marx

 

Zum 200. Geburtstag von Karl Marx wird auf allen Kanälen wieder einmal nach der Aktualität seines Werks gefragt. In meinem Text mache ich vier Aspekte stark:
i) für einen materialistic turn, ii) Gesellschaft von unten denken, iii) eine Wissenschaft der Krisen, iv) die wahre Welt der Warenwelt.

Aus dem Buch: Lucas / Pfriem / Thomasberger (Hg.):
"Auf der Suche nach dem Ökonomischen"
(Metropolis-Verlag)

 

Für Elmar Altvater

Als ich im Sommer 1989 kurz vor Mauerfall nach Westberlin zog, konnte man an der FU Berlin tatsächlich noch „marxistisch“ studieren – wobei der Begriff nicht ganz zutreffend ist, denn die Vorstellung einer geschlossenen Ideologieschule widerstrebte den meisten unserer Hochschullehrer/innen. Das Marxsche Motto lautete: „Tout ce que je sais, c'est que moi, je ne suis pas marxiste .... Ich weiß nur dies, dass ich kein Marxist bin.“ (Marx 1963, S.69). In diesem Sinne belegten wir, dezidierte Nicht-Marxisten, überfüllte Kapital-Lesekurse bei Elmar Altvater, Seminare zur Imperialismustheorie bei Michael Heinrich, der schon damals von Lenin wenig hielt, hörten die Vorlesungen von Johannes Agnoli zur Geschichte häretischer Subversion im Mittelalter, die wegen des großen Zuspruchs im Hörsaal der Amerikanistik stattfinden mussten, oder debattierten bei der österreichischen Feministin Eva Kreisky über das Verhältnis von Rassismus, Frauenunterdrückung und Kapital.

Vor allem jedoch hatten wir unsere eigenen Lesekreise, denn die Welt der Hochschullehrer/innen erschien uns reichlich arriviert. Im Selbststudium beschäftigten wir uns v.a. mit dem Scheitern der sozialistischen Staaten und dem italienischen Operaismus, der die wilden Streiks der frühen 1960er Jahre in Norditalien zum Ausgangspunkt genommen hatte, um mithilfe der Marxschen „Grundrisse“ einen „Arbeiterstandpunkt“ zu entwickeln, d.h. Gesellschaft, Ökonomie und technische Entwicklung konsequent von den sozialen Kämpfen her und von unten zu denken (vgl. Quaderni Rossi 1972, Tronti 1974).

Man darf daraus keine falsche Schlüsse ziehen: Die Vorstellung, die Universitäten als solche wären damals links gewesen, ist falsch. Etwa ein Drittel der damals noch über 50 Professor/innen am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin, zu dieser Zeit zweifelsohne eine der linkesten politikwissenschaftlichen Fakultäten in Deutschland, fühlten sich Marx verbunden; der Rest hingegen machte ganz normale Seminare zu Verwaltungsrecht, normativer Staatstheorie oder Parteiengeschichte. Doch die freie Studienordnung erlaubte uns, eigenen Interessen nachzugehen, und wir wollten eine ökonomisch fundierte Gesellschaftskritik erlernen.

Interessanterweise blieb unser Verhältnis zum Marxismus dabei allerdings stets distanziert. In meinen Hausarbeiten jener Jahre ist kaum ein Marx-Zitat zu finden.

Distanziert, aber im Anschluss an ...

Warum war das so? Wieso bemühten wir uns um Distanz zu Marx, obwohl wir ihm uns doch eng verbunden fühlten?

Das versteht man nur, wenn man weiß, wie sehr die Kultur der Politgruppen in den 1970er Jahren von marxistischer Exegese beherrscht gewesen war. Diese Debatten, die zu unserer Zeit auch an der Universität noch nachhallten, kreisten weniger um die Frage, wie gesellschaftliche Verhältnisse zu beschreiben waren, sondern ob jemand, der die Verhältnisse beschrieb, Marx richtig interpretiert hatte. Bei solchen Debatten ging es in letzter Instanz nicht um Erkenntnis, sondern um Macht: Zum einen ermöglichten die Literaturverweise Distinktionsgewinn, denn je komplexer der marxistische Fußapparat, desto kleiner der Kreis, der zu widersprechen wagte. Zum anderen war da aber auch die Existenz der sozialistischen Staaten selbst, die den „offiziellen Marxismus“ zur wissenschaftlichen Gesamterklärung erhoben hatten, außerhalb derer intelligentes Leben nicht möglich war.

Ich beschreibe das, weil es meiner Ansicht nach erklärt, warum sich ein wichtiger Teil der kritischen Gesellschaftswissenschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Marx verabschiedete. Der Bruch zwischen poststrukturalistischen und marxistischen Ansätzen, der in den wissenschaftlichen und politischen Debatten bis heute so stark nachhallt (die Diskussion um Eribons Rückkehr nach Reims (2016) ist ein aktuelles Beispiel dafür), lässt sich nur vor diesem Hintergrund verstehen. Ein ergebnisoffenes kritisches Forschen war nur gegen die Kultur von Marx-Exegese und „offiziellem“ Denken möglich. Wenn man die Frage beantworten will, inwiefern wir heute wieder mehr Marx benötigen, sollte man sich jedoch auch vergegenwärtigen, wie sehr dieser kritische Bruch Marx verbunden blieb. Wer heute beispielsweise die in den 1970er Jahren geführten Interviews mit Michel Foucault liest, der als zentraler Protagonist des Bruchs mit dem Marxismus gelten kann und an den Universitäten heute nur noch als entpolitisierter Diskursanalytiker wahrgenommen wird, wird sich wundern, wie positioniert er gegenüber den sozialen Kämpfen seiner Zeit war und wie selbstverständlich ihm Begriffe wie „Proletariat“ über die Lippen gingen (vgl. das Debattenbuch Chomsky / Foucault 2006). Der Bruch mit dem Marxismus blieb diesem eng verbunden, was Alex Demirovic (2008) in einem sehr schönen Aufsatz in der Formel ausgedrückt hat, Foucault habe sich „im Horizont von Marx“ bewegt – an ihn anschließend, aber über ihn hinausgehend.

