globale einhegungText zur Bedeutung von Landkämpfen, Akkumulation durch Enteignung, Landlosenbewegungen in Brasilien und Südspanien und zur Frage, was auch eine städtische Linke von diesen Bewegungen lernen könnte. 

Aus dem Sammelband "Die globale Einhegung. Krise ursprüngliche Akkumulation und Landnahme im Kapitalismus" von Maria Backhouse, Stefan Kalmring und Andreas Nowak (Hrg.) (Verlag Westfälisches Dampfboot).

 

In diesem Aufsatz soll die eher ökonomisch ausgerichtete Fragestellung des Sammelbandes – inwiefern die gegenwärtige Finanz- und Überakkumulationskrise neue Landnahme- und Inwertsetzungsprozesse in Gang gesetzt hat – umgedreht werden: nämlich wie in Landkämpfen strategische Antworten auf Krise und Inwertsetzung entwickelt werden. In Lateinamerika ist schon seit Längerem zu beobachten, dass bäuerlichen und indigenen Kämpfen eine größere politische Bedeutung zukommt, als man es in Anbetracht der Urbanisierung auf dem Subkontinent vermuten sollte.[1] Vor diesem Hintergrund möchte ich erstens erörtern, warum das so ist und zweitens anhand der brasilianischen Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) und der andalusischen Gemeinde Marinaleda die Frage entwickeln, welche der dort erprobten Strategien und Organisationsformen auch für eine städtische Linke von Interesse sein könnten.

Die Rückkehr der Landkämpfe

Nur kurz nachdem die maoistische und guevaristische Neue Linke die Bauernschaft in den 1960er Jahren als revolutionäres Subjekt entdeckt hatte, schien diese strategische Ausrichtung auch schon wieder hinfällig zu sein. Die rasante Urbanisierung drängte die Landbevölkerung in Lateinamerika an den Rand und die politische Auseinandersetzung verlagerte sich in die städtischen Zentren.

Seit den 1990er Jahren jedoch sind die Kämpfe von Bauern, Afros und Indígenas mit Vehemenz auf die politische Bühne zurückgekehrt. Der Zusammenschluss von Kleinbauernorganisationen zum internationalen Netzwerk Vía Campesina 1993 leistete einen entscheidenden Beitrag zum Entstehen der globalisierungskritischen Bewegung. In Ecuador und Bolivien waren es Indígenas, die den antineoliberalen Widerstand in Gang und das politische System in ihren Ländern zu Fall brachten. Auch in Kolumbien verwandelte sich eine indigene und kleinbäuerliche Bewegung, die Minga de Resistencia, 2008 in eine Art Avantgarde der (traditionell fragmentierten) politischen und gesellschaftlichen Linken. Und selbst in Brasilien und Chile ging der antineoliberale Widerstand in den vergangenen zwei Jahrzehnten weniger von Gewerkschaften als von der Landlosenbewegung MST oder, im chilenischen Fall, von den Mapuche-Indígenas aus.

Die Relevanz ländlicher Klassenverhältnisse

Für die Tatsache, dass Landkämpfe nach wie vor einen großen politischen Stellenwert besitzen, lassen sich mindestens vier gute Argumente finden:

1.) Wie in der Ausgangshypothese dieses Buchs postuliert und von anderen Autoren im Band ausführlich dargelegt, hat die Krise des Fordismus, die daraus folgende Finanzialisierung des Kapitalismus[2] und die globale Verknappung von Ressourcen einen neuen Zyklus der „Landnahme“ in Gang gesetzt, wodurch das Territorium erneut zentrale Bedeutung erlangt. Spekulativ aufgeblähte Finanzvermögen fluten die internationalen Immobilienmärkte, treiben die Grundstückspreise (sowohl in Städten als auch auf dem Land) in die Höhe und machen Landbesitz erneut zu einer lukrativen Akkumulationsquelle.

2.) Die Landfrage ist der emblematischste Ausdruck von Klassenverhältnissen in der Peripherie. In Lateinamerika ist die Landkonzentration mit einem GINI-Koeffizienten von 0,7 (vgl. Herrera 2006: 2) noch weitaus extremer als die Einkommenskonzentration (deren Koeffizient bei ebenfalls skandalösen 0,5 liegt; vgl. CEPAL 2012: Capítulo 1.6.4). Die Vermögensbesitzer werden dabei von zwei Logiken angetrieben: Zum einen ist Landbesitz in Anbetracht stets drohender Währungsabwertungen eine krisensichere Vermögensanlage, zum anderen nach wie vor wichtigste Grundlage symbolischer und politischer Macht. In Kolumbien etwa agieren die Eliten der Atlantikküste (Ähnliches ließe sich über den brasilianischen Nordosten sagen) viel eher wie die Landherren des kolonialen Encomienda-System denn als kapitalistische Unternehmer. Das Festhalten am Landbesitz als ‚vormodernes Relikt‘ zu beschreiben, greift dabei allerdings zu kurz. Die ‚vormoderne‘ rurale Klassenherrschaft, die sich durch die Bedeutung symbolischer Macht und die Ausübung direkter (also nicht-gesonderter) politisch-ökonomischer Herrschaft auszeichnet, bildet mit den weltmarktorientierten, ‚modernen‘ Entwicklungsstrategien durchaus stabile Verbindungen aus.

In diesem Zusammenhang lohnt es sich, Harveys (2006) Begriff der „Akkumulation durch Enteignung“ heranzuziehen. Harvey verweist zunächst auf Luxemburgs Beschreibung der zwei Seiten von Akkumulation: Während der „rein ökonomische Prozess“ der Mehrwertproduktion friedlich vonstatten zu gehen scheint, vollzieht sich der Aneignungsprozess zwischen „Kapital und nichtkapitalistischen Produktionsformen“ durch Plünderung, Gewalt und Krieg (Luxemburg 1913/1970: 366f). Im Unterschied zu Luxemburg hebt Harvey jedoch hervor, dass dieser Aneignungsprozess nicht als „ursprünglich“, also zeitlich vorgelagert, sondern als kontinuierlicher, komplementärer Prozess zu begreifen ist (vgl. auch Dörre 2009). Die Gewalttätigkeit der „Landnahme“ erklärt wiederum, warum sich an diesen Punkten besonders häufig Widerstand entzündet.

