1976: Die Türkei ist nicht mehr zu ertragen. "Nach dem Militärputsch wurde das Theater geschlossen ... Wir wohnten im Wald in einem Holzhaus, durch die Bäume sah man das Marmara-Meer ... Im Garten hörte ich die Zucchini wachsen. Sie machten Tschttscht in der Nacht." Die Erzählerin will wieder arbeiten. Sie geht nach Berlin, um bei einem Brechtschüler zu lernen - an der Ostberliner Volksbühne, dem in dieser Hinsicht renommiertesten deutschsprachigen Theater. Weil es nicht so einfach ist, für die DDR ein Visum zu bekommen, bewegt sie sich zwischen zwei Welten. In der WG am Rande Westberlins, in einem jener Bezirke, die damals für ein paar Jahre wie ein exterritoriales Gebiet wirkten, führt man das Leben alternativer Ratlosigkeit: endlose Frühstücksrunden, ungeklärte Beziehungen, Diskutieren, zusammen Baden. Auf der anderen Seite der Grenze hingegen begegnet der Erzählerin die Stadt vor allem als Theater: Heiner Müller, Benno Besson, Matthias Langhoff. Die Erzählerin zieht zur Schauspielerin Gaby Gysi, mit der sie eine sympathisch feine Art von Freundschaft entwickelt, fertigt Probenskizzen an, wundert sich über einen Staat, dessen Spießigkeit man genauso verachtet, wie man seine Grundlagen verteidigenswert findet. Über fast zwei Jahre ziehen sich die Notizen hin. Zwei Jahre, bis Benno Besson Ostberlin verlässt, um in Paris zu inszenieren.
Pauline Boudry und andere haben die autobiographischen Texte Emine Sevgi Özdamars im vergangenen Herbst als Grundlage für ein Stück an der Berliner Volksbühne verwendet. Die Geschichte der Erzählerin ist damit an den alten Schauplatz zurückgekehrt. Tatsächlich bieten wenige Lebensläufe deutschsprachiger Schriftsteller so viel Stoff wie der Özdamars. Schon in "Das Leben ist eine Kawanserei" (1992) und "Die Brücke zum Goldenen Horn" (1998) hat die Autorin davon erzählt: von der Kindheit in der Türkei, dem Theater, der Fabrikarbeit, den Jahren der politischen Revolte. Dabei hat Özdamar sprachlich zwischen jedem Buch einen kleinen Sprung vollzogen. Waren "Das Leben ist eine Kawanserei" und "Die Brücke zum Goldenen Horn" noch voll von skurrilen Wortschöpfungen, die sich zum Teil aus dem Türkischen speisten, ist Özdamar mittlerweile beim schlichten Erzählen angelangt. Weniger schillernd, immer noch brillant und bei allen melancholischen Tönen, die anklingen, auch stets ironisch. Es gibt keinen anderen Autoren, den ich als Erzählquelle über das Berlin der 60er und 70er - ästhetisch wie inhaltlich - mehr empfehlen würde als die in der Türkei geborene deutsche Schriftstellerin.
Raul Zelik
Emine Sevgi Özdamar: "Seltsame Sterne starren zur Erde", Verlag Kiepenheuer & Witsch