Ich denke, dass man das auch für viele andere kritische Autor/innen behaupten kann, die heute als Gewährsleute des Antimarxismus gelten. In einem Kurs habe ich mit Studierenden unlängst etwa Auszüge aus Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1951) mit Negri/Hardts „Empire“ (2001) hinsichtlich ihres Imperialismusbegriffs verglichen. Arendt, die uns heute als Referenz liberaldemokratischen Denkens präsentiert wird, argumentiert in ihrem Standardwerk sehr viel marxistischer, sprich: sie misst den ökonomischen Entwicklungslogiken eine viel größere Bedeutung bei als Negri/Hardt, die das globale Imperium vom netzwerkartigen Institutionenmodell der jungen USA herleiten. So ändern sich die Zeiten: Die liberaldemokratische Theorie der 1950er Jahre war „marxistischer“ als das, was heute als Fortführung des Marxismus gilt.

Die Beispiele zeigen, dass die Absetzbewegung von Marx vor einigen Jahrzehnten eine andere Bedeutung besaß als der vorherrschende Antimarxismus heute, und dementsprechend sollten wir fragen, inwiefern wir möglicherweise eine Absetzbewegung von der Absetzbewegung benötigen. Die Antwort kann sicherlich unterschiedlich ausfallen, aber mir drängen sich vier Punkte auf, bei denen ich eine Rückkehr zu Marx für geboten halte:

  1. Für einen materialistic turn

Der Lehrbuch-Marxismus hat dafür gesorgt, dass der Begriff des „historischen Materialismus“ heute nur noch als Karikatur herumgeistert. Die Argumentation ging in etwa folgendermaßen: Die Abfolge der Gesellschaftsformationen – Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus, bürgerliche Gesellschaft, Sozialismus … – gehorcht einem Entwicklungsgesetz, kulturelle und politische Umgangsformen lassen sich aus der ökonomischen Basis ableiten, letztere wiederum ist Ausdruck des technischen Entwicklungsstandes. Ein deterministisches Geschichtsverständnis und ökonomistischer Reduktionismus waren Ausdruck dieses verstümmelten Materialismus. Hinterher geschoben wurden dann gern auch noch ein weiterer völlig verkürzter Lehrsatz: Das Sein bestimmt das Bewusstsein1.

Dass das alles so simpel nicht sein kann, lag vermutlich schon im 19. Jahrhundert auf der Hand. Schon damals folgten die Produktionsverhältnisse in vielen Ländern keineswegs mechanisch der Entwicklung der Produktivkräfte. China etwa war Europa technologisch über Jahrhunderte voraus gewesen, hatte sich aber dennoch die alten feudalen Verhältnisse bewahrt. Und auch das mit dem vom Sein determinierten Bewusstsein musste komplizierter sein, sonst sich hätte der Fabrikantensohn Friedrich Engels kaum der Arbeiterbewegung verschrieben. Doch worauf zielte die materialistische Methode dann ab? Um das zu begreifen, muss man reflektieren, wovon Marx sich abgrenzte. Gut nachvollziehen lässt sich das anhand der früh, nämlich 1846 verfassten „Deutschen Ideologie“, in der Marx / Engels ihr philosophisches Programm umrissen. Sie wenden sich darin gegen die – damals ausgesprochen progressive – Religionskritik der Junghegelianer und werfen diesen vor, an der falschen Stelle anzusetzen. Feuerbach und seine Mitstreiter glaubten, die Gesellschaft ändern zu können, indem sie Religion und Ideen attackierten, tatsächlich jedoch müsse eine Gesellschaftskritik von einer Kritik der Lebensverhältnisse ausgehen. Marx / Engels umreißen ihr Projekt so: „Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche vom Himmel auf die Erde herabsteigt, wird hier von der Erde zum Himmel gestiegen. D.h., es wird nicht ausgegangen von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen, auch nicht von den gesagten, gedachten, eingebildeten, vorgestellten Menschen, um davon aus bei den leibhaftigen Menschen anzukommen; es wird von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozess auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt. (…) Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewusstseinsformen behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens. Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein.“ (Marx / Engels 1958, S.26f)

Der Absatz könnte auch heute geschrieben sein und sich gegen die Flut diskursanalytischer Forschungen richten – vieles an dem Einwurf wäre auch heute richtig. Umgekehrt wüsste man aber auch, erwidert werden würde: Die Bewusstseinsformen prägen auch die „materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr“. Max Webers Beobachtungen zur protestantischen Ethik sind der wahrscheinlich prominenteste Nachweis davon, dass die Beziehungen von Ideen und ökonomischen Verhältnissen wechselseitig oder, 'marxistisch' ausgedrückt, dialektisch sind. Machte es sich Marx mit seiner materialistischen Methode also zu einfach? Man muss sich erneut vergegenwärtigen, wogegen er Mitte des 19. Jahrhunderts anschrieb. Er hatte die Aufklärer vor Augen, die die politische Form aus den Entscheidungen freier denkender Subjekte herleiteten und dabei nicht hinterfragten, wie das Handeln und das Denken der Einzelnen von den gesellschaftlichen Bedingungen konditioniert wurden. „Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, dass Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen <bürgerliche Gesellschaft> zusammenfaßt, dass aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei. (…) Das allgemeine Resultat, das sich mir ergab und, einmal gewonnen, meinen Studien zum Leitfaden diente, kann kurz so formuliert werden: In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen.“ (Marx 1971, S.8)

Die schematische Geschichtsvorstellung, die den Marxismus so negativ begleiten sollte, war hier durchaus angelegt, doch die Untersuchungsabsicht von Marx war viel komplexer als der Lehrbuch-Marxismus: Die Aufklärer, zu deren unmittelbaren Erben Marx zählte, hatten geglaubt, dass sich der historische Fortschritt durch die Bildung der Individuen und die Entwicklung der politischen Regierungskunst einstellt. Marx kritisierte das als naiv und machte deutlich, dass es die Lebens- und im Besonderen die Eigentumsverhältnisse waren, die die politischen Formen der bürgerlichen Gesellschaft bestimmten und in ihr beständig für Unmündigkeit und Unfreiheit sorgten. Seine materialistische Methode sollte also aufzeigen, dass sich erstens die Gesellschaft nicht durch gute oder schlechte Ideen weiterentwickelt, sondern durch soziale Konflikte, und dass zweitens der Einzelne kein freies Subjekt darin war, sondern ebenfalls gesellschaftlich „produziert“ wurde, also Ergebnis und Ausdruck der Verhältnisse war. Schon in der Deutschen Ideologie hat Marx ein komplexes, sprich: dialektisches Verständnis von den Zusammenhängen. Marx leitet die gesellschaftliche Entwicklung und ihre politisch-kulturelle Form nämlich nicht einfach von der Ökonomie ab, sondern nimmt in den Blick, wie der technische Entwicklungsstand (die Produktionskraft), die gesellschaftliche Organisationsform (die Produktionsverhältnisse) und das Bewusstsein der Menschen in Widerspruch zueinander geraten. Zentrale Bedeutung hatte für ihn dabei die Existenz von Klassen. Die eigentliche Kernaussage des „historischen Materialismus“ ist also, dass die Widersprüche zwischen oben und unten, zwischen technischer Produktionskraft und Eigentumsordnung, zwischen arbeitsteiliger, vergesellschafteter Lebensweise und dem individualisierten Bewusstsein die Gesellschaft unablässig zerreißen und damit eine ungeheure Dynamik in Gang setzen. Oder im O-Ton: „Wir erhalten aus diesem ganzen Dreck nur das eine Resultat, dass diese drei Momente, die Produktionskraft, der gesellschaftliche Zustand und das Bewußtsein, in Widerspruch untereinander geraten können und müssen, weil mit der Teilung der Arbeit die Möglichkeit, ja die Wirklichkeit gegeben ist, dass die geistige und materielle Tätigkeit – dass der Genuss und die Arbeit, Produktion und Konsumtion, verschiedenen Individuen zufallen, und die Möglichkeit, dass sie nicht in Widerspruch geraten, nur darin liegt, dass die Teilung der Arbeit wieder aufgehoben wird.“ (Marx / Engels 1958, S.32)