3.) Kollektive politische Subjekte– und damit kommen wir zu politischen Fragen im engeren Sinne – scheinen sich anders zu konstituieren als von der marxistischen Theorie prognostiziert. Der Marxismus ging im 19. und 20. Jahrhundert von einer politischen Zentralität der Arbeiterklasse aus. Er nahm an, die Arbeiterschaft werde durch den Produktionsprozess und ihre gesellschaftliche Stellung darin zum kollektiven Subjekt zusammengeschweißt. Im real existierenden Kapitalismus wurde dieser Kollektivierungsprozess jedoch durch Teilhabe-, Ausgrenzungs- und Prekarisierungspolitiken unterbrochen. Zwischen festangestellten Facharbeitern und unsicher beschäftigten Migranten, Ich-AGs und den Tagelöhnern der globalen Sonderwirtschaftszonen stellt sich nur selten ein gemeinsames politisches Bewusstsein her.

Wie entsteht aber dann kollektive Handlungsfähigkeit? In der lateinamerikanischen Debatte gibt es hierzu zwei wichtige Ansätze, die ich an dieser Stelle kurz skizzieren möchte, weil sie auf die Strategiedebatten in der lateinamerikanischen Linken verweisen: Der argentinische Theoretiker Ernesto Laclau (2005 und 2006) hat – u.a. in Erwiderung auf Slavoj Zizek (2006) – die These entwickelt, dass kollektive Subjekte nur im Rahmen politischer Hegemoniebildung entstehen können. Laclau leugnet nicht, dass es ökonomische Unterdrückungsverhältnisse und damit auch eine Arbeiterklasse gibt. Doch er widerspricht der Annahme, dass diese ‚objektive‘ Unterdrückung das Entstehen eines politisches Subjekts nach sich ziehe. Ein subalternes, populares Kollektiv – sowohl das ‚Volk‘[3] als auch die ‚Arbeiterklasse‘ müsse, so Laclau, durch Widerstandsakte und Sprechoperationen konstituiert werden. Vor diesem Hintergrund gelangt Laclau zu einer alternativen Bewertung des Populismus, den er als politische und diskursive Praxis definiert, mit der sich Subalterne in Abgrenzung zu Eliten als handelndes Subjekt ‚Volk‘ formieren. Die politische und soziale Praxis von unten wäre demzufolge nicht Ausdruck, sondern konstituierender Moment der Subjektivität. Das Kollektiv existiert nicht von vornherein, sondern entsteht erst durch Sprechen und Handeln.

Ein zweiter, mit der Landfrage verknüpfter Diskussionsansatz argumentiert in gewisser Weise entgegengesetzt: In Lateinamerika ist seit Längerem zu beobachten, dass das ‚Territorium‘ eine zentrale Figur des politischen Diskurses ist. Der Begriff ist erneut nicht essenzialistisch (im Sinne von „Blut und Boden“) belegt, sondern reflektiert die Erkenntnis, dass der antineoliberale Widerstand seit Ende der 1980er Jahre v.a. von Akteuren getragen wurde, die sich durch ihre Verbindung im und zum Territorium definieren. So wurde die populare Revolte, die sich ab 1989 in Venezuela entfaltete, im Wesentlichen von Barrio-Bewohnern getragen, die auf ihrem Territorium alternative, häufig an ruralen Traditionen anknüpfende Sozialbeziehungen unterhielten und von der ökonomischen Teilhabe auch räumlich ausgeschlossen waren (vgl. Antillano 2013)[4]. Ganz ähnlich auch in Bolivien, wo die vom Land zugewanderte indigene Bevölkerung eine Führungsrolle bei den Aufständen 1999 bis 2005 (den so genannten guerras del agua und del gas) einnahm. Der Theoretiker Raúl Zibechi (2006) hat in diesem Zusammenhang die These entwickelt, dass der politische Widerstand aus existierenden Gemeinschaftsbeziehungen hervorgegangen sei. Es sei nicht die kapitalistische Modernisierung gewesen, die die politische Kollektivität hervorbrachte, sondern bereits bestehende Aymara-Gemeinschaften (in der Millionenstadt El Alto) hätten sich gegenüber der neoliberalen Politik artikuliert (vgl. auch Múnera 2013). Anders ausgedrückt: Vor dem Hintergrund, dass der neoliberale Kapitalismus die gesellschaftliche Fragmentierung vorantreibt, sind Gemeinschaften, die in einem Territorium leben, mit diesem verbunden sind und dort gewachsene Sozial- und Solidarbeziehungen unterhalten, offensichtlich handlungsfähiger als das klassische Arbeitersubjekt. Das Entstehen politischer Kollektive scheint also enger mit ländlichen Sozialtraditionen verknüpft zu sein als vom traditionellen Marxismus postuliert.

4.) Die Kämpfe von Indigenen, Landlosen und Kleinbauern sind aber auch deshalb bedeutsam, weil sie die Frage nach dem Kern antikapitalistischer Projekte neu aufwerfen. Die staatssozialistische Linke erzwang im 20. Jahrhundert in vielen Ländern eine revolutionäre Umwälzung der Eigentumsverhältnisse, hielt jedoch am Entwicklungs-, Akkumulations- und Naturverhältnis der kapitalistischen Moderne fest – von einigen, ebenfalls fürchterlich verlaufenen, maoistischen Experimenten abgesehen. In der Konfrontation mit exportorientierter Landwirtschaft, Gen-Technologie und großen Bergbauprojekten verweisen Bauernbewegungen und Indigene heute darauf, dass diese Fragen nach wie vor unbeantwortet sind: Geht es beim großflächigen Anbau von genetisch manipulierter Soja, der Ausbeutung von Ölvorkommen in Amazonien oder dem Bau gigantischer Wasserkraftwerke nur darum, dass sich hier Privatkonzerne bereichern, oder ist die Form der Entwicklung selbst bereits ein Problem? Die Debatte ist im Einzelnen komplexer, als es aus den ersten Blick scheint: Auch der Versuch, die Pfade der Moderne zugunsten alternativer Entwicklungsstrategien zu verlassen, können – wie die Geschichte der Roten Khmer oder des maoistischen Chinas zeigt – schnell in terroristischer Gewaltherrschaft münden. Das ändert jedoch nicht daran, dass das vorherrschende Entwicklungs-, Wohlstands- und Akkumulationsmodell heute zur Disposition stehen. Die These, wonach sich emanzipatorische Perspektiven ausschließlich auf dem Boden der Moderne entwickeln lassen, wie dies beispielsweise Slavoj Zizek behauptet, verstellt den Blick darauf, dass auch traditionale Lebensweisen einen kritischen, sprich emanzipatorischen Gehalt ausbilden können. Für die Entwicklung antikapitalistischer Alternativen wäre es in diesem Sinne ausgesprochen lohnenswert zu untersuchen, wie und warum sich traditionale Gemeinschaften Markt- und Äquivalenzbeziehungen entziehen, welchen ökonomischen Prinzipien jenseits der Effizienz ihr Handeln folgt und wie sich dies auf die Entwicklung der Lebensqualität auswirkt[5], oder wie bäuerliche Gemeinden im Rahmen von Allmende und Nachbarschaftsarbeit über lange Zeiträume kollektiv über Ressourcen und Arbeit verfügen.

