diaspora", womit nicht etwa Afghanistan gemeint war, sondern Paderborn. Dort nämlich hatten es die Evangelischen unverschämterweise zur demographischen Mehrheit gebracht. Frontbezirk sozusagen. Doch das mit dem öden Landstrich war denn doch ein wenig übertrieben gewesen. S. entpuppte sich als infrastrukturelles Zentrum einer ganzen Region. Da gab es zwei Supermärkte und eine gut frequentierte Restpostenkaufhalle, fünf (!) Bäckereien, ein Altenheim, das Schwimmbad, eine Tanke, zwei Möbelcenter - die man in Berlin für Geldwaschanlagen gehalten hätte, weil nie jemand drin war -, mindestens vier Kneipen und die obligatorischen, arabisch geführten Pizzarien.
Das eigentliche Herz von S. war jedoch weder der Möbelcenter noch der K&K-Supermarkt, sondern das Rotkreuz-Asylbewerberheim am Osthang der Siedlung. Daß dort offensichtlich die Post abging, blieb den Einheimischen nicht verborgen, und so wurde in der Supermarktschlange aufmerksam notiert, was die rumänisch-albanischen Nachbarn sich alles so leisteten. Eine Stange Zigaretten? "Unglaublich, wo nehmen die Geld dafür her?" Zwei Bier? "Da sollte man einen Riegel vorschieben." Eine Flasche Schnaps? "Und dann wundern die sich, dass ..." Der Westen ist der Osten, schrieb mir Ömer damals. "Da hättse gleich in Dingsda bleiben können."
Stimmt, Dingsda. In Dingsda, Brandenburg, war ich vorher gewesen. Vor S. Der Ort hatte manches gemeinsam mit der münsterländischen Kleinstadt. Auch hier gab es mehr Kühe als Einwohner, konnte man über sanft geschwungene Landschaften und eigene persönliche Krisen philosophieren, und waren Fremdländer nicht gerade wohlgelitten. Der Förster erkundigte sich bei den russischen Stipendiaten schon mal, ob sie denn "reichsdeutsch" seien. Doch es gab auch Unterschiede. Kein Supermarkt, keine Tankstelle, kein Asylbewerberheim, nicht einmal ein Zeitungskiosk. In Dingsda lebten wir am Rande der bewohnten Welt. Der Bus kam während der Schulferien ganze zweimal die Woche, und wenn man sich vor dem Gelände umschaute, sah man in drei Himmelsrichtungen Wald. Fast wie in Amazonien. Dafür gab es an Kost und Logis nicht herumzumäkeln. Mit 19 anderen Stipendiaten genoss ich die Unterbringung in einem ehemaligen Schloss, in dem man sich bei zwei warmen Mahlzeiten täglich wie eine richtig große Nummer vorkommen konnte - wie der reinste Von-Irgendwas. "Der Westen mag der Osten sein, Ömer", habe ich deshalb meinem Freund zurückgeschrieben, "aber was die Einrichtungen angeht, kann man das überhaupt nicht vergleichen." Während S. den Charme einer Jugendherberge besaß - der Fernseher stand in einer ehemaligen Schweine-Koje -, war Dingsda eine Art DDR-Bellevue.
Die Zeit in Wewelsfleth lässt sich von diesen Erinnerungen nicht mehr trennen. Einige Monate im Sommer 1999, eingereiht in eine Kette bizarrer Landaufenthalte. Denn Wewelsfleth wiederum kam vor Dingsda. Auch dort, hoch im Norden, begegneten mir hauptsächlich Paarhufer, allerdings mehr Schafe als Kühe. Und doch fühlten wir Stipendiaten uns in dem alten Ladenhaus, eingekreist von Kirche, Friedhof und zwei Supermärkten, wohler als in anderen vergleichbaren Einrichtungen. Über rumänische Schnapstrinker wurde hier, im Schatten Brokdorfs, nicht gelästert. Zumindest nicht offen. An den sonnigen Tage lagen wir am Elbstrand, paddelten die Stör hinauf oder setzten uns zum Arbeiten auf den Deich. Und abends radelten wir manchmal die 20 Kilometer in die nächstgelegene Kreisstadt, wo selbst die Punker-Köter Hundemarken trugen und in einem jener aus der Mode geratenen, beeindruckend feierlichen Lichtspielhäuser, in denen zu Beginn der Filmvorführung langsam die Tischlampen ausgedimmt werden, den ganzen August über Matrix gezeigt wurde.
Selbst die Konflikte waren in Wewelsfleth interessanter als anderswo. Im Fußballverein bekamen wir eine Zeit lang das Genörgel der im Atomkraftwerk arbeitenden Mitspieler zu hören, die offensichtlich eine alte Antipathie gegen Grass hegten, weil der Mitte der achtziger Jahre gegen den Bau von Brokdorf protestiert hatte. Ein großer Aufkleber im 2. Stock zeugte immer noch davon. Unsere Mitspieler, davon überzeugt, daß Schreiberlinge alle unter einer Decke stecken, ließen uns ihre 14 Jahre alten Ressentiments spüren, als sei das alles erst gestern gewesen. Doch mir gelang es, mich mit Ömers Standardbemerkung - "Ich hab' überhaupt nichts gegen Atomkraftwerke" - aus der Affäre zu ziehen, was wahrscheinlich daran lag, daß ich den zweiten Teil des Satzes für mich behielt: "Ich bin doch kein Heimatschützer". Von da an hatten wir Ruhe im Club - mal abgesehen vom viel zu harten Training, das einen regelmäßig für den Rest der Woche außer Gefecht setzte.