Der kritische Marxismus – in den Linien von Antonio Gramsci, Louis Althusser oder Nicos Poulantzas, aber auch der Frankfurter Schule – hat im Anschluss daran immer das Konzept von wechselseitigen Verschränkungen stark gemacht. Die Entwicklung der Gesellschaft ist nicht ökonomisch oder technisch determiniert, sondern konditioniert; angetrieben hingegen wird sie durch soziale Konflikte. Die kulturellen und politischen Strukturen besitzen dabei gegenüber der materiellen Basis eine „relative Autonomie“ und können auch fortbestehen, wenn die materiellen Voraussetzungen, die sie ermöglichten, längst wieder verschwunden sind. Ein derartiger Materialismus kann dialektische Beziehungen zwischen Bewusstsein und Tätigkeit, zwischen Idee und materieller Produktion sehr gut beschreiben.

Doch warum sollte man sich überhaupt bemühen, den materialistischen Ansatz zu rehabilitieren? Ich würde das mit der Wende begründen, die die kritischen Gesellschaftswissenschaften in den 1980er Jahre erfasste und die ich vereinfachend unter dem Stichwort linguistic turn fassen möchte. Damals setzte sich in einem wichtigen Teil der wissenschaftlichen Linken der Ansatz durch, Geschichte nicht mehr als Abfolge ökonomischer Formationen, sondern anhand von Epistemen, Wissenssystemen und Erzählungen zu beschreiben. Als zentrale Figuren in dieser Wende hin zu einem sprachwissenschaftlichen Fokus kann man neben Foucault, zumindest was ihre Relevanz für politische Debatten auch außerhalb der Universitäten angeht, sicherlich Jacques Derrida, Judith Butler oder in den letzten Jahren Ernesto Laclau/ Chantal Mouffe nennen. Auch der linguistic turn ist komplexer und vielschichtiger als seine Lehrbuchzusammenfassungen. Foucault etwa war sehr viel mehr als ein Diskursanalytiker. Er ging von der politischen Frage aus, warum sich Zwangseinrichtungen wie Gefängnis, Irrenhaus oder Schule in den sozialistischen Ländern so wenig von denen im Kapitalismus unterschieden, und wollte die „Mechanik der Macht“ analysieren.2 Dementsprechend ging es ihm keineswegs in erster Linie um Sprache oder Wissenssysteme. Sein Interesse war viel breiter angelegt – er beschäftigte sich mit Gefängnisarchitekturen, dem Funktionieren der Justiz, physischen Züchtigungsinstrumenten zur Erziehung der Körper, merkantilistischer Wirtschaftspolitik und vielem anderen mehr. Und doch lässt sich durchaus konstatieren, dass der linguistic turn, wie er im Wissenschaftsbetrieb wirkungsmächtig wurde, dazu geführt hat, dass Studierende und Wissenschaftler/innen heute auf sehr hohem Abstraktionsniveau darüber sprechen, wie sie sprechen und inwiefern dieses Sprechen Macht reproduziert, gleichzeitig aber ökonomische Kategorien, die zum Verständnis von Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnisse unverzichtbar sind, bei ihnen spürbar an Bedeutung verloren haben. Dazu kommt außerdem, dass sich so etwas wie eine diffuse Perspektive einstellt. Ich möchte das anhand eines Essays des französische Philosophen Geoffroy de Lagasnerie illustrieren, der mir repräsentativ dafür erscheint, wie sich die Abkehr von der materialistischen Methode auswirkt. De Lagasnerie (2017), der in Frankreich als eine wichtige Stimme engagierter Wissenschaft gilt, schreibt: „Wir leben in einer inkohärenten Welt. Das Wichtigste, was wir in den siebziger Jahren von Foucault gelernt haben, ist, dass die Macht zerstreut ist. Es gibt keine grundlegende Einheit der Gesellschaft. Es gibt nicht einmal eine Gesellschaft . Es gibt keine zentrale Macht, die jeden Aspekt unserer Existenz beherrscht (…) Die Rhetorik von «Commons», Besetzung und Volk, von «Konvergenz der Kämpfe» schafft einen höchst paradoxen politischen Rahmen. Sie bildet einen Horizont, der radikale Politik definiert und ein einziges Ziel festlegt, für das jede politische Bewegung kämpfen sollte. Doch ein solch einheitlicher Horizont ist unmöglich, und zwar nicht, weil er unerreichbar wäre oder ein zu ambitioniertes Ziel darstellte. Es gibt diesen einheitlichen Horizont schlichtweg nicht, er kann gar nicht existieren!“

So oder so ähnlich argumentieren heute viele kritische Gesellschaftswissenschaftler/innen. Sie untersuchen eine Vielzahl von Machtverhältnissen, aber erkennen keinen Gesamtzusammenhang mehr. Im besten Fall haben wir es mit einer Summe von Dispositiven zu tun. Eine komplexe, plurale, ausdifferenzierte Gesellschaft mit vielfältigen Lebensweisen – so sieht sich auch die aufgeklärte bürgerliche Gesellschaft selbst gern. Aber stimmt das? Das Charakteristische an der Lage heute scheint mir doch eher darin zu bestehen, dass wir zwar unsere Differenz – Nationalität und Religion, Kultur und Milieu, sexuelle Identität oder Präferenz – betonen wie noch nie, gleichzeitig aber unsere Lebensweise auf nie da gewesene Weise homogenisiert ist. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte leben wir in einem echten Weltsystem, das den Globus umspannt und die Handlungen von Menschen in fast allen Lebensbereichen strukturiert. Auf der Fahrt im SUV zum Shopping Center unterscheidet sich der saudiarabische Fundamentalist nicht vom Trump-Anhänger in den USA, während sich die ökonomisch Überflüssigen der industriellen Überproduktion dort wie hier mit kleinen Dienstleitungen, wie Scheibenputzen, über Wasser zu halten versuchen. Die Finanzkrise von 2008 stürzte Hunderte Millionen Menschen weltweit in die Armut, und die Güter, die wir konsumieren, sind in weltumspannenden Produktionsketten hergestellt. Gibt es wirklich keine grundlegende Einheit der Gesellschaft?