Strategien der Aneignung

Landkämpfe sind aus einer sozialistischen Perspektive also aus verschiedenen Gründen relevanter als es auf den ersten Blick scheint. Doch inwiefern drücken sich – wie ich eingangs behauptet habe – auch politisch-strategische Alternativen in ihnen aus?

Um diese Frage zu beantworten, möchte ich zunächst das meiner Ansicht nach strategische Problem skizzieren: Die Ratlosigkeit der Linken in Anbetracht der globalen Krise hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die großen Transformationsstrategien des 20. Jahrhunderts gescheitert sind und somit keine ‚große Erzählung‘ der Veränderung mehr zur Verfügung steht. Der US-amerikanische Soziologe Erik Olin Wright (2010) unterscheidet drei Strategien der Transformation: ruptural, symbiotic und interstitial. Wright bezieht sich damit auf politische Praxis, die auf a) den Bruch, b) die symbiotische Koexistenz mit und c) eine Unterbrechung des Kapitalismus abzielt (ebda: 308-365). Der (revolutionäre) Bruch, so Wright, sei als Strategie der Emanzipation wenig erfolgversprechend, weil er mit schweren ökonomischen und gesellschaftlichen Verwerfungen einhergeht, die die Lebensverhältnisse so stark verschlechtern, dass wiederum die Unterstützung für das Transformationsvorhaben unterminiert wird. Der Verlust politischer Hegemonie kann dann nur durch die autoritäre Durchsetzung des Projekts aufgefangen werden.

Die symbiotische Koexistenz mit dem Kapitalismus, wie sie von der Sozialdemokratie verfolgt wurde, mündete hingegen in einer Assimilation der Reformbewegungen an das herrschende System. Kaum ein Sozialdemokrat erinnert sich heute noch daran, dass das ursprüngliche Ziel des Reformismus die klassenlose Gesellschaft (und nicht die soziale Abfederung von Herrschaft) war. Symbiose impliziert also offensichtlich Anpassung bis zur Unkenntlichkeit.

Der von Genossenschaften, Landkommunen und anarchistischen Bewegungen verfolgte Ansatz schließlich, sich parallel zum Kapitalismus zu entfalten und ihn auf diese Weise zu unterminieren, beschränkte das politische Handeln auf Nischen. Wright merkt in diesem Zusammenhang an: „Strategien der Unterbrechung mögen den Rahmen gesellschaftlicher Ermächtigung erweitern, aber es ist nicht zu erkennen, wie sie die grundlegende strukturelle Macht des Kapitals unterhöhlen können, um die der sozialen Emanzipation vom Kapitalismus gesetzten Grenzen zu überwinden.“ (ebda: 335)

Wenn es stimmt, dass die politischen Strategien der Linken heute zur Disposition stehen und sich gänzlich neue Ansätze kaum erfinden lassen werden, kann eine Diskussion nur darum gehen, wie sich die verschiedenen Strategien neu verbinden ließen. Diese Debatte muss über das – im 20. Jahrhundert oft recht ermüdend verhandelte – Konzept der „Dialektik von Reform und Revolution“ hinausgehen. Diese „Dialektik“ verblieb nämlich innerhalb eines staatszentrierten Begriffsrahmens. Sowohl Reformismus als auch Revolutionstheorie verstanden Veränderung in erster Linie als administrativen Akt. Wenn Emanzipation hingegen als Selbstbefreiung von Unterdrückten verstanden wird, impliziert dies einen gesellschaftlichen Prozess, der sich im Staat zwar niederschlägt, aber gleichzeitig auch gegen diesen (d.i. gegen das ‚Regiertwerden‘) richtet[6].

Wright hat Emanzipation in diesem Sinne als eine Ermächtigung der Gesellschaft gegenüber Staat und Kapital definiert[7]. Er kritisiert die anarchistische Vorstellung des Staates als externer Struktur und greift stattdessen auf die Poulantzassche Definition der „Verdichtung von Kräfteverhältnissen“ zurück. In diesem Sinne könnte man behaupten, dass auch über eine „Dialektik“ zwischen der Veränderung staatlich-institutioneller Arrangements und antistaatlicher, gesellschaftlicher Ermächtigung von unten (die auf einen Moment von Unregierbarkeit und konstituierender Macht abzielt) nachgedacht werden muss.

Doch wie könnte eine derartige Strategie aussehen? Wie könnten politischer Bruch, die stille, interstitiale (Nischen-) Veränderung des Alltags und ergebnisorientierte Reform produktiv in Verbindung gesetzt werden? Wie könnte eine Praxis aussehen, die sich die Veränderung rechtlicher Arrangements im Staat zum Ziel setzt, gleichzeitig aber auch gesellschaftliche Machtalternativen zum Staat artikuliert? Wie könnte ein Reformismus funktionieren, der nicht in der Anpassung an die Machtverhältnisse mündet?

Ein Fallbeispiel, an dem sich dieses Problem meiner Ansicht nach erörtern lässt, ist die brasilianische Landlosenbewegung Movimento de Trabalhadores Rurais Sem Terra. Die MST trat erstmals 1984 unter diesem Namen in Erscheinung. Einer ihr Mitbegründer, der aus einer Bauernfamilie stammende Ökonom Joao Pedro Stédile (2002), beschreibt die Bewegung als Ergebnis von drei sich überlagernden Prozessen: 1) Durch die ökonomische Krise der 1970er Jahre sei die städtische Arbeitslosigkeit in Brasilien angestiegen und der Landbevölkerung die Möglichkeit genommen worden, sich der Armut durch Landflucht zu entziehen. 2) Der befreiungstheologische Flügel der Amtskirche habe sich der Landfrage angenommen und die Organisierung von Landarbeitern vorangetrieben. 3) Durch die Militärdiktatur seien soziale Konflikte fast zwangsläufig politisch aufgeladen und in einen größeren Zusammenhang gesetzt worden.

