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DAS ARGUMENT 288 52. JAHRGANG
HEFT 4|5 / 2010

 

Raul Zelik

Die Präsenz des Abwesenden - eine Antwort auf  Wolfgang Fritz Haug

Replik auf W.F. Haug in Argument 288 / 2010

 

Wenn ich Wolfgang Fritz Haug richtig verstehe, so kritisiert er an meinem Aufsatz in erster Linie, dass in ihm die Akteursperspektive von unten eliminiert sei. Mein Versuch, die kolumbianischen Herrschaftsverhältnisse mit Begriffen Foucaults (1977) und Agambens (2002 und 2004) zu interpretieren, verstelle den Blick auf das Wesentliche, nämlich auf politische Handlungsspielräume. Vor allem Agambens Ansatz, die staatliche Rechtordnung - mit Verweis auf Carl Schmitt - aus dem Ausnahmezustand, also aus einer entgrenzten souveränen Gewaltausübung, abzuleiten, ziehe einen undifferenzierten Machtbegriff nach sich. Der bürgerliche Normalzustand werde auf diese Weise mit Ausnahmeformen des Terrors in eins gesetzt und Macht zur „MACHT“ totalisiert.

Haug kritisiert weiterhin, dass ich von einer „Produktivität“ herrschaftlicher Gewalt spreche. Nach Foucault zeichnet sich der gouvernementale Machttypus (im Unterschied zum souveränen) dadurch aus, dass er nicht in erster Linie untersagt, sondern ermuntert, erfasst, anleitet. Ich entwickele in diesem Zusammenhang die These, dass auch die nackte, herrschaftsterroristische Gewalt eine Beteiligung von unten hervorbringen, also produktiv wirken könne. Haug bezeichnet das als euphemistische Verdrehung: „Als ‚schöpferischer Akt' beschrieben, wird noch das Bestialische geadelt.“ 

Mit beiden Einwänden bin ich in Teilen durchaus einverstanden. Haug hat Recht, dass der Ausnahmefall nicht mit der Rechtsnormalität in eins zu setzen ist. In Lateinamerika ist das vielleicht noch augenscheinlicher als in Europa: Hier haben Bewegungen in den vergangenen 30 Jahren immer wieder erbittert um die (Wieder-) Herstellung von Rechtsverhältnissen gekämpft.

Wichtig ist auch Haugs Hinweis, dass Rechtsverhältnissen immer gesellschaftliche Kompromisse eingeschrieben sind. Poulantzas Beschreibung des Staates als ‚Verdichtung von Kräfteverhältnissen' gilt auch in diesem Zusammenhang. Die neuen Verfassungen, die zuletzt in Venezuela, Ecuador und Bolivien verabschiedet wurden (vgl. Ortiz / Oviedo 2009) (aber auch die unter ganz andere Vorzeichen zustande gekommene kolumbianische Verfassung von 1991) sind in diesem Sinne als Ausdruck einer Verschiebung von Kräfteverhältnissen und als strategischer Ansatzpunkt zur Verschiebung derselben zu verstehen1. Die erarbeiteten Verfassungen stellen Kompromisse dar; ihre Auslegung und Umsetzung bleibt umkämpft.

Und schließlich teile ich auch Haugs Einwand gegen die Benjamin-Interpretation Agambens. Die düstere Projektion eines globalen Ausnahmezustands bedient sich Benjaminscher Bilder, die unter anderen, viel dunkleren Voraussetzungen entstanden. Der globale War on Terror hat - trotz geheimer Folterzentren, Entführungsnetzwerke und staatlicher Todesschwadronen2 - nichts mit der sich ausdehnenden nationalsozialistischen Herrschaft von 1940 zu tun. Die politische Apokalypse war für Benjamin konkret. Agamben und andere Intellektuelle des Nordens hingegen sind von den heute drohenden Verhältnissen nicht selbst bedroht. Von ihnen steht keiner auf den Entführungslisten westlicher Geheimdienste. Das macht einen gewaltigen Unterschied aus.