Das Zeitgemäße an der materialistischen Methode von Marx besteht nicht zuletzt darin, dass sie aufzeigt, wie hinter unserem Rücken und ohne unser Bewusstsein ein Gesamtzusammenhang produziert wird, den wir in der Krise fürchterlich zu spüren bekommen. Sie macht sichtbar, dass der Kapitalismus eine starke universalisierende Kraft besitzt, diese gleichzeitig aber durch die von ihm produzierten sozialen Spaltungen wieder aufhebt. Und dass diese Spaltungen, werden sie ethnisch, religiös oder national kodiert und kanalisiert, regelmäßig zu tragischen gewaltsamen Auseinandersetzungen führen, insofern sie nicht emanzipatorisch gewendet werden. In dieser Hinsicht scheint mir die materialistische Methode bestens geeignet, um unsere Lage im 21. Jahrhundert zu beschreiben: 1) Die sich verschärfenden sozialen Ungleichheiten und den allgemeinen Trend zur Intensivierung von Verteilungskämpfen, 2) die globale Zunahme von „Überflüssigen“ im Windschatten der weiterhin rasant steigenden Produktivitätszuwächse, 3) den sich immer deutlicher abzeichnenden Widerspruch zwischen der begrenzten Natur des Planeten und der auf Unendlichkeit angelegten Verwertungsspirale, 4) die wachsende Spannung zwischen der Einebnung der Differenz im Rahmen des Weltmarkts und seiner Produktionsnetzwerke und der Hervorhebung von Differenz zur Legitimation der sozialen Spaltung.

Meine These wäre, dass wir diese ökologischen, sozialen, militärischen und politischen Krisen der Gegenwart nur mit einem materialistic turn verstehen können. Zwar sind die vielfältigen Krisen keineswegs alle vom Kapitalismus verursacht (selbstverständlich haben Bürgerkriege im Nahen Osten auch politische und religiöse Dimensionen, selbstverständlich ist die ökologische Krise auch Ausdruck eines utilitaristischen Naturkonzepts ...), aber sie werden doch alle von diesem verschärft. Ein materialistic turn würde uns erlauben, den Gesamtzusammenhang zu erkennen und zu begreifen, dass es materielle Interessen konkreter gesellschaftlicher Gruppen (und nicht in erster Linie falsche Ideen) sind, die uns davon abhalten, diesen Zusammenhang zu benennen.

  1. Gesellschaft von unten denken

Ein zweites Charakteristikum Marxschen Denkens, das mir hochaktuell erscheint, ist seine Kompromisslosigkeit in der gesellschaftlichen Parteinahme. Dass „die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert“ haben, es nun hingegen darauf ankommt, „sie zu verändern“ (Marx 1969, S.535), gehört leider ebenfalls zu den abgedroschensten Zitaten des 20. Jahrhunderts. Es bringt aber trotzdem auf den Punkt, was engagiertes Denken vom Wissenschaftsbetrieb der Gegenwart unterscheidet. Zwar formulierte Marx den Anspruch, den moralischen Ansatz der Frühsozialist/innen durch einen objektiven zu überwinden und dementsprechend nicht länger danach zu fragen, was man für wünschenswert oder geboten hält, sondern was in den gesellschaftlichen Verhältnissen an Veränderungen angelegt ist. Doch letztlich blieb Marx' Projekt ethisch fundiert. Er betrieb Wissenschaft, um Herrschaftsverhältnisse zu verstehen, angreifbar zu machen und zu überwinden. Über das Gerechtigkeitsstreben des moralischen Sozialismus machte er sich lustig, doch sein Schreiben war ganz von der Empathie für diejenigen geprägt, die in den Verhältnissen nichts zu lachen haben.

In den Frühschriften der 1840er Jahre, v.a. den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“, ist dieser humanistische Ansatz allgegenwärtig, aber auch das „Kapital“ von 1867, das ja eigentlich ein abstraktes, ökonomietheoretisches Buch ist, wird von diesem Geist getragen. Auf einen philosophisch tiefgründigen ersten Abschnitt über die Ware und einen ökonomischeren zweiten über „Die Verwandlung von Geld“, wird im dritten Abschnitt ausführlich beschrieben, was die Produktionsweise für diejenigen bedeutet, die nicht von Kapitalvermögen oder Rente leben können: das Proletariat. (Leider auch das heute ein abgedroschener Begriff). Marx schildert die Kinderarbeit im England des 19. Jahrhunderts, lässt die Betroffenen selbst zu Wort kommen oder zitiert aus Untersuchungsberichten über Belastungen und Erkrankungen der Arbeiter/innen. Im unmittelbaren Anschluss an die komplizierten Formeln und Tafeln der Ware-Geld-Zirkulation macht er also sofort wieder kenntlich, was sich hinter der Abstraktion an Lebenswirklichkeit verbirgt. Die Geschichte des Staatssozialismus mag das mit seiner Lehrbuchmechanik und seinem Entwicklungsterror zugeschüttet haben, doch die wissenschaftliche Methode von Marx beruhte in erster Linie auf Empathie. Marx entwickelte abstrakte Modelle, weil er konkrete Menschen vor Augen hatte, deren Leben ihm nicht egal war, und er war in der Lage, die Verbindung von Abstraktem und Konkretem aufrecht zu erhalten.