Schon diese Skizze verweist darauf, dass die MST ein Hybrid darstellt (zur Darstellung vgl. auch: Calcagnotto 2003, Carter 2009; kritisch: Käss 2007, Navarro 2002 und 2010). In ihr verknüpfen sich die kulturellen Identitäten und Kampftraditionen der Landarbeiterschaft mit einer linkskatholischen, häufig auch befreiungspädagogischen Praxis[8] und einer klassischen marxistisch-leninistischen Kaderpolitik. Trotz (oder eben auch wegen) dieser Mehrdeutigkeit ist die MST eine recht erfolgreiche Bewegung. Nach Angaben von Stédile sind 350.000 brasilianische Familien im Rahmen von MST-Aktionen zu Land gekommen. Selbst wenn diese Zahlen, wie Navarro (2010) behauptet, viel zu hoch sein sollten, so steht doch außer Zweifel, dass das, was es in Brasilien seit den 1980er Jahren an Landreform gegeben hat, maßgeblich auf den politischen Druck der MST zurückzuführen ist. Darüber hinaus hat es die Bewegung verstanden, sich als politischer Akteur Gehör zu verschaffen, ohne vom politisch-repräsentativen System aufgesaugt werden. Und nicht zuletzt zeugen drei Jahrzehnte MST-Geschichte für eine bemerkenswerte Kontinuität.

Wie ist dieser relative Erfolg zu erklären? Carter (2009: 9-12) führt ihn auf sieben Faktoren zurück: 1) Die MST messe der (direkten) Aktion zentrale Bedeutung bei und habe auf diese Weise Millionen von Menschen mobilisiert. 2) Sie besitze eine große Fähigkeit, Praxisformen (etwa die Landbesetzungen oder den Aufbau von Agrargenossenschaften) immer wieder neu zu erfinden und an die bestehenden Verhältnisse anzupassen. 3) Die MST habe sich kaum institutionalisiert: Ihre Aktionen beruhten fast ausschließlich auf Freiwilligenarbeit; auch ihre Anführer lebten in Besetzungen und hätten dementsprechend die Anbindung an die Basis und deren soziale Realität nicht verloren. 4) Die Bewegung lege großes Gewicht auf Bildungsarbeit: Die MST unterhält 1800 Grund- und Sekundarschulen, verfügt mit der Escola Nacional Florestan Fernandes seit 2005 über eine eigene Universität (auf der Aktivisten aus ganz Lateinamerika zusammenkommen), und hat viele Hundert politische Workshops für ihre Mitglieder organisiert. Diese Bildungsarbeit ist befreiungspädagogischen Prinzipien verpflichtet, denen zufolge es nicht nur um die Vermittlung von Wissen, sondern um die eigenständige und kollektive Artikulation subalterner Lebensrealitäten geht. 5) Die MST habe ein dichtes Netz von politischen und institutionellen Verbindungen aufgebaut: Trotz ihrer zeitweise scharfen Regierungskritik kooperiert sie eng mit der Agrarreformbehörde INCRA und dem Bildungsministerium. Darüber hinaus pflegt sie gute Kontakte zu internationalen NGOs und den brasilianischen Kirchen. 6) Für eine Basisorganisation verfüge die MST über eine vergleichsweise gute finanzielle Ausstattung: Durch Kooperationsverträge mit dem Staat (z.B. bei der Unterhaltung von Schulen), die Unterstützung durch NGOs und Kirchen sowie die MST-eigenen Produktions- und Vermarktungsgenossenschaften verfügt sie über relativ gesicherte Ressourcen. 7) Die MST zeichne sich durch eine starke politische und ideologische Mobilisierung der Anhängerschaft aus. Carter benützt in diesem Zusammenhang den Begriff der „politischen Mystik“ (mística). Damit ist keine transzendentale Esoterik gemeint, wie der Begriff im Deutschen nahelegt, sondern die Existenz eines stark idealisierten, ethisch-sozialen Kodex, der die Herausbildung einer kollektiven Identität fördert.

Carter betont weiterhin, dass die MST auf sehr unterschiedliche strategische und taktische Mittel zurückgreift, die sich auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen: Einerseits hebt sie den antagonistischen Charakter der Klassenverhältnisse hervor und betont die Notwendigkeit des offenen Konflikts, was sich in der Parole „a gente tem que lutar“ (frei übersetzt: ‚man muss sich die Dinge erkämpfen‘) und in gezielten Gesetzesübertretungen niederschlägt. In diesem Sinne sind MST-Aktionen fast immer mit Rechtsbrüchen, wie Besetzungen, Straßenblockaden, Sabotageaktionen gegen gentechnisch manipulierte Pflanzungenverbunden. Gleichzeitig zielen diese Mobilisierungen jedoch – durchaus reformistisch – auf konkrete Ergebnisse ab. Man will Eigentumstitel für Ländereien erhalten, rechtlich-institutionelle Arrangements modifizieren oder das Vordringen agrarindustrieller Produktionsmethoden stoppen. Carter spricht in diesem Sinne von einer ganze Palette von Mitteln aus „öffentlichem Aktivismus, Taktiken des zivilen Ungehorsams, Verhandlungen und Lobbyarbeit bei öffentlichen Autoritäten, gesellschaftlich-korporatischen Vereinbarungen, Unterstützung von Kandidaten bei Wahlen und einer komplexen Beziehung zum Rechtssystem“ (ebda: 16). In anderen Worten: Die MST bricht das Gesetz, das sie als Rechtsform der Klassenherrschaft kritisiert, versucht gleichzeitig aber auch, rechtlich-institutionelle Arrangements über politischen Druck zu verändern und mit eigenen Anliegen vor Gericht Recht zu bekommen.