Nicht einleuchtend finde ich hingegen Haugs politische Einordnung Agambens. Mir ist nicht nachvollziehbar, warum „Agambens Überbietung des foucaultschen Machtbegriffs“ zur Ausbreitung faschistischer Theorien beitragen soll. Sicher wertet Agambens Bezug auf Carl Schmitt letzteren auf. Doch den italienischen Benjamin-Herausgeber - als Kritiker der Herrschaftsgewalt - für die Renaissance des Schmittianismus verantwortlich zu machen, ist maßlos übertrieben. Der Giftschrank des Carl Schmitt stand schon vor Agamben wieder sperrangelweit offen. Oder subjektiv argumentiert: Mir hat die Agamben-Lektüre vor allem den kritischen Blick auf die verborgenen Verbindungslinien zwischen bürgerlicher Ordnung und herrschaftlichem Terror geschärft.  

Hegemoniekrise und -kämpfe in Kolumbien

Vermutlich trägt es jedoch zur Klärung unserer Positionen mehr bei, wenn ich konkret darstelle, warum ich überhaupt diesen theoretischen Zugang für meinen Aufsatz gewählt habe.

Um den kolumbianischen Paramilitarismus zu verstehen, habe ich vor einigen Jahren angefangen, dieses Gewaltphänomen vor unterschiedlichen theoretischen Folien neu zu lesen, und in diesem Zusammenhang vor allem auf Poulantzas, Foucault und Agamben zurückgegriffen. Ich habe das auch deshalb getan, weil ich den Eindruck hatte, die Entwicklung in Kolumbien mit meinen (von Marx und Gramsci kommenden) Begriffen nicht mehr befriedigend erklären zu können. Dabei steht, wenn man so will, am Anfang der jüngeren kolumbianischen Geschichte eine klassische Legitimations- und Hegemoniekrise.

Ende der 1970er Jahre verschärften sich in dem südamerikanischen die sozialen Auseinandersetzungen: In Armenvierteln und unter Arbeitern, Landlosen, Kleinbauern und ethnischen Minderheiten entstanden neue soziale Bewegungen. Aus Mittelamerika wehte der Wind der nicaraguanischen Revolution herüber, und in Kolumbien selbst ging die populistisch-bolivarianische M-19-Guerilla zu spektakulären Aktionen in den Großstädten über. Eine vorrevolutionäre Situation schien sich abzuzeichnen. Erst mit dem Zusammenbruch des realsozialistischen Lagers, der Demobilisierung mehrerer kolumbianischer Guerillas und der Verfassungsreform von 1991 änderte sich die Lage.

Gramscis Hegemoniekonzept war zu diesem Zeitpunkt in Kolumbien durchaus präsent. Das von US-Konservativen verfasste Santa-Fe-II-Dokument (Comité de Santa Fe 1989) 3, das unter der Linken Land breite Beachtung fand, nahm explizit Bezug auf Gramsci und sprach von einer subversiven Durchsetzung der lateinamerikanischen Zivilgesellschaft, der es mit einer antirevolutionären, politisch-kulturellen Mobilmachung zu begegnen gelte.

Da Haug meinem Aufsatz vorwirft, die Rolle der FARC in der kolumbianischen Konfliktdynamik zu ignorieren4, gilt es hier etwas weiter ausholen: Die sowjetmarxistische Strömung, die Haug in seiner Replik erwähnt und zu der neben der FARC die KP, die Linkspartei Unión Patriótica und Teile von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen gehörten, war Ende der 1980er Jahre nur eine von mindestens sieben relevanten Strömungen der kolumbianischen Linken. Daneben existierten camilistische (=befreiungstheologisch-guevaristische), maoistische, linkspopulistische, trotzkistische, linkssozialistische und indigene bzw. afrokolumbianische Organisationen.5