Der zweite Aspekt in diesem Zusammenhang ist, dass er in seinem Humanismus unterschied und die Perspektive von unten einzunehmen versuchte. Anders als die Denker der Aufklärung, die von „freien Individuen“, also männlichen Bürgern ausgegangen waren, machte er nämlich die Spaltung der Gesellschaft in Klassen zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Daraus folgerte fast notwendigerweise auch ein Praxisbezug. Ein weiteres extrem bekanntes Zitat hierzu stammt aus der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muss gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift. Die Theorie ist fähig, die Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominem |am Menschen| demonstriert, und sie demonstriert ad hominem, sobald sie radikal wird.“ (Marx 1976, S. 385)

In der Geschichte der politischen Linken wurde dieser Praxisbezug oft so interpretiert, dass sich Theorie und Wissenschaft einer bestimmten Praxis unterordnen sollten. In der Folge entschieden Organisationen und Parteiführungen, welches Wissen für ihr Handeln notwendig war. Doch Marx ging es im 19. Jahrhundert um etwas anderes, nämlich darum, dass Theorie etwas wollen sollte. Und dieses Wollen wiederum hatte einen starken ethischen Kern. Ganz ähnlich wie Spinoza dachte auch Marx kompromisslos diesseitig, sein ganzes Streben war auf die freie Entfaltung menschlicher Existenz und ihrer Vielfalt gerichtet. So heißt es in Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie weiter: „Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst. Der evidente Beweis für den Radikalismus der deutschen Theorie, also für ihre praktische Energie, ist ihr Ausgang von der entschiedenen positiven Aufhebung der Religion. Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ (ebd)

Gerade dieser letzte Halbsatz scheint auch 175 Jahre nach seiner Niederschrift bestens geeignet, das Programm jeder politischen Linken zu begründen und begrenzen. Es ist erstens eine radikal universalistische Forderung, die keine Unterscheidung nach Klassen, Hautfarbe, Religion oder Geschlecht zulässt und damit postuliert, dass es keine Emanzipation gibt, die auf einen bestimmten Kreis von Menschen beschränkt bleibt (was heute im Zusammenhang mit der Zuwanderungsdebatte andauernd propagiert wird). Es ist zweitens eine Forderung, die Empathie oder Solidarität ins Zentrum der Politik stellt, also Revolution von der „Sorge umeinander“ (care) her denkt. Und es ist drittens eine Bemerkung, die Unterdrückung auf überraschend zeitgenössische Weise in ihrer sozialpsychischen Dimension denkt, denn die Begriffe Verlassenheit, Verächtlichkeit und Erniedrigtsein umfassen mehr als die Versorgung mit materiellen Gütern oder die soziale Stellung.

  1. Eine Wissenschaft der Krisen

Eine Anekdote vom Höhepunkt der Finanzkrise 2008 erzählt von einem Besuch der britischen Queen an der London School of Economics. Die Königin, mit Kostüm und Schleifchenhut, fragte die versammelten Ökonomen, warum so viele gut ausgebildete Experten die Krise nicht vorhergesehen hatten. Laut Guardian reagierten die Wirtschaftswissenschaftler zunächst ratlos, um dann acht Monate später, als sich die Wogen wieder etwas geglättet hatten, eine Antwort nachzureichen. In einem dreiseitigen, eher schwammigen Schreiben verkündeten sie: „There was a very complicated, interconnected set of issues, rather than one particular person or one particular institution … Everyone seemed to be doing their own job properly on its own merit. And according to standard measures of success, they were often doing it well. The failure was to see how collectively this added up to a series of interconnected imbalances over which no single authority had jurisdiction.“ (zit. nach: Guardian 27.7.2009)

Dieses Herumlavieren war umso erstaunlicher, als sich die Wirtschaftswissenschaften in den vergangenen Jahrzehnten oft gern als Quasi-Naturwissenschaft präsentiert haben. Mit ihrer Mathematisierung insinuierten sie, es gäbe ökonomische Gesetze, die unabhängig von den gesellschaftlichen Verhältnissen und Konflikten herrschen. Besonders der Neoliberalismus, dessen politisches Projekt in der Befreiung der privaten Vermögensinteressen von demokratischer Regulation besteht, ist ideologisch stets damit unterfüttert worden, dass man immer neue Gleichgewichtsmodelle präsentiert.

Tragischerweise sind in der realen Welt nicht nur die Selbstheilungskräfte des Marktes schwächer als behauptet, weil perfekte Konkurrenz selten, Oligopole hingegen die Regel sind, sondern es kommt auch mit großer Regelmäßigkeit zu fürchterlichen Wirtschaftskrisen, in denen trotz fallender Preise und Löhne weder gekauft noch neu eingestellt wird. Dass in der Krise auch gestandene Konservative (wie 2008 beispielsweise der FAZ-Feuilletonchef Frank Schirrmacher) immer wieder Marx für sich entdecken, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass letzterer im Unterschied zum Mainstream immer sehr viel über Krisen nachdachte. Dass Marx deshalb bei jedem Crash den Kommunismus ausgerufen habe, wie häufig kolportiert wird, stimmt so nicht. Viel stärker war das neugierige Untersuchungsinteresse. Wer sich ein Bild von Marx' Beziehung zur Krise machen will, kann das z.B. anhand seines Briefwechsels mit Engels aus den Jahren 1857/1858 tun.

Damals erlebte Europa eine Krise, die als eine der ersten Weltwirtschaftskrisen der Geschichte gilt. Ihr Verlauf lässt sich ungefähr folgendermaßen skizzieren: Der internationale Eisenbahn-Boom hatte auch eine Finanzblase erzeugt, denn für den Bau neuer Strecken wurde überall und grenzüberschreitend Kapital eingesammelt. Die steigenden Kurse der Unternehmen und entsprechende Gewinnerwartungen zogen Spekulanten an und schufen Anreize für betrügerische Geschäftsmodelle. Marx und Engels hatten wegen des Booms, der zunehmenden Verflechtung der Kapitalmärkte und der um sich greifenden Spekulation schon einige Jahre zuvor eine große Geldkrise prophezeit. Doch vom unmittelbaren Auslöser der Krise 1857 ahnten sie nichts; auch in den Briefen blieb das konkrete Ereignis unerwähnt, was darauf hindeutet, dass Nachrichten damals (aber wohl auch heute noch) deutlich langsamer zirkulierten als das Kapital. Der unmittelbare Auslöser der Krise war offenbar die Tatsache, dass die Ohio Life Insurance Company am 24. August 1857 ihre Zahlungsunfähigkeit erklären musste. In der Folge stellte sich heraus, dass ein großer Teil der Geldanlagen veruntreut worden war; wie so oft hatten die Investor/innen in Anbetracht hoher Gewinnerwartungen nicht so genau hingeschaut. Nach der Bankinsolvenz geschah etwas Ähnliches wie in der Finanzkrise von 2008: Andere New Yorker Banken zogen ihre Kredite ab, um sich selbst vor einer Zahlungsunfähigkeit zu schützen, worauf hin kleinere Bankhäuser im ganzen Land schließen mussten, was wiederum Unternehmen mit in die Pleite riss. Obwohl die Geldversorgung laut Wirtschaftshistorikern nur zwei Monate lang danieder lag, war die Ansteckung von Industrie und Landwirtschaft bereits erfolgt.