Meine These wäre nun, dass die MST gerade aufgrund ihres auf den ersten Blick widersprüchlichen Vorgehens ein strategisches Projekt entwickelt konnte. Die Bewegung ist seit ihren Anfängen ein Hybrid: Sie entstand als Bewegung für die Agrarreform, war gleichzeitig aber auch Ausdruck des radikalen Flügels der Demokratisierungsbewegung; sie konstituierte sich als soziale Bewegung (und eben nicht als Partei oder Gewerkschaft mit institutionalisierten Führungsstrukturen), übernahm aber dennoch schnell die Rolle als eine der wichtigsten politischen Stimmen außerhalb des parlamentarischen Systems. Sie ist als dezentrale, basisorientierte Organisation strukturiert, gleichzeitig sind informelle Hierarchien und traditionelle Kaderpraxis aber nicht aufgehoben[9]. Sie verfolgt eine ergebnisorientierte Politik, vertritt aber klar antikapitalistische Positionen und kritisiert die weltmarktorientierte Entwicklungsstrategie der regierenden PT (Partido dos Trabalhadores). Obwohl sie eine sozialistische Ausrichtung der Agrarpolitik propagiert, geht sie über klassisch-sozialistische Positionen hinaus: Ihre Aktionen richten sich nicht nur gegen die Eigentumsverhältnisse, sondern gegen den Gehalt der Entwicklungs- und Modernisierungspolitik selbst. Und nicht zuletzt ist auch das Verhältnis zur regierenden PT auf produktive Weise mehrdeutig geblieben: Die MST befindet sich in zentralen Fragen in Opposition zur Regierung, unterstützt aber doch immer wieder die PT bei den Wahlen.

Mit dieser Strategie ist es der MST gelungen, sich auch nach 30 Jahren den Dynamiken zu entziehen, denen politische und soziale Bewegungen gewöhnlich unterworfen sind. Normalerweise nämlich gibt es für Bewegungen nur zwei Entwicklungsszenarien: Entweder sie unterwerfen sich Institutionalisierungsprozessen, in denen sich Führungsgruppen professionalisieren und dabei, wie es der Parteiensoziologe Robert Michels (1911) Anfang des 20. Jahrhunderts an der deutschen Arbeiterbewegung beobachtete, als Oligarchien von der politischen Basis absetzen. Oder aber sie verlieren ihre Breitenwirkung, isolieren sich und ritualisieren ihre Praxis. Die MST ist beiden Gefahren fast 30 Jahre lang erfolgreich aus dem Weg gegangen: Die Betonung von Massenmobilisierung, direkter Aktion, einer kämpferischen, kollektiven Subjektivität, die (von Navarro 2010 und anderen als „Semi-Klandestinität“ des MST so scharf kritisierte) Nicht-Institutionalisierung der Strukturen und nicht zuletzt wohl auch die von der Befreiungstheologie betonte Frage einer radikalen politischen Ethik haben einen Anpassungsprozess verhindert, wie ihn die brasilianischen Gewerkschaften oder die Arbeiterpartei (PT) im gleichen Zeitraum durchliefen. Im Unterschied zu vielen anderen sozialen Bewegungen kann die MST aber auch auf Kontinuität und konkrete Erfolge ihrer Politik verweisen. Radikale Kritik steht bei ihr nicht im Widerspruch zu einer konkreten gestalterischen Praxis. Dabei ermöglicht die MST nicht nur Bildungs- und Organisationserfahrungen oder bringt ein politisches Thema in die Öffentlichkeit – was auch soziale Bewegungen in Deutschland von sich behaupten können. Sie hat auf ihrem Tätigkeitsfeld auch einen strategischen Ermächtigungsprozess in Gang gesetzt: Sie hat Regierungen zu Landreformprogrammen gezwungen, die Eigentumsmacht der Landeliten beschnitten, Produktionsmittel angeeignet und – was mir besonders bemerkenswert erscheint – eigene Produktions- und Vermarktungsstrukturen geschaffen, in denen Umrisse eines alternativen Entwicklungskonzepts (d.h. einer weniger kapitalisierten, ökologischeren Landwirtschaft) sichtbar werden.

Mit dieser Bewertung geht es mir nicht darum, die MST zu idealisieren. Einiges von der Kritik, wie sie Navarro (2002 und 2010) formuliert, trifft sicherlich zu: Es mag stimmen, dass die Kaderpraxis in der MST in einem Widerspruch zur direktdemokratischen Rhetorik steht, die Analyse der kapitalistischen Globalisierung bisweilen oberflächlich bleibt oder die Widersprüche zwischen Staatskritik und PT-Unterstützung letztlich eskalieren müssen. Insofern taugt die MST – so wenig wie alle real existierenden Bewegungen – nicht als Modell. Und doch ist bemerkenswert, dass es ihr so lange gelungen ist, sich dem Dilemma ‚Institutionalisierung oder Marginalisierung‘ zu widersetzen.

Dass vergleichbare Ansätze auch im europäischen Kontext zu finden sind, zeigt ein zweites, allerdings sehr lokales Beispiel: die andalusische Landarbeitergemeinde Marinaleda. Im Zusammenhang mit der spanischen Hypothekenkrise ist von der knapp 3000 Einwohner zählenden Ortschaft bei Sevilla wieder häufiger die Rede gewesen. Aufgrund des gemeinwirtschaftlich-kommunalen Wohnungsbaus ist Marinaleda einer der wenigen Orte Spaniens, der nicht von Zwangsräumungen betroffen ist. Außerdem haben sich Bewohner Marinaledas federführend an den Krisenprotesten der letzten Monate beteiligt. Der Bürgermeister der Gemeinde wurde im August 2012 medienwirksam bei der öffentlichen Plünderung eines Supermarkts verhaftet.[10]

Die jüngere Geschichte des Ortes ist eng verknüpft mit den Landarbeiterkämpfen in der Region. Im Süden Spaniens prägt feudaler Großgrundbesitz nach wie vor die Sozialstrukturen. Die Not der Tagelöhner setzte in Marinaleda in den 1970er Jahren eine Mobilisierung in Gang, die im Prinzip bis heute andauert (vgl. Talego 1995 und 1996). Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung organisierte sich in der Landarbeitergewerkschaft SOC (Sindicato de Obreros del Campo), aus der 1979 die Wahlliste Candidatura Unitaria de Trabajadores (CUT) hervorging.[11] Unter Führung des Landarbeiteraktivisten Juan Manuel Sánchez Gordillo, seit 1979 Bürgermeister der Gemeinde und 1994-2000 sowie seit 2008 Abgeordneter der Linkspartei Izquierda Unida im andalusischen Parlament, hat sich Marinaleda in ein Arbeits- und Lebensprojekt verwandelt.