Kommunistische Partei und FARC verfolgten bis 1991 eine Strategie der so genannten „Kombination der Kampfformen“. Diese zielte nicht auf eine bewaffnete Machtübernahme ab, sondern darauf, die Eliten mit unterschiedlichen Mitteln zu einer Einbindung der Linken und zu einer Regierung der nationalen Einheit zu bewegen6. Vor diesem Hintergrund kam es 1984 zu einem Waffenstillstand mit der Regierung Betancur und zur Gründung der Linkspartei Unión Patriótica. Wenn man so will, kann man also von einer klassischen Hegemoniestrategie sprechen - allerdings unter autoritären und teilweise auch stalinistischen Vorzeichen. Das Hauptaugenmerk der sowjetmarxistischen Linken lag auf der Ausdehnung von Gegenmacht in den Gemeindeparlamenten, in den (als Transmissionsriemen verstandenen) sozialen Bewegungen und nicht zuletzt im Staat selbst. Dieses Hegemonieprojekt wurde jedoch in der Folgezeit gewalttätig zerschlagen. Zwischen 1985 und 1993 fiel die Unión Patriótica als sichtbarster Träger dieses Projekts einem - von den staatlichen Sicherheitsorganen und Teilen der Eliten - konzertierten schmutzigen Krieg zum Opfer. Mehr als 3000 Parteimitglieder, darunter alle Präsidentschaftskandidaten, wurden von Todesschwadronen ermordet.

Hegemoniestrategische Überlegungen artikulierten sich im gleichen Zeitraum aber auch in anderen Teilen der Linken. Im akademisch-politischen Kontext spielte dabei der Soziologieprofessor Orlando Fals Borda eine wichtige Rolle. Fals Borda hatte in den 1960er Jahren die Methode „Investigación-Acción Participativa“ entwickelt, eine qualitative Forschungsmethode, die zur Organisierung der Unterschicht und zur Transformation der sozialen Verhältnisse beitragen soll. Dieser akademische Ansatz fand in einer Basisarbeit ihren Ausdruck, die zur Selbstermächtigung von Gemeinden beitrug und alternative Machtstrukturen schuf.

Aber auch im Kosmos der Guerillaorganisationen reiften ähnliche Konzepte heran. So stellte die ELN-Guerilla nach schweren Niederlagen in den 1980er Jahren ihr insurrektionalistisches Revolutionskonzept zur Disposition. Beeinflusst von der Befreiungspädagogik Paulo Freires und von einem gramscianischen Hegemoniekonzept erklärte die Organisation 1989 den Aufbau von „Volksmacht“ zum zentralen Anliegen. Lange vor den Zapatisten formulierte die kolumbianische ELN: „Die Macht wird nicht erobert, sie wird aufgebaut“. Alternative volksdemokratische Strukturen von unten sollten die herrschende Institutionalität in Frage stellen und somit einen sofortigen Transformationsprozess in Gang setzen. Der revolutionäre Bruch wurde nicht für überflüssig erachtet, aber seine Bedeutung gegenüber dem sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Selbstermächtigungsprozess der „clases populares“7 relativiert.

Das Scheitern alternativer Politikmodelle

Es ist also keineswegs so, dass hegemonietheoretische Ansätze in Kolumbien keine Rolle gespielt hätten. Dass diese letztlich scheiterten, hat einerseits auch mit der Fragmentierung der Linken zu tun. Noch weitaus wichtiger jedoch war die Rolle des Paramilitarismus, der die Entwicklung der politischen und sozialen Gegenbewegungen unterband. Seine Gewaltakte richteten sich nämlich nicht in erster Linie gegen die Guerilla, sondern gegen linke Basisorganisationen, sprich die radikaleren Teile der Zivilgesellschaft.

Nur vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, warum sich in den verbleibenden Guerillaorganisationen - FARC und ELN - Anfang der 1990er Jahre die Überzeugung durchsetzte, Hegemonie könne in Kolumbien nur mit Hilfe bewaffneter Macht entwickelt werden. Am deutlichsten war diese strategische Kehrtwende bei der FARC, die sich Anfang der 1990er Jahre den Aufbau einer Volksarmee zum Ziel setzte, die KP-Führung zum Weg in die Illegalität aufforderte und ihr gesamtes Handeln einer operativen Logik unterwarf, bei der es nur noch um Geldbeschaffung und militärische Erfolge ging. Doch in geringerem Maße trifft die Beobachtung auch für die ELN zu, die weiter auf eine politische Arbeit auf dem zivilgesellschaftlichen Feld setzte. Auch die ELN-Führer vertraten schließlich die Ansicht, eine breite gesellschaftliche Mobilisierung von unten könne es in Kolumbien nur geben, wenn die Guerilla eine reale Siegesperspektive besitze.

