(ungekürzte Fassung eines Interviews mit dem Schriftsteller Michael Roes; erschienen in Freitag und Spex Herbst 2000)
In deinen letzten Büchern thematisierst du die Konstruktion der sozialen Kategorien ‘Rasse’ und ‘Geschlecht’. Im “Coup der Berdache” (1999) stehen drei Personen mit ‘fließenden’ Identitäten im Mittelpunkt: ein schwarzer, schwuler Kommissar, eine als Mann geborene Native American und schließlich ein als Transvestit auftretender, glücklicher Familienvater. Im Reisebericht “Haut des Südens” (2000) hingegen schreibst du darüber, wie Haut in einer rassistischen Gesellschaft soziale Rollen bestimmt.
Die Verbindung zwischen beiden Büchern besteht darin, dass angeblich ‘natürliche’ Erscheinungen in Frage gestellt werden. Es wird durchgespielt, dass das, was wir “Rasse” und “Geschlecht” nennen, eben keine biologischen Tatsachen, sondern soziale bzw. kulturelle Konstrukte sind. Es gab durchaus Zeiten und Gesellschaften, in denen diese Konstrukte anders aussahen.
Ganz offensichtlich ist das bei dem Begriff ‘Rasse’. Niemand kann sagen, was er eigentlich beschreiben soll. Wenn man nach Amerika geht, und das war auch der Grund, warum ich dort hingegangen bin, stellt man fest, wie absurd die Definition ist. Dort ist alles schwarz, was nicht weiß ist. So kommt es zu dem Phänomen, dass viele Latinos um einiges “schwärzer” sind als Afroamerikaner, die seit vielen Jahrhunderten mit Euroamerikanern zusammengelebt haben. Wenn man diese Konzepte ernst nimmt, landet man bei ganz absurdem Sprachmüll.
Im “Coup der Berdache” sagst du an einer Stelle sehr programmatisch, dass es keine zwei Geschlechter gibt, sondern ein Spektrum, in dem man sich selbst positionieren muss. Bei einem Vortrag hast du Studien zitiert, wonach andere Kulturen mehr als 10 soziale Geschlechterrollen kennen.
Wie gesagt: Mein erstes Argument wäre, dass es sich bei Geschlechterrollen um kulturelle Modelle und nicht um Natur handelt. Alle Experimente, einen Menschen ohne kulturelle Einflüsse aufwachsen zu lassen, um festzustellen, ob so etwas wie eine natürliche Entwicklung zum aufrechten Gang oder zur Sprache gibt, endeten mit dem frühen Tod der Kinder. Wir sind ein Gemenge aus Tradition und Gesellschaft. Es gibt zwar gewisse biologische Anteile, aber alles was wir sind, wird durch Kultur bestimmt. Das gilt auch für die Geschlechterrollen. Es gibt Gesellschaften, in denen unsere Aufteilung der Geschlechtlichkeit nicht existiert.
Zum Beispiel?
Bei vielen indianischen Stämmen gab es vier, sechs oder mehr sozial definierte Geschlechter. Die biologischen Merkmale kannte man zwar, aber sie spielten keine dominante Rolle. Es gab z. B. Stämme mit “Hyper-Männern”, “Männern”, “Frau-Männern”, Mann-Frauen”, “Frauen” und “Hyper-Frauen”. Die “Hyper-Frauen” haben nicht geheiratet und etwas sehr Nonnenhaftes besessen. Dann gab es “Frauen”, die normale Beziehungen zu “Männern” hatten und es gab die “Mann-Frauen”, die über einen Kleiderwechsel in die soziale Rolle der Männer geschlüpft sind und andere Frauen heiraten konnten. Weil es auch ein anderes Elternkonzept gab, war es kein Problem eigene Kinder zu haben. Die Schwestern der Mutter waren alles Mütter, die Brüder des Vaters alles Väter.
Als die Europäer kamen, die dafür kein Deutungsmuster besaßen, begann die Katastrophe. Für sie war das einfach nur Transvestitismus. Die Indianer wurden den Hunden vorgeworfen oder verbrannt, so dass die eingeborenen Stämme anfingen, ihre Kultur geheim zu halten.
Wir können daraus lernen, unseren eigenen Ethnozentrismus in Frage zu stellen, und begreifen, dass das, was wir als ‘normal’ oder ‘biologisch’ betrachten, nur ein Konzept ist.