Ausgangspunkt dafür waren zunächst die Aneignungskämpfe der Landarbeiter. Mit Hungerstreiks, Straßenblockaden, politischen Petitionen und Besetzungen kämpften sie in den 1980er Jahren für eine Agrarreform und konzentrierten ihre Anstrengungen schließlich auf die Finca Los Humosos (auch: El Humoso), damals noch im Besitz des Herzogs von Infantazgo. Im Vorfeld der EXPO 1992 in Sevilla konnten die Tagelöhner so großen Druck aufbauen, dass die sozialdemokratische Regionalregierung dem Herzog schließlich 1200 Hektar Land (zum Marktpreis) abkaufte und den Besetzern dauerhaft zur Verfügung stellte. Die Landarbeiter beschränkten sich jedoch nicht auf den Aneignungskampf, sondern setzten gleichzeitig eine Strategie konkreter Reformen in Gang. Im Rahmen eines Wohnungsbauprogramms, der so genannten „Selbstbauhäuser“ (vgl. Mateo i Puente 2011: 22-26) [12], wurden 350 Häuser errichtet, deren Einheitsmiete bei 15 Euro im Monat liegt. Das Modell ist so einfach wie überzeugend: Die Gemeinde stellt das Bauland zur Nutzung kostenlos zur Verfügung, die Nutznießer des Programms beteiligen sich im Rahmen von Nachbarschaftshilfe am Bau (oder bezahlen den Einsatz einer sie ersetzenden Arbeitskraft), die Baumaterialien können dank staatlicher Wohnungsbaukredite langfristig abgezahlt werden. Die Vergabe der Häuser, die über eine Wohnfläche von 90 qm sowie 100 qm große Gärten verfügen, erfolgt durch die Vollversammlung der Anwohner und anhand von Wartelisten. Da Bedürftige (z.B. Familien mit Kindern) auf der Liste vorrücken, weiß während des Baus niemand sicher, welches Haus er letztlich beziehen wird (vgl. Mateo i Puente: 22-24).

Erfolgreich scheint auch die Produktionsgenossenschaft von Marinaleda[13] zu sein, die Gemüse anbaut und die Produkte (Artischocken, Paprika, Oliven etc.) in einer eigenen Konservenfabrik weiterverarbeitet. Mit 400 Angestellten ist die Kooperative der wichtigste Arbeitgeber der Gemeinde. Die Löhne sind mit 1.100 Euro für eine 35-Stundenwoche zwar (ortsüblich) niedrig[14], doch die Kooperative sorgt für Vollbeschäftigung in der Gemeinde. Zudem sind die öffentlichen Leistungen in Marinaleda unschlagbar günstig: Ein Kindergartenplatz kostet 12 Euro im Monat, die Jahreskarte für das kommunale Schwimmbad 3 Euro im Jahr.

Verwaltet wird dieses Projekt, bei dem Gemeinde, Produktionsgenossenschaft und politische Bewegung verbunden sind, durch Vollversammlungen. Die Asamblea wird als politischer Souverän und Ausdruck direkter Demokratie begriffen. Ähnlich wie bei der MST ist diese basisdemokratische Praxis auch im Fall Marinaledas nicht frei von Widersprüchen: Talego (1995 und 1996) hat die Gemeinde von Marinaleda eher als populistisch-dauermobilisierte Gemeinschaft denn als ‚Assoziation von Freien und Gleichen‘ beschrieben. Der Bürgermeister und Gewerkschaftsführer Juan Manuel Sánchez sei eine zentrale Machtfigur und entscheide faktisch darüber, was auf Vollversammlungen diskutiert werde. Zudem gäbe es eine starke Ausgrenzungsrhetorik gegenüber Gegnern des Projekts.

Der Einwand ist plausibel und doch nicht wirklich überzeugend: Eine radikale Veränderung des Alltags, wie sie in Marinaleda stattgefunden hat, ist ohne massive Mobilisierung der Gemeinschaft nicht denkbar, und die Geschichte sozialer Bewegungen zeigt auch, dass Führungspersonen in Mobilisierungen immer eine zentrale Rolle spielen.

Dennoch bleibt richtig, dass Marinaleda nicht als romantisches Utopia zu missverstehen ist: Mateo i Puente (2011: 110-112) schreibt in ihrer Feldstudie, dass trotz des Gemeinschaftsdiskurses viele junge Genossenschafter eher aus Nutzabwägung denn aus Überzeugung in der Kooperative tätig seien. Und bürgerliche Journalisten schließlich attackieren die Landarbeitergemeinde als „kommunistischen Themenpark“[15], der am Tropf der Subventionen hänge. Tatsächlich scheint Marinaleda stärker von öffentlichen Transferleistungen zu profitieren als vergleichbar große Gemeinden in der Provinz Sevilla.[16] Doch diese Einwände bleiben vergleichsweise schwach: Es liegt auf der Hand, dass Experimente wie Marinaleda nicht End-, sondern bestenfalls Ausgangspunkt einer radikalen Demokratisierung sein können. Die Tatsache, dass junge Landarbeiter aus einer Nutzabwägung (und nicht aus ideologischen Gründen) in der Genossenschaft arbeiten, verweist darauf, dass Marinaleda trotz nachteilhafter ökonomischer Rahmenbedingungen, nämlich der internationalen Billiglohnkonkurrenz, Lebens-und Arbeitsbedingungen konkret verbessert hat. Und der giftige Hinweis auf den „kommunistischen Themenpark“ schließlich ironisiert sich selbst: Wenn mit einer Million Euro zusätzlicher Förderung (d.h. Umverteilung) pro Jahr Vollbeschäftigung, öffentliche Grundleistungen und praktisch kostenloser Wohnraum für 3000 Menschen finanziert werden können (auf die spanische Gesamtbevölkerung hochgerechnet wären das 2 Milliarden Euro, eine recht überschaubare Summe), dann scheint „der Kommunismus“ ein leicht zu finanzierendes Vorhaben zu sein.