Heute würde die globale Kettenreaktion in Millisekunden erfolgen, weil Computerprogramme bei Grenzkursen automatisch Aktienverkäufe durchführen. 1857 dauerte es noch zwei Monate, bis diese Krise Europa erreichte. Hamburg, wo der Handel mit Wechseln floriert hatte, wurde heftig getroffen. Der Hamburger Senat hatte zunächst vor, die Börse sich selbst zu überlassen, aber in Anbetracht der Panik musste die Öffentlichkeit, ganz ähnlich wie in der Finanzkrise 2008, die Privatvermögen der Finanzanleger retten. Es heißt, der Hamburger Senat sei in Anbetracht der um sich greifenden Panik gezwungen gewesen, 35 Millionen Bancomark, die fünffache Menge der für 1857 veranschlagten Staatsausgaben, zu bewilligen.

Das alles kann man bei Marx und Engels so detailliert nicht nachlesen. Die beiden sind in ihren Briefen in erster Linie damit beschäftigt, sich die jeweilige Lage in Manchester und London zu schildern. Sie analysieren, welche Rolle die „Wechselreiterei“, also gegenseitige Zahlungsversprechen, in der Krise spielten und beschreiben einen Mechanismus, der auch heute ähnlich zur Wirkung kommt. Die gegenseitigen Zahlungsversprechen ließen eine Spekulationsblase wachsen und führten gleichzeitig dazu, dass Anleger und Fabrikanten aus der ganzen Welt voneinander abhängig wurden und sich gegenseitig in den Abgrund reißen konnten. Am Interessantesten an der Marxschen Krisenanalyse ist allerdings, mit welchem Scharfsinn er erkennt, dass Krisen im Kapitalismus wenig mit Knappheit, hingegen viel mit Überfluss zu tun haben. Das ist nämlich eigentlich ausgesprochen merkwürdig. Der gesunde Menschenverstand legt eher das Gegenteil nahe: dass Krisen auftreten, wenn Grundgüter und Lebensmittel knapp werden. Doch im Kapitalismus ist es anders herum: dort lässt die Erwartung zukünftiger Gewinne Anleger massenhaft in einen bestimmten Bereich investieren. Das führt zu einem Boom, es wird viel mehr hergestellt und angebaut als üblich, die Kurse steigen, die Gewinne sind hoch – bis sich herausstellt, dass zu viele Güter auf dem Markt sind, die Einnahmen nicht ausreichen, um die Zinsen der Anleger/innen und Banken zu bedienen, und plötzlich reihenweise Unternehmen bankrott gehen. Auf den Märkten herrscht Überfluss, während die Menschen verelenden.

Darüber, was hinter diesen Krisen steckt– ob die Produktionskapazitäten (Überproduktion) zu groß, die Nachfrage zu klein (Unterkonsumtion) oder zu viel Kapital akkumuliert wurde – lässt sich bestens streiten. Nicht alles an der – im Übrigen auch nie vollendeten – Marxschen Krisentheorie muss richtig sein, doch die Ausgangsbeobachtung ist bemerkenswert aktuell: Der Kapitalismus erleidet immer dann einen Schock, wenn der Überfluss nicht mehr weiß, wohin mit sich. Das war auch in der Finanzkrise von 2007/2008 nicht anders. Kapital, das sich seit den 1970er Jahren im Produktionsbereich nicht mehr attraktiv anliegen ließ, hatte die Finanz- und Immobilienmärkte geflutet, was v.a. von der US-Regierung durch eine bereits unter Jimmy Carter einsetzende, aber dann unter Reagan massiv forcierte Deregulierungspolitik erleichtert wurde. Der Finanzsektor boomte, die Vergabe von Krediten wurde erleichtert, mehr als zwei Jahrzehnte lang heizte die Finanzialisierung des Kapitalismus auch die reale Ökonomie mit an. Doch irgendwann braucht das Geschäft mit den Erwartungen auch reale Rückflüsse, und wenn diese ausbleiben, platzt die Blase. Die erleichterte Kreditvergabe hatte dafür gesorgt, dass sich zu viele Leute mit prekären Jobs und niedrigem Einkommen verschuldet hatten und ihre Kredite nun, Mitte der 2000er Jahre, nicht mehr bedienen konnten. Am Ende passierte etwas, das es nur im Kapitalismus in dieser Form gibt: Nicht die Häuser waren knapp, sondern es gab im Gegenteil zu viele, die sich nicht mehr in Geld verwandeln ließen. Der Preis brach ein, Anlagen wurden entwertet, vermittelt über die auf internationalen Finanzmärkten gehandelten Subprime-Derivate wurde eine globale Kettenreaktion in Gang gesetzt. Krise im Kapitalismus: Die Häuser stehen leer, und es gibt Massenobdachlosigkeit.

Was man bei Marx aber auch lernen kann, ist, dass die Finanzgeschäfte zwar regelmäßig Krisen des realen Konsums, der realen Produktion und v.a. des realen Lebens auslösen, für die es eigentlich keinen Anlass gibt (die Rohstoffe, der gesellschaftliche Bedarf, Arbeitskraft und die Produktionsanlagen sind schließlich weiterhin da), aber dass es eben auch Unsinn ist, wenn man meint, den Finanzsektor abschaffen zu können, ohne den Kapitalismus zu beschädigen. Im postum veröffentlichten 3. Band des Kapitals, in dem sich Marx mit Profit, Zins und Kredit auseinander setzt, arbeitet er überzeugend heraus, warum der reale industrielle Prozess und die finanzielle Wette darauf im Kapitalismus untrennbar miteinander verknüpft sind. Denn für die produktiven Investitionen muss finanzielles Kapital mobilisiert werden. Gerät die Akkumulation im Produktionssektor hingegen ins Stocken, flieht das Kapital zwangsläufig in den Finanzsektor und löst dort Blasen aus. Überwinden lässt sich das nur, wenn die Handlungsräume des Kapitals, sprich: seine Macht, beschränkt werden. Das aber ist ein Kernanliegen sozialistischer Politik. Die Unterscheidung zwischen „gutem“, produktivem und „bösem“, spekulativem Kapital ist also populistischer Unsinn. Wer der Spekulation ans Leder will, muss sich mit dem Kapital anlegen.