Einmal wurde es sogar richtig zünftig in W.: zu Beginn des Kosovo-Kriegs. Während die Kampfjets von den nahgelegenen Stützpunkten bei Itzehoe aufstiegen und mit lautem Knattern am Sommerhimmel Richtung Adria verschwanden, marschierten manövrierende Bundeswehreinheiten fröhlich an unserer Haustür vorbei. Weil mir meine Freundin just in jenen Tagen ein Plakat mit dem von einem Farbei getroffenen Außenminister geschickt hatte, entschlossen Mitbewohner Sobo und ich uns, nutzlos, aber demonstrativ Stellung zu beziehen. Wir hängten das Plakat vorne ins Fenster. An den genauen Text kann ich mich nicht erinnern. Es war etwas im Stil von: "Sabotiert, desertiert, protestiert", nicht gerade originell. Doch die Botschaft kam offensichtlich an. Während man in Berlin problemlos 5000 derartiger Plakate hätte verkleben können, ohne die geringste Reaktion zu provozieren, versetzte hier, in Wewelsfleth, ein einziger Aushang die halbe Ortschaft in Aufruhr. Am nächsten Morgen prangte neben dem Plakat ein mit Leim auf die Vorderscheibe geklebter Zettel, auf dem ein Galgen, ein gehängtes Strichmännchen und die Parole "Defaitisten an den Galgen - Gesindel raus aus Wewelsfleth" zu lesen war. Eine - nebenbei bemerkt - interessante Wortwahl; zeigte sie doch, daß der Kriegseinsatz in den Augen mancher seiner Befürworter mehr mit deutscher Geschichte zu tun hatte als es den Humanitärinterventionisten in Berlin Recht sein konnte.
Die Nachricht von den beiden Plakaten machte in kürzester Zeit die Runde, denn auf dem Weg zum Briefkasten, der Bäckerei, dem Elektrogeschäft oder den Supermärkten kamen die Bewohner von Wewelsfleth fast zwangsläufig an unserer Haustür vorbei. Gegen halb elf - im Dorf respektierte man, daß bei uns etwas länger geschlafen wurde - bekamen wir den ersten Anruf. Eine uns wohlgesonnene SPD-Kreisrätin erkundigte sich nach den Zetteln und teilte uns mit, das man im Ort davon ausgehe, wir hätten den Lynchaufruf angebracht. Warum ausgerechnet wir, die vaterlandslosen Drückeberger, den Wehrkraftzersetzern an den Kragen wollen sollten, war uns zwar nicht ganz einsichtig, aber die Sache ließ sich richtigstellen. "Die Farbei-Apologetiker sind wir", gaben wir, nicht ohne selbstkristischen Unterton, zu, "aber zur Hinrichtung aufgerufen haben die anderen". Sympathischerweise war die Betroffenheit in Wewelsfleth groß. Das mit den Schriftstellern, die auf Staatskosten unverständliche, in keiner Beziehung zum Dorfleben stehende Texte verfaßten, fanden viele im Ort natürlich nicht so gut. Aber deswegen zur Lynchjustiz überzugehen, erschien den Wewelsflethern dann doch übertrieben. Man bekundete uns im Supermarkt Solidarität, der Bürgermeister rückte, quasi als Beweis der Gastfreundschaft, den Schlüssel für die Sporthalle heraus, so daß wir zu jeder Tages- und Nachtzeit Basketball spielen gehen konnten, und die unermüdliche Frau Kayn machte sich trotz unserer Bitten, die Aushänge doch als Grundlage für eine allgemeine Meinungsbildung erst einmal hängen zu lassen, sofort daran, beide (!) Plakate zu entfernen.
"Trau dem Frieden nicht", meinte mein Kumpel Ömer dennoch am Telefon. "Du weißt doch, wie die drauf sind. Wenn es am Balkan demnächst ein bißchen schlechter läuft, holen sie die Dolchstoßlegende ruck-zuck wieder aus der Klamottenkiste. Und dann seht ihr alt aus."
Doch schließlich verlief die Sache am Balkan nicht so, als daß es irgendwelcher Schuldzuweisungen bedurft hätte, und so konnte ich Wewelsfleth im Oktober den Rücken kehren, ohne noch einmal auf jenes unbedeutende, kleine Plakat angesprochen worden zu sein. Rückblickend kann ich mich deshalb wahrlich nicht beschweren. Ich habe von fremder Großzügigkeit profitiert, schöne Tage am Wasser verbracht, viel, allerdings durchwachsenes Material produziert, von Frau Kayn interessante Hintergrundgeschichten über den Literaturbetrieb erzählt bekommen und seltsame Begebenheiten aus der Region erfahren. Zum Beispiel davon, daß die Angler aus der Ecke um Brokdorf besonders gern zum Kühlwasserbecken des Reaktors gehen, weil sich dort wegen der Wärme besonders viele Fische tummeln. Oder daß sich manche Küstenbewohner ihren Lebensunterhalt damit verdienen, vom Wind umgeworfenen Schafen wieder auf die Beine zu helfen. ¡Que raro! Ich habe mich beim Arbeiten sonnen können, dreimal Matrix I gesehen, um 11 Uhr abends die Dämmerung genossen und darf mich - dank eines malenden Wehrkraftverteidigers - sogar als Opfer fühlen. Was will man mehr von einem Sommeraufenthalt auf dem Land?