Vom „radikalen Reformismus“ zur produzierenden politischen Bewegung

Die in diesem Text geschilderten Beispiele dürfen nicht überbewertet werden. Es ist für politische Debatte nicht hilfreich, konkrete Praxis mit Ansprüchen und Hoffnungen zu überfrachten. Und es ist auch richtig, dass sich die hier dargestellten Beispiele nicht einfach in andere Kontexte übertragen lassen.

Mit ihrer Schilderung geht es mir um etwas anderes, nämlich: 1) Vor dem Hintergrund, dass sich die politischen Gewissheiten des 20. Jahrhunderts verflüchtigt haben, scheint es mir produktiv, ein größeres Interesse für periphere, teilweise auch marginale Politik- und Organisationsformen zu entwickeln. Die bäuerlichen oder indigenen Aneignungskämpfe von Land scheinen mir ein Beispiel dafür zu sein, wie sich antikapitalistische Politik jenseits großer Theoriedebatten konkret weiterentwickelt hat und sich neue strategische Möglichkeiten eröffnen lassen. 2) Das Territorium erlangt aus zweierlei Gründen besondere Bedeutung: Zum einen, weil die Raumdimension des Kapitals, der spatial fix, wie er Harvey bei genannt wird, neue Bedeutung erlangt. Zum anderen aber auch, weil Bewegungen, die sich gegen die Erschließung ihrer Lebenswelten zur Welt setzen, aus ihrer Territorialität heraus agieren. Die deutsche Vermutung, jeder Bezug auf Land und die bestehende Gemeinschaft müsse zwangsläufig eine Blut- und Boden-Mentalität münden, ist dabei offensichtlich falsch. 3) Die in diesem Artikel geschilderten Kämpfe von Landlosen liefern Antworten auf die Frage, wie sich Transformationsstrategien andersartig miteinander verbinden lassen. Hirsch (2013) spricht –ähnlich wie Erik Olin Wright   – von der Notwendigkeit eines „radikalen Reformismus“, also  einer radikalen Governance von unten: Soziale oder populare Bewegungen könnten und sollten, so Hirsch, auch aus einer radikalen Opposition gegen Herrschaftsverhältnisse heraus eine ‚reformistische‘ Praxis entfalten, um die Verhältnisse emanzipatorisch umzuschreiben und gegenhegemoniale Prozesse in Gang zu setzen. Wenn diese gegenhegemoniale Strategie aus einer Opposition zu den Verhältnissen entwickelt wird, könnte, so die Hoffnung von Hirsch (die ich teile), verhindert werden, dass Bewegungen von Institutionen assimiliert werden. Die geschilderten Beispiele scheinen mir einen Hinweis darauf zu liefern, dass das in der Praxis funktionieren und strategisch gezielt vorangetrieben werden kann. Zudem zeigen die Erfahrungen von MST und Marinaleda, dass auch das Problem der ökonomischen Vergesellschaftung[17] durch den Aufbau von Produktions- und Vermarktungsgenossenschaften erfolgversprechend in Gang gesetzt werden kann. Sowohl die MST als auch die Gemeinde von Marinaleda sind sozusagen produzierende, politisch-soziale Bewegungen – wobei die politische Anbindung dem auf Genossenschaften wirkenden Anpassungsdruck entgegenwirkt. Es ist sicher richtig, dass vergleichbare Ansätze auch an anderen Orten und zu anderen Zeiten entwickelt worden sind. Doch genau darum müsste es meiner Ansicht nachgehen: Die Verbindung von antikapitalistischer Opposition, transformatorisch-reformerischer Praxis und alternativen ökonomischen Formen als eine – in Ansätzen bereits vorhandene – Aneignungsstrategie sichtbar zu machen und auszubauen.

Literatur:

Antillano, Andrés (2013): Von der Demokratie der Straße zu den Consejos Comunales, in: Zelik, Raul / Tauss Aaron: Andere mögliche Welten, S. 29-47, VSA-Verlag: Hamburg

Calcagnotto, Gilberto (2003): Die brasilianische Landlosenbewegung MST

und die Regierung Lula: Zwischen Partnerschaft und Konfrontation, in: Brennpunkt Lateinamerika Nr. 19/2003, S. 191-201, Hamburg

Carter, Miguel (2009): The landless rural workers’ movement (MST) and democracy in Brazil, University of Oxford: Working Paper Number CBS-60-05, http://www.lac.ox.ac.uk/sites/sias/files/documents/Miguel%2520Carter%252060.pdf, 11.1.2013

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[1] In den großen lateinamerikanischen Flächenstaaten liegt der Anteil der Landbevölkerung heute bei unter 20%: in Brasilien bei 15%, in Chile bei 12%, in Argentinien bei 7%, in Kolumbien und Mexiko bei etwa 20%. Vgl. CEPAL (2012): Anuario Estatístico, Capítulo 1.1.11, http://websie.eclac.cl/anuario_estadistico/anuario_2011/esp/content_es.asp, 21.2.2013.

[2] Die Finanzialisierung des Kapitalismus ist dabei nicht einfach als Fehlentwicklung oder neoliberale Entmachtung des Staates zu verstehen. Panitch / Gindin (2012) haben überzeugend nachgezeichnet, das die Finanzialisierung von der US-Regierung selbst – und zwar nicht erst unter den Republikanern, sondern bereits ab 1979 unter dem Demokraten Jimmy Carter – in Gang gesetzt wurde. Da sich mit produktiven Investitionen tendenziell immer weniger Profit erzielen ließ, deregulierte die US-Administration die Finanzmärkte und ebnete damit dem bis heute andauernden Finanzialisierungs- und Spekulationszyklus den Weg.

[3] Zizek behauptet, dass sich der Populismus mit diesem Begriff und durch die Konstruktion eines aus dem ‚Volk‘ ausgeschlossenen „Anderen“ antisemitischer oder rassistischer Diskursfiguren bedient. Laclau widerspricht dem: Zwar hält er Ein- und Ausgrenzung tatsächlich konstituierend für ein populares Kollektiv (‚wir gehören zusammen, weil wir einen gemeinsam Gegner haben, nämlich die Oligarchie ‘), diese Ausgrenzung habe aber noch nichts mit völkischem Denken zu tun. Wenn das Kollektiv ‚Volk‘ über einen Diskurs der Subalternität konstruiert wird, könne es ganz im Gegenteil eine antirassistische Bedeutung erhalten. Die neueren popularen Bewegungen in Lateinamerika scheinen Laclaus These zu bestätigen. Zudem ist Laclaus sprachtheoretisches Argument nicht von der Hand zu weisen: Sprache und begriffliches Denken sind über Ein- und Ausgrenzung bestimmt. Die Bedeutung eines Wortes oder Begriffs ergibt sich daraus, was es oder er nicht bedeutet. Äquivalenz und Differenz stehen also zwangsläufig in Verbindung zueinander.