Fast ein Jahrzehnt lang schien diese These auch von der Realität bestätigt zu werden. Vor allem die FARC war mit ihrer Neuorientierung durchaus erfolgreich. Ihre Strategie lässt sich zwar als militaristisch verkürzter Stalinismus bezeichnen, doch anders als die ELN, deren Militarisierung (auch aufgrund geringerer finanzieller Mittel) schwächer ausgebildet war8, blieb die FARC gegenüber dem Paramilitarismus handlungsfähig. Sogar das politische Gewicht der FARC nahm in Gefolge der militärischen Macht zu: Die Entführung von zeitweise mehr als 500 Militärs, Unternehmern und Politikern radikalisierte zwar die städtischen Mittelschichten und ließ die Akzeptanz für den Paramilitarismus wachsen, aber gleichzeitig erschienen die FARC als faktischer Gegenstaat und damit - auf nationaler wie internationaler Ebene - als politischer Bezugspunkt. Dass den FARC während der Friedensverhandlungen unter Präsident Pastrana (1998-2002) 20.000 Quadratkilometer zur Verwaltung überlassen wurden, bedeutete eine (militärisch motivierte) Anerkennung ihrer politischen Stärke. Erst als die FARC den Verhandlungsprozess nicht für eine Repolitisierung der Öffentlichkeit nutzen konnten und als die Staatsmacht aufgrund der massiven US-Militärhilfe allmählich wieder die operative Oberhand gewann, wendete sich auch das politische Blatt.

Die Wirkung des paramilitärischen Projekts

Die Kernthese meines Artikels lautet nun, dass die Hegemonie des autoritären Projektes, wie sie sich unter Präsident Uribe herausgebildet hat, nicht ohne die Wirkung der Gewalt zu verstehen ist. Dass der Paramilitarismus die Linke mit gezielten Morden geschwächt hat, liegt auf der Hand. Auch das Geschick der Paramilitärs, ihrem Netzwerk ein politisches Gesicht zu verleihen, war von Bedeutung.9 Vor allem der AUC-Kommandant Carlos Castańo beherrschte die hegemoniestrategische Klaviatur virtuos. Auf diese Weise transformierten und reorganisierten die Paramilitärs die gesamte Zivilgesellschaft: Sie kooptierten Gewerkschaften, durchsetzten Gemeinderäte mit ihren Leuten, gründeten Nichtregierungsorganisationen und entwickelten kluge Medienstrategien.

Doch das Problem reicht darüber hinaus. Wie ich mit Verweis auf Madariaga (2006) und eigene Feldforschungen skizziert habe, ist es der autoritären, paramilitärischen Rechten gelungen, auch jene Teile der Bevölkerung - oder klassenspezifischer: auch Kleinbauern, Landlosen, Tagelöhner und Arbeiter für ihr Projekt zu gewinnen, die keinerlei Interesse an der Aufrechterhaltung und Verschärfung des soziale Status Quos haben. Die Ausgebeuteten und Marginalisierten haben die aufgeherrschte Ordnung in vielen Regionen völlig assimiliert. Hier fallen „fides und confessio, Überzeugung und öffentliche Bekundung“, anders als Haug annimmt, eben meist nicht mehr auseinander.