  1. Die wahre Welt der Warenwelt

Die vierte Erkenntnis, die ich bei Marx sensationell herausgearbeitet finde, ist seine Darstellung von jenem simplen und doch schwer begreiflichen Ding, das uns Menschen zusammengeführt hat und zusammenhält. „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen die kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als <ungeheure Warensammlung>, die einzelne Ware als seine Elementarform.“ Marx 1973, S. 49) Mit diesem gleichermaßen unscheinbaren wie scheinbar verschwurbelten Satz beginnt das „Kapital“, und es gibt nicht wenige, die – wie Althusser oder Balibar – behaupten, dass der ganze, an ihn anschließende erste Abschnitt überflüssig oder doch zumindest falsch platziert sei. Ich würde das Gegenteil behaupten; mein Eindruck ist, dass hier der Blick sofort darauf gelenkt wird, wie im Kapitalismus vergesellschaftet wird – woraus dann auch sein grundlegendster Widerspruch resultiert.

Tatsächlich leben wir nämlich auf eine höchst merkwürdige Weise. Auf der einen Seite beruht die bürgerliche Identität ganz auf der Freiheit des Individuums und seiner Entscheidungen. Wir halten uns für eine Schöpfung von uns selbst, sind andererseits aber auch wenig traurig darüber, dass wir im täglichen Wettbewerb anderen Menschen so oft nur als Konkurrent/innen begegnen. Dem entspricht denn auch die kritische Wahrnehmung unseres Daseins als individualisiert, vereinzelt, seelenlos.

Doch das ist nur die eine Seite: Die andere besteht darin, dass unser Leben noch nie so kollektiv, vergesellschaftet und homogenisiert war wie heute. Der Prozess der Arbeitsteilung hat das schon vor zwei Jahrhunderten eingeleitet. Anders als in den bäuerlichen Gemeinschaften der Vergangenheit kann heute so gut wie niemand von dem leben, was er oder sie selbst herstellt. Mit unseren unmittelbaren, hochspezialisierten Fähigkeiten könnten wir uns als Einzelne niemals ernähren. Überlebensfähig sind wir nur als Bestandteil der gesellschaftlichen Kollektivs, doch interessanterweise besitzen wir kaum Bewusstsein davon, und das wiederum liegt daran, dass unsere Vergesellschaftung eben nicht bewusst stattfindet, sondern in Form der Marktkonkurrenz sozusagen hinter unserem Rücken abläuft. Nicht wir als Menschen fügen uns zu einem arbeitsteiligen Verbund zusammen, sondern die Ware ist der Kitt unserer sozialen Existenz.

Was für eine absurde Begebenheit! Und wie scharfsinnig Marx das durchdrungen hat!

Im 1. Kapitel des „Kapitals“ hebt er hervor, wie erstaunlich es doch ist, dass ganz unterschiedliche Güter – ein Stuhl, ein Stück Tuch, eine bestimmte Menge Weizen – auf dem Markt gleich werden. Sobald sie Ware sind, spielen ihre konkrete Gestalt, ihr Nutzen und Gebrauchswert keine besondere Rolle mehr. Entscheidend wird dann nämlich ihr zweiter Aspekt: ihr Tauschwert. Nun kann man sich darüber, was Marx zum Tauschwert schrieb, ebenfalls streiten, denn die klassische Arbeitswerttheorie, auf die er zurückgriff, hat offenbar grundlegende Probleme. Aber auch wenn sich der Tauschwert nicht nach der vergegenständlichten Arbeit richten sollte oder zumindest nicht nur, bleibt ja doch die andere Beobachtung sehr treffend, nämlich dass unsere Gesellschaftlichkeit über die Ware hergestellt wird. Erst durch den Verkauf unseres Arbeitsproduktes oder unserer Arbeitskraft wird unsere hochspezialisierte Tätigkeit zu etwas, das unser materielles Überleben sichern kann. Wir sind Teil eines Kollektivs, von dem wir nichts wissen wollen, und brauchen einen abstrakten Mechanismus, der uns von den anderen Mitgliedern fern hält, um zu ihnen zu gehören. Die Ware ist der Dreh- und Angelpunkt dieses Mechanismus.

Marx erinnert daran, dass das alles keineswegs naturgegeben ist. Er verweist auf Gesellschaften, die ebenfalls hochgradig arbeitsteilig organisiert waren, aber durch den sozialen Verband zusammengehalten wurden. Die Verteilung der Güter erfolgte über einen bürokratischen Apparat (wie im alten Ägypten) oder durch die Stammesgesellschaft. Ja, selbst in der bürgerlichen Gesellschaft wird selbstverständlich nicht alles Ware: Innerhalb eines Unternehmens werden Güter und Dienstleistungen nicht getauscht, etwas Ähnliches gilt auch für die Familie. Ware taucht erst da auf, wo sich Eigentum begegnet. „Nur Produkte selbständiger und voneinander unabhängiger Privatarbeiten treten einander als Waren gegenüber“, schreibt Marx (1973, S. 57) und gibt damit schon früh einen Hinweis, was er für den Ausgangspunkt der gesellschaftlichen Widersprüche hält: das Eigentumsverhältnis.

Es ist eine schlichte, aber folgenreiche Beobachtung. Die technische Entwicklung und ihre Arbeitsteilung macht unsere Gesellschaft reich und stärkt unsere Abhängigkeit voneinander, doch das Privateigentum an den Produktionsmitteln sorgt dafür, dass wir diese Gesellschaftlichkeit nicht erleben und viele im Reichtum arm bleiben oder sogar verelenden. Für Marx ist das der zentrale Widersinn der bürgerlichen Gesellschaft. Und umgekehrt ist die Abschaffung dieses Privateigentums für ihn zwar nicht die Lösung aller Probleme, aber doch der Hebel, der die Lösung aller anderen Probleme erleichtert, weil dann bewusstes Handeln und demokratische Deliberation möglich werden.