[4] Der Stadtteilaktivist Andrés Antillano (2013) hat das in einem lesenswerten Text auf die schon oben skizzierte Veränderung im Kapitalismus zurückgeführt. Die kapitalistische Aneignung habe sich mit der Krise in den 1970er Jahren teilweise aus dem Produktionsverhältnis heraus verlagert und erstrecke sich zunehmend auf alle Bereiche der gesellschaftlichen Existenz, v.a. auch den Wohnraum. Dadurch erlange das Territorium in der Klassenauseinandersetzung zentrale Bedeutung.

[5] Wenn beispielswese afrokolumbianische Gemeinschaften weit von ihren Dörfern entferntes Land bestellen, ist der unmittelbare Nutzen gering: Es müssen weite Wege zurückgelegt werden, obwohl nur wenig Ertrag erwirtschaftet hatwird. Hier handelt es sich also offensichtlich um eine Ökonomie, die nicht nur Kosten-Nutzen-Rechnungen, sondern z.B. auch Territorialität und Sozialbeziehungen im Blick hat.

[6] Joachim Hirsch (2013) bezeichnet ein solches Vorgehen als „radikalen Reformismus“: Gesellschaftliche Kämpfe und gegenhegemonialer Druck erzwingen ‚reformistische‘ Modifikationen in der Staatlichkeit, ohne dass die Bewegungen, die diesen Druck aufbauen, sich institutionell absorbieren lassen.

[7] Der Begriff ‚Gesellschaft‘ bringt – ganz ähnlich wie die normativ verwendete ‚Zivilgesellschaft‘ – eine neue Unschärfe mit sich: Auch Klu-Klux-Klan oder neoliberale Unternehmerverbände sind Teil der (Zivil-) Gesellschaft. Bei einem emanzipatorischen Projekt geht es deshalb nicht nur um eine Ermächtigung der Gesellschaft, sondern auch um die Durchsetzung egalitärer, demokratisierender Projekte in ihr selbst.

[8] Befreiungstheologie und Befreiungspädagogik stellten nicht nur die sozialen Verhältnisse, sondern auch die Beziehungen zwischen politischen ‚Kadern‘ und Basis in Frage und ebneten damit weniger autoritären, ‚horizontalen‘ Organisationsformen den Weg.

[9] Die sozialwissenschaftliche Kritik an der MST stützt sich häufig auf die Untersuchungen Zander Navarros (vgl. 2002 und 2010), der in den 1980er Jahren selbst mit der Landlosenbewegung zusammenarbeitete und heute als Berater des brasilianischen Landwirtschaftsministeriums tätig ist. Navarros Kritik ist einerseits  wenig überzeugend: Sein wichtigster Vorwurf läuft darauf aus, dass sich die MST nicht ins etablierte politische System eingegliedert habe, sondern sich nach wie vor als radikale Gegenbewegung zum System verstehte. Genau das lässt sich, aus der Perspektive ihrer GründerInnen, aber auch als die entscheidende Stärke der MST beschreiben. Ernster zu nehmen hingegen ist Navarros Verweis auf die Widersprüchlichkeit der Entscheidungsstrukturen in der MST: Der basisdemokratische, die Dezentralisierung betonende Diskurs werde von den informellen Hierarchien in der Bewegung konterkariert.

[10] Die bei der Aktion „erbeuteten“ Lebensmittel wurden an Bedürftige verteilt (vgl. El País 7.8.2012,  http://ccaa.elpais.com/ccaa/2012/08/07/andalucia/1344338647_871994.html, zuletzt abgerufen am 13.2.2013.

[11] Die CUT, die 9 von 11 Gemeinderatssitzen in Marinaleda stellt, ist Teil der andalusischen Izquierda Unida (Vereinigte Linke), widersetzt sich aber regelmäßig den Beschlüssen der bürokratisierten und eher linkssozialdemokratisch ausgerichteten Parteiführung.

[12] Vgl. auch das Interview mit dem Bürgermeister von Marinaleda auf dem Online-Portal Conectamed: http://www.conectamed.es/2/post/2011/04/un-oasis-inmobiliario-el-alcalde-de-marinaleda-explica-las-claves-para-salir-a-la-crisis-inmobiliaria.html, 14.2.2013.

[13] Man kann Produkte direkt im Online-Shop der Gemeinde einkaufen: http://www.cooperativamarinaleda.es.

[14] Vgl. den Wikipedia-Eintrag: http://es.wikipedia.org/wiki/Marinaleda, 13.2.2013.

[15] Vgl. http://www.elconfidencial.com/opinion/matacan/2012/08/10/si-espana-fuera-marinaleda-historia-de-una-mentira-9654/, 14.2.2013.

[16] Im spanischen Wikipedia-Eintrag wird auf einen Vergleich der Gemeindehaushalte von Martín de la Jara und Marinaleda verwiesen, der zeigt, dass die Gemeinde Marinaleda etwa 2,7 Millionen Euro Transferleistungen jährlich (gewöhnliche und Kapitaltransfers), die Vergleichsgemeinde Martín de la Jara hingegen nur etwa 1,6 Million bezieht (vgl. http://www.germes.com/cuentas-de-estado/espana/datos/12196-presupuesto-2009-2011-del-ayuntamiento-marinaleda-sevilla.html, 14.2.2013).

[17] Ein weiteres Problem sozialistischer Politik besteht darin, dass keine Einigkeit über eine erfolgversprechende Vergesellschaftungsstrategie besteht. Verstaatlichung ist – da Staatsapparate die faktische Entscheidungsmacht über die Ökonomie erhalten – als Vergesellschaftungsstrategie gescheitert, die Genossenschaftsbewegung als Vergesellschaftung „von unten“ hat sich unter dem Druck der Marktbeziehungen weitgehend entpolitisiert.

 

 

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