Nach Gramsci und Poulantzas muss Hegemonie immer auch ein „materielles Substrat“ haben, von dem Klassenallianzen zusammengehalten werden. Ich habe in meinem Aufsatz auch erwähnt, dass Romero (2005), einer der wichtigsten kolumbianischen Paramilitarismus-Forscher, in diesem Sinne von einem „Sozialpakt“ zwischen Unternehmern, Gewerkschaften, Paramilitärs und politischen Eliten spricht. Mir scheint diese These allerdings wenig überzeugend: Tatsächlich haben sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen in den paramilitärisch kontrollierten Gebieten verschlechtert. Zugegebenermaßen findet über das Gewaltunternehmertum eine materielle Einbindung statt: Die Paramilitärs sind letztlich nichts Anderes als die Gewaltstrukturen des Drogenhandels, die zu einem informellen Deal mit der Staatsmacht und den ökonomischen Eliten kamen. Als Gegenleistung für ihre (herrschaftsstabilisierende) Gewalt und für konkrete Mordaufträge konnten sie ungestraft ihren Geschäften (Drogenhandel, Schutzgelderpressung, Prostitution, Bodenspekulation etc.) nachgehen. Von dieser Kriegsmaschinerie scheinen Beträge in Höhe von mehreren Milliarden US-Dollar umgesetzt worden zu sein, Zehntausende verdingten sich hier als Gewaltsöldner.10

Diese materiell motivierte Teilnahme von einigen Zehntausend Menschen (fast alle Kleinbauern, Landlose oder Bewohner von Armenvierteln) erklärt meiner Ansicht nach aber nicht, warum darüber hinaus Millionen das autoritäre und paramilitärische Projekt aktiv assimiliert und mitgetragen haben.

An dieser Stelle komme ich schließlich zu der These, dass Hegemonie viel stärker als sozialpsychologischer Prozess zu denken ist. In Kolumbien hat das autoritäre Projekt wenig um Zustimmung geworben. Sicher haben sich die Armee, Paramilitärs und später die autoritäre Rechte um Präsident Uribe medial geschickt präsentiert und Forderungen der Unterschichten in ihren Diskurs integriert. Doch letztlich wichtiger als solche Agitations- und Überzeugungsarbeit, als materielle Angebote und das eine oder andere Sozialprogramm, war, dass die Rechte jede gesellschaftliche Alternative undenkbar macht. Von zentraler Bedeutung ist hier, dass die Gegenentwürfe nicht nur mit Gewalt ausgelöscht, sondern mit Angst besetzt wurden. Allein der Gedanke an einen anderen Zustand als den herrschenden ist mit den Bildern der Massaker belegt.

Haug hat völlig Recht, dass hier ein klassenspezifischer Blick nötig ist. Die autoritäre Hegemonie ist klassenübergreifend, wird aber von der Mittel- und Oberschicht aus ganz anderen Motiven getragen als von Kleinbauern und Plantagenarbeitern. Zu reden wäre also über die klassenspezifische Wirkung der Angst: Die Unterschichten haben sich mit einem Projekt verbündet, das sie massiv enteignete.11 Möglich war das, weil sich die Massaker ausschließlich gegen eben diese Unterschichten gerichtet haben.

Agambens Reflexionen zum Ausnahmezustand scheinen mir einen Ansatzpunkt zu liefern, wie man diesen Prozess verstehen könnte. Bei Agambens Beschreibung der Rechtsnormalität bleibt das Abwesende (die souveräne Ausnahmegewalt) stets präsent. So wie die Ausnahme zum dunklen Gravitationspunkt der Normalität wird, scheint mir auch die extreme Herrschaftsgewalt das kollektive Unterbewusstsein der kolumbianischen Unterschichten zu markieren. Ein Zusammenhang liegt eigentlich auf der Hand: Wir alle wissen aus eigener Erfahrung, wie sehr unser Denken und Bewerten auf untergründige Weise von opportunistischen Überlegungen eingegrenzt und konditioniert wird. Wie oft hört man als Sozialwissenschaftler, Journalist, politischer Akteur auf, etwas zu denken, weil man weiß oder ahnt, dass es einem Nachteile verschafft. Traumatische Gewalterfahrungen sind mit Sicherheit noch weitaus geeigneter, dieses vorbewusste Ausschalten alternativen, nichtkonformen, kritischen Denkens auszulösen. Haug erwidert nun, dass nichts geschaffen wird, wenn Menschen durch Verstümmelung das Rückgrat gebrochen wird. Ich frage hingegen, ob wir für das herrschaftliche Werben um Zustimmung nicht auch deshalb Offenheit zeigen, weil wir wissen / ahnen / uns unbewusst daran erinnern, dass uns jederzeit von den Herrschaftsverhältnissen das Rückgrat gebrochen werden kann.