In Peter Hoegs Roman “Fräulein Smillas Gespür für Schnee” taucht der Geschlechterwechsel auch auf. Die Mutter Smillas, eine Inuit aus Grönland, lebt als Mann. Bemerkenswert finde ich, dass zwar der Wechsel möglich ist, aber die Dualität von Geschlecht nicht aufgehoben wird. Es gibt z. B. ‘männliche’ und ‘weibliche’ Arbeiten.
Jein. Es gibt auch so merkwürdige Phänomene wie das Männerkindbett, couvade, das bei vielen afrikanischen Stämmen praktiziert wird. Die Frauen gebären zwar die Kinder, aber die Männer legen sich ins Wochenbett und kurieren die Schwangerschaftsbeschwerden aus. Selbst biologische Leiden können also kulturell einer anderen Gruppe zugeordnet werden. Die Frauen delegieren ihre Schmerzen und gehen am nächsten Tag wieder normal aufs Feld arbeiten.
Hört sich stark nach einem Trick der Männer an, um sich vor der Arbeit zu drücken.
Ich glaube, das wäre zu sehr aus unserer ‘aufgeklärten’ westlichen Sicht heraus argumentiert. Es unterstellt, dass diese Schmerzen simuliert sind. Es gibt jedoch Untersuchungen, die zeigen, dass Männer, die an der Schwangerschaft von Frauen teilhaben, tatsächlich Schwangerschaftsbeschwerden entwickeln können. Das ist eine Frage der Empathie. Es ist durchaus möglich, sich so sehr mit einem anderen Menschen - unabhängig vom Geschlecht - zu identifizieren, dass man ihm einen Teil der Last abnimmt. Real und authentisch ist das, was die Menschen selber empfinden.
Das Feuilleton hat den “Coup der Berdache” letztes Jahr recht zurückhaltend aufgenommen. Das ist interessant. Nachdem du für das Jemen-Buch “Leeres Viertel” (1996) einmütig gelobt worden bist, haben sie sich bei diesem inhaltlich radikaleren Buch durchfallen lassen. Dein Lektor Matthias Gatza hat das darauf zurückgeführt, dass die Kritiker nicht damit klar kamen, wie Geschlechtsidentitäten bei dir zu verschwimmen anfangen.
Es war auffällig, dass es fast nur Männer waren, die das Buch verrissen haben. Nicht jeder Kritiker hat das gleiche Argument benutzt. Aber offensichtlich hat die Geschichte die Männer provoziert, während sie die Frauen im umgekehrten Sinne befreit hat. Immerhin kämpfen Frauen seit 30, 40 Jahren darum, dass Rollen nicht mehr biologischen Geschlechtern zugeordnet werden. Männer mögen bereit sein, bestimmte Kompromisse einzugehen, aber es bleibt immer noch dieser Rest von ‘Pseudo-Biologie’, den sie nicht aufzugeben bereit sind: sozusagen der Schwanz. Aber selbst das ist eine kulturelle Metapher! Der Phallus ist Kultur, ist Freud, ist ein Konzept.
Dazu gibt es längst nicht mehr nur philosophische und soziologische Überlegungen, sondern auch die Untersuchungen über Transsexualität, Intersexualität oder undefinierter Sexualität, die bestätigen, dass das biologische Geschlecht, das soziale Geschlecht und die eigene Definition sehr stark voneinander differieren können. Ich denke, wir werden irgendwann dahin kommen, dass es ebenso viele Geschlechter wie Menschen gibt, und zwar nicht auf einer Skala, auf der man sich anordnen kann, sondern wie in einem Raum, wo es einen eigenen, individuellen Punkt gibt, der nicht mehr nur zwei Pole hat, sondern völlig offen nach allen Seiten ist.
Du sagst, dass Frauen ein größeres Interesse daran haben, Geschlechterrollen zu hinterfragen. Aber auch für sie existiert die Selbstvergewisserung: ‘Ich bin eine Frau, und das bedeutet das und das’.
Wenn männliche und weibliche Tribute gleich bewertet würden, ja. Aber ähnlich wie bei ‘weiß’ und ‘schwarz’ ist das ja nicht so. Männliche Attribute sind in den herrschenden Kategorien positiv besetzt, weiblich eher negativ. Solange das so ist, wird sich niemand freiwillig, in diese Rolle fügen.