Der Einwand liegt auch hier auf der Hand: Wie soll diese Abschaffung von Privateigentum vonstatten gehen? Zumindest das Staatseigentum hat ja nicht dazu geführt, dass wir unsere gesellschaftliche Existenz frei und kooperativ entfalten könnten. Aber wie könnte Gemeineigentum dann aussehen? Wenn kleinere demokratische Einheiten wie Genossenschaften und Kommunen die Lösung sein sollten, wie würde dann der Austausch zwischen ihnen organisiert? Würden sie sich marktsozialistisch begegnen, würden weiterhin Waren miteinander gehandelt und das Problem bliebe bestehen. Doch auch wenn die Auflösung des Problems unklar ist, bleibt die Beobachtung von Marx doch richtig: Nicht das Geld (das ja nur ein Tausch-, Zahlungs- und Wertaufbewahrungsmittel ist), sondern die Figur der Ware setzt in unserer Gesellschaft alles in eins: das Möbelstück und den Friseurbesuch, das Brötchen und die sexuelle Handlung, das Videospiel und die Zahnpflege. Hierin steckt die einzigartig homogenisierende und totalisierende Kraft der kapitalistischen Produktionsweise. Ob im peruanischen Amazonien oder in New York, ob in Israel oder im Iran – unser Verhältnis miteinander und zur Natur ist stets vermittelt über die Ware, „ein sehr vertracktes Ding, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken.“ (ebd, S. 85) Teil dieser metaphysischen Dimension ist ihr Fetischcharakter. Wie bei einem religiösen Kultobjekt erscheinen die Waren als belebte, handelnde Wesen, während umgekehrt die sozialen Beziehungen der Menschen zu leblosen Gegenständen werden: „sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen.“ (ebd, S. 87)

Diese Analyse ist auch deshalb so brillant, weil sie heute, 150 Jahre später, so viel weiter fortgeschritten ist. Die Vorstellung, Gegenstände würden handeln, hat unser Denken kolonisiert: Die Sparkasse verspricht, Geld arbeiten zu lassen, der psychologische Ratgeber empfiehlt, in Beziehungen zu investieren, und fast alles, was entfernt mit Kaufkraft zu tun hat, Aktienkurse z.B., ist sexy. Nur konsequent ist da auch, dass das Leben zunehmend zum Anhängsel des ökonomischen Mechanismus wird. Wenn heute allerorten die Seelenlosigkeit der Shopping Malls, die soziale Kälte der Gesellschaft oder die Rücksichtslosigkeit beklagt werden, wenn wir uns wundern, warum öffentliche Orte nicht zum Verweilen einladen, warum die Lebensqualität sinkt, obwohl der Reichtum wächst, dann hat das alles mit dieser kleinen Begebenheit zu tun, dass unsere Gesellschaft in erster Linie eine „ungeheure Warensammlung“ ist. Doch während bei Marx das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Eigentümer und Gegenstand noch eindeutig geklärt ist – die Waren „können nicht selbst zu Markte gehen und sich nicht selbst austauschen“ (ebd, S. 99) – könnte man heute fragen, ob sich das Verhältnis nicht gänzlich umgedreht hat und aus dem mysteriösen Kultobjekt eine materielle Realität geworden ist. Die Entfaltung der Warengesellschaft verwandelt uns in Zombies des Kapitals, in Untote des Akkumulationsprozesses, die fremd gesteuert und ohne rechtes Verständnis davon herumstreifen, warum wir das, was wir tun, eigentlich tun.

Zeit für eine Absetzbewegung von der Absetzbewegung

Die vielen blauen Bände und die damit assoziierte sozialistische Staatsmacht haben im 20. Jahrhundert oft den Eindruck entstehen lassen, es handele sich beim Marxschen Denken um eine abgeschlossene „wissenschaftliche Weltanschauung“, doch die Wahrheit ist, dass Marx nur eine Handvoll Bücher zu Lebzeiten veröffentlichte. Das andere sind Artikel, Skizzen und Fragmente. Das Aufbegehren der kritischen Gesellschaftswissenschaften gegen das hermetische Gebäude einer Ideologie war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Akt der Befreiung, doch heute, da so vieles, was Marx nur erahnen konnte, reale Totalität geworden ist, ist seine Methode so wichtig wie vielleicht nie. Es ist Zeit für eine Absetzbewegung von der Absetzbewegung.

Literatur

Arendt, Hannah (1951/1991): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München: Piper.

Chomsky, Noam; Foucault, Michel (2006): The Chomsky-Foucault-Debate. New York: New Press.

De Lagasnerie, Geoffroy (2017): Wir leben in einer chaotischen, völlig widersprüchlichen Welt. Es gibt keine alles umfassende Einheit und damit keine Möglichkeit zur Revolution, in: WOCHENZEITUNG 47/2017, Zürich. Online unter: https://www.woz.ch/-8321, zuletzt eingesehen: 11.3.2018

Demirovic, Alex (2008): Das Wahr-Sagen des Marxismus: Foucault und Marx. in: Prokla 151, Berlin, S.179-201.

Eribon, Didier (2016): Rückkehr nach Reims. Berlin: Suhrkamp.

Foucault, Michel (2001-2005): Gespräch mit Michel Foucault. in: ders.: Schriften in 4 Bänden, Band 3. Frankfurt / Main: Suhrkamp.

Karl Marx (1844/1976): Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. In: MEW1. Berlin/DDR: Dietz Verlag.

Marx, Karl (1844/1958): Thesen über Feuerbach. In: MEW 3. Berlin/DDR: Dietz Verlag.

Marx, Karl / Friedrich Engels (1846/1958): Die deutsche Ideologie. In: MEW 3. Berlin/DDR: Dietz Verlag.

Marx, Karl / Engels, Friedrich (1846-1848/1978): MEW 29. Berlin/DDR: Dietz Verlag.

Marx, Karl / Engels, Friedrich (1890/1963): MEW 22. Berlin/DDR: Dietz Verlag.

Negri, Antonio; Hardt, Michael (2001): Empire. Franfurt: Campus.

Quaderni Rossi (1972) Arbeiteruntersuchung und kapitalistische Organisation der Produktion - Schriften zum Klassenkampf, Nr. 24, München: Trikont Verlag.

The Guardian (2009): Can you explain the crisis to the Queen?. Online: https://www.theguardian.com/commentisfree/2009/jul/27/queen-lse-credit-crunch. Zuletzt eingesehen: 20.2.2018.

Tronti, Mario (1974): Arbeiter und Kapital. Frankfurt / Main: Verlag Neue Kritik.

1 Im Zusammenhang lautet das entsprechende Zitat aus der Deutschen Ideologie: „Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihres materiellen Verhaltens. (…) Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß..“ (Marx / Engels 1958, S.26)

2 In diesem Sinne äußerte Foucault in einem Interview: „Die Macht im sowjetischen Sozialismus wurde von seinen Gegnern Totalitarismus genannt; und im westlichen Kapitalismus wurde sie von den Marxisten als Klassenherrschaft angeprangert, die Mechanik der Macht jedoch wurde niemals analysiert. Mit dieser Arbeit konnte erst nach 1968 begonnen werden, das heißt ausgehend von den alltäglichen und an der Basis geführten Kämpfen.“ (Foucault 1977, 194)

 

 

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