Sicher: Gewalt und Hegemonie haben auch ein komplementäres Verhältnis zueinander. Doch es handelt sich darüber hinaus auch um einen Einschluss: Die Drohung des herrschaftlichen Terrorakts ist nie abwesend und formt somit ständig das hegemoniale Verhältnis. Wenn der neue kolumbianische Präsident heute versöhnliche Töne anstimmt und wir im Land fast alle erleichtert darüber sind, dann hat das auch damit zu tun, dass der „ordnende Schrecken“ (noch so ein Euphemismus, mit dem ich nicht den Schrecken adeln, sondern das Wesen der Ordnung hinterfragen will) unseren Verstand, unsere Emotionen, unser soziales und politisches Ich markiert hat.

Haug hat völlig Recht, dass bei Agamben nur Perspektivlosigkeit bleibt. Für Agamben ist der Weg der traditionellen Linken nach den Revolutionserfahrungen des 20. Jahrhunderts verstellt. Über die neue, noch zu erfindende Politik hingegen verliert er kaum ein Wort - wohl auch, um sich nicht der Lächerlichkeit preiszugeben. Politische Philosophie kann und muss mehr, und was Kolumbien angeht, liegen die Handlungsoptionen auf der Hand: Um die erzwungene Verstrickung der Opfer mit den Tätern zu überwinden und die Opfer aus ihrer Einbindung zu befreien, muss ihre Ohnmachtssituation aufgebrochen werden. Deshalb ist die Aufklärung und Verfolgung para-/ staatlicher Menschenrechtsverbrechen auch von so zentraler Bedeutung. Erst mit der sichtbaren Bestrafung der Täter und ihrer Hintermänner können die Opfer ihre verdrängte Angst erkennen und überwinden. Deshalb darf Versöhnung auch kein Ziel der so genannten transitional justice sein. Bleibt der Herrschaftsterror ungesühnt, wird das ‚normalisierte' Machtverhältnis zementiert.

Zudem geht es weiterhin um den Wiederaufbau der vom Paramilitarismus zerstörten tejidos sociales, also von lokalen, von unten geschaffenen gesellschaftlichen Strukturen. Vorstellungen und Praktiken des Alternativen, Solidarischen müssen neu entwickelt werden. Die comunidades (in Dörfern und Stadtteilen) müssen das Misstrauen brechen und wieder eigene Sprachen entwickeln.

Für die Düsternis Agambens ist keine Zeit.

Lektüre

Agamben, Giorgio (2002): Homo sacer - Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt / Main

Agamben, Giorgio (2004): Ausnahmezustand, Frankfurt / Main

Comité de Santa Fé (1989): Documento Santa Fe II - Una estrategia para América Latina en la década de 1990, Bogotá

Duncán, Gustavo (2006): Los Seńores de la Guerra. De Paramilitares, Mafiosos y Autodefensas en Colombia, Bogotá

Foucault, Michel (2004a): Geschichte der Gouvernmentalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Frankfurt / Main

Foucault, Michel (2004b): Geschichte der Gouvernmentalität II. Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt / Main

Madariaga, Patricia (2006): Matan y matan y uno sigue ahí. Control paramilitar y vida cotidiana en un pueblo de Urabá, Bogotá

Ortiz Jiménez, William / Oviedo Arévalo, Ricardo (2009): Refundación del estado nacional. Procesos constituyentes y populares en América Latina, Medellín

Romero, Mauricio (2005): Paramilitares y autodefensas 1982-2003, Bogotá 

 

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Programmierung, Umsetzung G@HServices Berlin V.V.S.

Kopfbild Freddy Sanchez Caballero / Kolumbien