In “Haut des Südens” reist dein Erzähler den Mississippi hinunter und sucht dort nach den Spuren der großen US-amerikanischen Autoren Melville, Twain und Faulkner. In diesem Zusammenhang kritisierst du Twain und Faulkner für ihre opportunistische Haltung, bezeichnen Herman Melville (Moby Dick) hingegen als radikalen Kritiker von Rassismus und bestehenden Geschlechterbildern.
In dem Buch geht es darum, wie Literaten ihren Anteil am Entstehen sozialer Konstruktionen haben. Autoren wie Melville, die die an Bedeutung aufgeladenen kulturellen Metaphern von Hautfarbe kritisieren und umzuwerten versuchen, sind leider sehr selten. Ich glaube, dass für ihn die Seemannserfahrungen, die er auf den Südseereisen sammelte, so etwas wie eine Initiation des Fremd-Werdens auch gegenüber sich selbst waren. “Moby Dick” halte ich für eines der radikalsten Bücher der US- Literatur überhaupt, weil es so viele Tabus berührt. Die Bedeutung der Hautfarbe wird dekonstruiert. Nicht Schwarz, sondern Weiß ist die Farbe des Unheimlichen und Bedrohlichen. Außerdem setzt Melville das Bild einer gleichberechtigten, von gegenseitiger Verantwortung geprägten Freundschaft zwischen einem Euroamerikaner und einem “wilden” Harpunierer als eine Alternative zur hierarchischen Schiffsgemeinschaft. Und damit wiederum verletzt Melville nicht nur das Tabu der “Rassenmischung”, sondern er lässt auch gleichgeschlechtliche Liebe zu. Zwei Männer gehen auf dem Schiff eine Ehe miteinander ein.
Was an den meisten Lesern vorbeiziehen dürfte ...
Sicher, es gibt da einen weit reichenden Verdrängungsmechanismus. Selbst mein Verleger, der ein großer Melville-Verehrer ist, konnte den Gedanken nicht zulassen, dass es bei dieser Freundschaft auch um Sexualität geht. Ich musste ihm die Stelle vorlesen, wo die Hochzeitsnacht vollzogen wird. Der “Wilde” zieht sich aus, sie schlafen zusammen und schließlich kommt es zur naheliegenden Metaphorik von Harpune und Tomahawk.
“Haut des Südens” ist eine sehr intensive Auseinandersetzung mit der großen US-Literatur. Du zitierst Melville, Twain und Faulkner, kopierst sogar ein wenig ihren Stil. Hemingway dagegen taucht nur am Rande auf.
Zurecht. Den halte ich auch nicht für einen so großen Autoren wie die anderen.
Warum überhaupt diese Auseinandersetzung?
Es geht mir um die Mitverantwortung von Autoren für soziale Konzepte. Wenn es um das Verhältnis von Schwarz und Weiß in den USA heute geht, spielen die Gründerväter der Literatur eine große Rolle, und deswegen werden exemplarisch verschiedene Sichtweisen beleuchtet: Twain steht für eine opportunistische, Faulkner für eine ambivalente, und Melville für eine hyper-kritische Sicht auf den Rassismus.
Sicherlich hätte ich das auch mit europäischen Autoren machen können. Aber in diesem Fall wollte ich die Südstaaten der USA untersuchen, ich hatte den Mississippi als line gewählt, um mich an ihm entlangzuhangeln. Meine Sympathien gelten, wie ich schon gesagt habe, Melville, während ich Faulkner zwar für einen großen Autoren, aber doch für überschätzt halte. Er hat selbst viel zur Mystifizierung des Konflikts zwischen Afro- und Euroamerikanern beigetragen, indem er die Metaphorik der Hautfarbe verstärkte.
Es hatte nichts damit zu tun, dass das Bücher deiner Jugend waren?
Nein. Faulkner begleitet mich immer wieder; Melville natürlich erst recht. Das sind keine Autoren, die zu einem abgeschlossenen Lebensabschnitt gehören. Viel wichtiger ist, dass sie sakrosant sind, Teil des Kanons, des kulturellen Erbe Amerikas. Und die entscheidende Frage für mich war, warum jemand wie Faulkner von den Euroamerikanern so geschätzt werden kann, während Afroamerikaner ihn nie ohne ein komisches Gefühl lesen können; warum uns die Sensibilität fehlt, die Kränkungen Faulkners gegenüber den Afroamerikanern, seine Mystifizierungen des Anderen zu verstehen.
Faulkner ist nicht fähig, sich in einen Afroamerikaner hineinzuversetzen, ihn genauso als Mensch zu begreifen wie sich selbst. Er sieht die Haut, und davon müssen wir wegkommen. Wir müssen sie als das sehen, was sie ist: eine Oberfläche.
Irritierend an “Haut des Südens” war für mich die Konstruktion der beiden Hauptpersonen: Der Erzähler ist hautkrank, sein Begleiter schwarz ...
Er ist Afrikaner, ein Reisender aus Nigeria. Von der Unterscheidung in schwarz und weiß sollten wir uns verabschieden.
Gut. Dennoch schafft es eine seltsame Parallele.
Es geht darum, die Oberflächen-Ästhetik zu kritisieren, die sich so stark durchgesetzt hat. Wir müssen die Haut von ihren kulturellen Konnotationen befreien.
Die Krankheit des Erzählers wird im Buch zum Exzess getrieben, sie wird parodiert, bis ihre ganze Metaphorik zusammenbricht. Die Krankheit wuchert, der Erzähler wird zu einem elefantösen Menschen, der als Heiliger verehrt wird. Er schält sich und darunter wird der eigentliche Mensch sichtbar. Das ist eine groteske Darstellung.
So etwas ähnliches macht im übrigen auch Herman Melville in “Moby Dick”. Quiquaeg wird zunächst mit seinen Tätowierungen auf der Haut dargestellt wie der Wilde schlechthin, doch nach der Hochzeitsnacht kommt Ismael zu dem Ergebnis, dass er doch nichts anderes sei als “George Washington in barbarischer Gestalt”. Das war im 19. Jahrhundert ein gewagtes Bild.
Du spielst mit vielen literarischen Formen: collagierst Zeitungsnachrichten, trägst Trauergesänge vor, referierst, lässt predigen. Das wirkt beinahe fragmentarisch ...
Es korrespondiert mit den Autoren, von denen gesprochen wird. Der erste Teil, in dem es um Mark Twain geht, spielt mit den Mitteln Twains: den satirischen Zeichnungen der Personen. Melvilles “Moby Dick” ist der erste enzyklopedäische Roman, er besteht aus Bibelparaphrasen, Lexikonartikeln und ist gleichzeitig ein Abenteuerroman.
Das wäre dann in deinem Buch der Teil, wo du Zeitungsartikel über die Apartheid collagierst ...
Genau. Der Mittelteil, der so etwas wie die Achse des Romans bildet, ist ein Trauergesang über den Tod Martin Luther Kings. Das ist eine Anlehnung an die Tradition des Gospel und eine Art Hommage an die amerikanischen Wurzeln, denn ich denke, dass die kulturellen Wurzeln der USA in Afrika liegen. Der letzte Teil hat dann eine gewisse Anlehnung an Faulkner.
Diese Formen sind nicht einfach Spielereien. Es wird ja nicht nur etwas durch Inhalte kolportiert. Auch die Formen, die man wählt, haben etwas mit Kultur zu tun. Durch die Erfindung neuer, z. B. offenerer Formen kann man auch offenere Diskurse in einer Gesellschaft konstruieren. Dort, wo Formen geschlossen sind, ist das auch eine Vorgabe an die Gesellschaft.
Bei “Coup der Berdache” greifst du auch auf sehr verschiedene Stilmittel zurück. Es gibt drei Ich-Erzähler.
Ja, es gibt dort keinen auktorialen Erzähler mehr, der von außen schildern könnte. Dahinter steht der Gedanke, dass keine einheitlichen Geschichten exisitieren, sondern nur die subjektiven, die sich beim Leser zu einer zusammensetzen. Über die Vielstimmigkeit kann man dann möglicherweise zu einem Konsens kommen, aber es gibt keine Wahrheit.
Ein weiterer Aspekt, der beiden Büchern gemein ist, ist die Darstellung einer rassistischen nation building. Du erzählst von der Geschichte der Native Americans und Afrikaner und zeigst damit, dass Zerstörung und Versklavung konstituierende Momente bei der Entstehung der USA waren.
Ich maße mir nicht an, Amerika zu kritisieren, weil unsere eigene Geschichte nicht besser verlaufen ist. Aber man kann gut sehen, wie der Umgang mit der Vergangenheit von Aufspaltung und Verlagerung geprägt ist. Das ist ganz ähnlich wie die Geschichtsaufarbeitung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit den Verbrechen wird in den USA immer noch fast ausschließlich von der Opferseite forciert, also von den Afroamerikanern und Native Americans.
Mich interessiert auch, was das mit Europa zu tun hat, denn es waren ja Euroamerikaner, die das in den USA voran getrieben haben.
Ich glaube, die europäische Kultur ist stark von Biologismen durchtränkt. Das Überleben der eigenen biologischen Gruppe wird als das Wichtigste erachtet - was ja ein anti-zivilisatorischer Akt ist; schon fast ein Paradoxon, dass die Entwicklung der Zivilisation mit dieser Art von evolutionärer Barbarei einhergehen soll. Auch unter den hochzivilisierten oder sogar postmodernen Begriffen wie Globalisierung versteckt sich evolutionaristisches Denken. Wer das Recht zu überleben hat, wird durch eine Art biologischen Wettbewerb bestimmt
Du bewegst dich im Grenzbereich zwischen Literatur, Ethnologie und Kulturwissenschaften. Wie arbeitest du? Hast du Erkenntnisse, die du in eine literarische Form gießt oder spiegeln sich in deinen Geschichten einfach deine inhaltlichen Interessen wieder?
Ich glaube nicht an Wissenschaft. Wissenschaft ist ein Text unter vielen Texten, auch sie ist ein gesellschaftliches Konstrukt. Ich würde unterscheiden zwischen den lesbaren und den unlesbaren Wissenschaftlern - genauso wie bei den Schriftstellern. Auch da gibt unlesbare, irrelevante und lesbare.
Gute Wissenschaftler sind gute Autoren, und umgekehrt betreiben Autoren auch Wissenschaft, denn in guten literarischen Texten stecken ebenso viele oder mehr Erkenntnisse wie in wissenschaftlichen. Dostojewski kann einem genauso etwas vermitteln wie Freud.
Wo wird das Verhältnis zwischen Form und Inhalt funktional? In “Coup der Berdache” beschäftigst du dich theoretisch mit Geschlechter-Identitäten, doch erzählt wird die Geschichte in der Form des Kriminalromans. Eine eingängige, populäre Form ...
Sie korrespondiert mit dem Thema. Im Kriminalroman sind die Menschen nie das, was sie zunächst scheinen. So auch hier: Da begegnen uns Menschen, von denen wir einen Eindruck haben, und umso länger wir sie kennen, desto stärker verändern sie sich. Zudem werden die gängigen Rollen von Täter und Opfer aufgelöst, bis es auf diese Frage gar nicht mehr ankommt.
Es ging mir also nicht darum, einmal einen Krimi zu schreiben. Es war die Form, die am nächsten am Thema dran war: die Maskierung, das Vorspielen, Vortäuschen, auch Sich-selbst-Täuschen.
Bisweilen gilt das als verpönt, aber du willst offensichtlich etwas vermitteln. Also keine ‘Literatur um der Literatur’ willen?
Was soll das sein: Literatur um der Literatur willen? Es gibt keine Literatur ohne Inhalte, Botschaften, Absichten. Und wenn es gibt, ist sie irrelevant. Literatur fängt da an, wo Form, Inhalt und Originalität zusammenkommen. Die Botschaft alleine ist unkünstlerisch, das liest man nicht gerne, es wäre zu platt. Die Form ohne Inhalt hingegen ist Design, und wer will schon Design-Gedichte lesen? Sicher existiert so etwas. Die Pop-Literaten sind nahe dran. Das ist Hintergrundrauschen, das sich vom Pop-Song und der Vorabendserie nicht groß unterscheidet.
Ich versuche gegen die postmodernen Unterstellungen anzuschreiben, es gebe kein Gut und Böse mehr, es gebe keine Werte zu vermitteln. Der modernen Form zum Trotz bin ich in dieser Hinsicht sehr konservativ.
Wenn man den Versuch, über Literatur gesellschaftlich zu intervenieren, als politisch begreifen will, bist du ein politischer Autor.
Jede gute Literatur ist politisch. Nicht die Gesinnung, die Parolen oder die Absicht machen sie dazu. Aber dort, wo Literatur widerständig ist, neue Gedanken aufwirft, etwas beim Leser bewegt, ist sie politisch. So gesehen kann eine Geschichte über Engel politisch sein, und gleichzeitig ein Gedicht, das nur aus Slogans besteht, völlig unpolitisch.
Der Jemen-Roman “Leeres Viertel” ist dein bekanntestes Buch. Du hast über die Arbeit an diesem Buch einmal gesagt, dass das Jahr, das du im Jemen verbracht hast, das glücklichste deines Lebens gewesen sei. Das hat mich überrascht. Die arabische Gesellschaft ist sehr rigide, sie hat extrem festgelegte, biologisch bestimmte Geschlechterrollen.
Mein Leben besteht ja nicht nur aus Geschlechterrollen. Mir hat die Vielfältigkeit und Andersartigkeit der Kultur gut gefallen. Aber auch was diesen Ausschnitt ‘Geschlechterrollen’ betrifft, ist die Sache nicht ganz so eindeutig. Es gibt zwar rigorose Trennungen zwischen Männern und Frauen, aber andererseits ein viel komplexeres Verhältnis innerhalb der Geschlechter als bei uns. Das, was dort als normale Kommunikation erlaubt ist, würde bei uns schon in den Bereich des Geschlechtlichen fallen. Das fängt bei den Blicken an, die eine sehr große Intensität als bei uns besitzen, und setzt sich mit den Berührungen und der Sprache fort. Der Freund heißt z. B. auf arabisch habibie, Geliebter.
Für mich hat sich das natürlich anders dargestellt, weil ich dazwischen stand und für mich Dinge verschwommen sind. Ich habe gewisse Handlungen als Intimitäten verstanden, die nicht als solche gedacht waren. Aber auch darüber nachzudenken, hat mir gefallen. Die Dinge haben eine Stärke besessen, wie ich sie hier nicht empfinde.
Körperlichkeiten erfahren außerhalb Europas heute enorme Umdeutungen. Mir fällt das Beispiel Korea ein, wo es vor ein paar Jahren als verpönt galt, dass Frauen und Männer sich an den Händen hielten, während es zwischen Männern ganz normal war. Jetzt ist es umgekehrt: gleichgeschlechtlich gilt als anrüchig.
Auch das ist Globalisierung. Unsere Kulturmodelle werden universalisiert, und das führt zu einem modernen Kultursterben. Ich bedaure das sehr, denn es bedeutet, dass Möglichkeiten verschwinden, anders zu leben.
Ich denke, unsere sozialen Beziehungen sind arm geworden. Wir haben zu manchen Leuten intellektuelle, zu anderen intime Beziehungen, aber wir haben in den einzelnen Beziehungen meist nur ein sehr beschränktes Spektrum von Empfindungen.
Man kann traditionelle Gesellschaften vielleicht auch nur dann als reich empfinden, wenn man nicht in sie eingeschlossen ist, sondern zwischen den ‘Welten’ wandeln darf. Die Sache wird ja nicht dadurch besser, dass ein Tabu durch ein anderes abgelöst wird.
Natürlich bin ich in einer privilegierten Position. Aber damit kommen wir zum Anfangsthema zurück: Es gibt keine kulturfreien Räume, wir können höchstens versuchen, innerhalb einer Kultur Regeln zu verändern. Ich bin nicht bereit, bestimmte Freiheiten aufzugeben, aber wenn ich in anderen Kulturen bin, sehe ich sehr wohl, mit welchen Verlusten von Bindungen und Werten wir unsere Freiheit erkauft haben. Deshalb nehme ich die Auseinandersetzung der arabischen Welt mit den USA aufmerksam und mit einer gewissen Sympathie wahr. Die Globalisierung hat imperialistische Aspekte. Wenn überall auf der Welt die gleiche Musik gehört und das gleiche Essen gegessen wird, ist das eine Verarmung, eine Nivellierung. Das Verschwinden des Autochtonen ist ein Verlust.
Das überrascht mich jetzt doch, dass du das sagst. Es gibt ja keine Kultur ‘an sich’. Alle autochtonen Formen sind durch Begegnung entstanden und befinden sich im ständigen Fluss. Also ist es auch völlig legitim, dass sie sich weiter verwandeln. Die Frage ist nur wie. Natürlich ist ‘Globalisierung’ nur eine merkwürdige Umschreibung für ein Zwangs- und Gewaltprojekt. Aber deswegen muss man doch nicht ‘Traditionen’ verteidigen.
Sicherlich gab es immer Wandel, aber das heute ist etwas anderes. Es ist eine Versteppung, ein brutaler Verdrängungswettbewerb.
In vielen Ländern führt die Haltung, die du in diesem Punkt vertrittst, zu Abschottungsbestrebungen. Man will ‘das Eigene’ gegen die äußere Bedrohung verteidigen. Das ist mir völlig unverständlich. Was gibt es Positiveres als den Prozess kultureller “Bastardisierung”, wo sich Einflüsse mischen und zusammenstoßen?
Ich muss entscheiden können, was ich für erhaltenswert halte. Natürlich kann es Veränderungen und Entwicklungen geben, aber ein Blick in die Welt reicht, um festzustellen, dass es eben nicht um Bereicherung, sondern um Verdrängung geht. Der globale Imperialismus geht mit einer ungeheuren Gewalt vor, Märkte werden aufgebrochen, es gibt keine Möglichkeit sich dagegen zu wehren. Der Widerstand ist ein Rückzugsgefecht, die Sache ist nicht mehr zu gewinnen. Aber wir sollten zumindest bemerken, was die Menschheit verliert.
Es werden aber auch Sachen gewonnen. Das Entstehen von Rock’nRoll hat ja z. B. nicht einfach dazu geführt, dass andere Musik verschwand. Da entstand in Jamaika Reggae, der in Großbritannien Ska wurde. Oder Salsa und westafrikanische Musik: Das ist drei, vier Mal über den Ozean gewandert .
Dein Beispiel ist eher folkloristischer Natur. Die Unterhaltungsindustrie lebt von der Vermarktung des Neuen. Sie verwertet die Rohmaterialien und verbraucht die Weltkulturen. Diese gehen durch die Mühlen der industriellen Produktion und werden danach weggeworfen.
Kulturelle Veränderungen bieten aber auch Emanzipationsmöglichkeiten. In der türkischen Community ist das ein Thema für viele junge Leute, v. a. für Frauen. Veränderungen bieten ihnen die Chance, rigide Rollen zu verlassen, gleichzeitig bedeuten sie aber auch Verlust, weil soziale Bindungen mit Freunden oder der Familie kaputtgehen. Natürlich bin ich dafür, dass sich Türkinnen gegen Assimilation wehren. Aber die antiwestlichen Ressentiments, die dabei verbreitet werden, sind nicht besser als das Geschwätz von der “deutschen Leitkultur”. Es sind fundamentalistische, rassistische und nationalistische Stereotypen, die auch nur Argumente zur Herrschaftslegitimation darstellen.
Ich will auch nicht hinter bestimmte Standards zurück, z. B. die Ablehnung der Todesstrafe sollte einen universellen Charakter bekommen. Andererseits kann man wahrscheinlich immer nur an konkreten Beispielen diskutieren. Der Maghreb ist heute ein Konglomerat von kolonialen, autochtonen und neokolonialen Einflüssen durch den Tourismus. Das ist nicht zu ertragen. Wenn das der erste Schritt zu einer globalen Kultur ist, dann bin ich ein radikaler Globalisierungsgegner. Und ich sehe auch nicht, wie eine emanzipatorische Globalisierung aussehen könnte. Im Moment überlebt von den Kulturen immer nur das Schlechteste: Coca-Cola und Kidnapping im Jemen z. B., aber eben nicht traditionelle Gastfreundschaft und vielfältige soziale Bindungen.
Identitäten sind im ständigen Fluss. Darüber schreibst du ja auch. Meiner Meinung nach kann man sie nicht verlieren. Sie verschieben sich.
Nein, Identitäten sind soziale Konstrukte, und da sie nicht angeboren sind, kann man sie auch verlieren. Sicher hat man immer irgendeine Identität, aber die ist dann eben nicht mehr vielfältig, sondern angeglichen, und darin besteht der Verlust. Wir sehe heute, wie es trotz regionaler Unterschiede ein Standardmodell des Jugendlichen gibt, der das Gleiche konsumiert, sich in der selben Form ausdrückt und kleidet.
Die Kritik kann einen schnell in die Nähe brandenburgischer Heimatverbände führen, die Dialektpflege betreiben und im Umfeld der NPD agieren.
Also das ist ein böswilliges Argument. Es gibt ja einen unüberbrückbaren Widerspruch zwischen denen und mir. Ich bin auf jeden Fall für die Differenz, während sie die Vielfalt nicht ertragen. Ihnen ist alles unheimlich, was fremd oder anders ist. Und sie halten sich selbst für Vertreter einer überlegenen Kultur. Das ist das genaue Gegenteil von dem, was ich einfordere.
Die Fragen stellte Raul Zelik