Die ganze Wahrheit über den 1. Mai - veröffentlicht auf den Berliner Seiten der FAZ im Mai 2002

Da kann die SPD plakatieren, was sie will - für Kreuzberg ist der 1. Mai gar nicht so schlecht. Der Kioskbesitzer Yavuz Sevdir hat es in der Berliner Zeitung vor eineinhalb Wochen so formuliert: "Es könnte mehr solche Tage geben. Die Geschäfte laufen gut, viel besser als sonst. Ich werde dieses Jahr wohl vor allem Tabak verkaufen - der Euro, der Teuro ..."

Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe Pluspunkte: Polizei und Antifa sorgen für kostenlose Musikdarbietungen und Schwimmbadbesuche, beim Flanieren auf der Straße trifft man Nachbarn, die man "ewig nicht gesehen hat", und ganz allgemein tut das Viertel was für seine Außendarstellung. Mal ehrlich: Wer außerhalb Berlins würde sonst wissen, daß die paar vollgekackten Straßenzüge zwischen Spree und Hasenheide ‚36' heißen? Erst die jährlichen Ausschreitungen haben den Namen Kreuzberg zu einem modernen Markenzeichen gemacht - so ähnlich wie der Goldelsen-Phallus am Tiergarten auch erst durch die Love-Parade sein miefiges KaiserWilhelm-Image abstreifen konnte. Die Zugereisten auf beiden Seiten spülen Millionen in die Kassen der Imbißbudenbesitzer und Tankstellenpächter, Bekleidungsgeschäfte finden für lokalpatriotische Textilien reißenden Absatz, und ökologisch wie ökonomisch verhängnisvoller als das Techno-Theater im Tiergarten, für das Westerwelle & Co in den vergangenen Jahren ihr Herz entdeckten, ist der ganze Spaß auch nicht.

Überhaupt hat man am 1. Mai den Eindruck, nicht nur im wichtigsten, sondern auch im größten Stadtteil der Welt zu leben. Alle sind auf einmal von hier: Die Polizisten aus Göppingen, die peinlich bemüht sind, ihren Akzent zu unterdrücken (ja, Schwaben gibt es auch auf der anderen Seite!), die Boulevardpresse, die bunt und in der Ersten-Person-Plural etwas von "Schnauze voll haben" titelt, die Jugendlichen, die an den Straßensperren "beim Leben ihrer Schwester" schwören, im von der Polizei abgeriegelten Bereich zu wohnen und dringend nach Hause zu müssen - ein Notfall, der Gasherd, eine Schwangerschaft -, und natürlich auch die Heerschar selbstberufener "Szenekenner", die, genauso ritualisiert wie die Scharmützel um den Heinrichplatz selbst, jedes Jahr von neuem analysieren, daß es sich bei den Ereignissen am 1. Mai nicht etwa um eine politische Veranstaltung handele, SONDERN ...

Leider bleibt bei diesem erfreulichen Massenbekenntnis zur Viertelidentität regelmäßig die Wahrheit auf der Strecke. Zum Beispiel Antifa: Wenn man die Berichte der Journalisten liest, die jedes Jahr um diese Zeit in die Kneipen am Spreewaldplatz ausschwärmen, bei den Gesprächen an den Nebentischen mitlauschen und dann in diversen Blättern ihr Insiderwissen ausbreiten, könnte man auf den Gedanken kommen, bei den für die Mai-Ereignisse verantwortlichen Staatsfeinden handele es sich um ungewaschene, spätstalinistische Sozialhilfeempfänger. Sicher, solche Menschen gibt es, nur organisieren die nichts. Die zuständige Antifa ähnelt eher einer Bürogemeinschaft jungdynamischer New Economy-Bastler, die chaotische Kreativität mit Selbstausbeutung verbinden. Senat und Polizei könnten von diesen jungen Leuten viel lernen. Mit nur ein paar Dutzend Aktivisten und fast ohne Geld ein kostenloses Konzert von Fettes Brot auf die Beine zu stellen, zu dem 10. 000 Leute kommen, eine Klubnacht zu organisieren, die gegen 12 Uhr mittags ausklingt, drei gut besuchte Pressekonferenzen durchzuführen und dann auch noch vier Mal so viel Leute auf die Beine zu bringen wie die zentrale Kundgebung des DGB (an der allerdings auch - so viel Fairneß gegenüber den Gewerkschaften muß sein - der Bundesschröder teilnahm), ist schließlich kein Kinderfasching. Die Zuständigen für diese Kreuzberger Variante der Tellerwäscher-goes-Millionär-Story können zwar nicht unbedingt von sich behaupten, inhaltlich im Recht zu sein, aber können doch mit einigem Stolz auf ihr Organisationstalent verweisen.

Die Verleumdungen sind wohl obligatorischer Bestandteil der Legendenbildung. Der 1. Mai ist ja überhaupt ein grandioses Exempel für moderne Mythenproduktion. Das autonome Märchen von der ‚Sympathie der Kreuzberger Bevölkerung' zum Beispiel: Unsere Freundin Stefanie wurde am Vorabend des 1. Mai fast von einem Ei getroffen, das ein empörter Anwohner in der Adalbertstraße aus dem Fenster gepfeffert hatte; ihr Mitbewohner mußte sogar vor einer vollen Flasche in Deckung gehen. Oder die Sache mit dem Plus-Supermarkt: Wenn ansprechend gekleidete 27-Jährige im StartUp-Outfit einen vorsichtig geöffneten Supermarkt betreten, um danach vor der Tür Rafaello-Pralinen und Freixenet-Sekt zu verteilen, läßt sich das - zumindest in meinen Augen - weder mit dem Begriff ‚dumpfer Vandalismus' noch mit der Bezeichnung ‚proletarische Umverteilungsaktion' treffend umschreiben.

Es ist aber auch das Schöne am Mai: Es wird fantasiert, fabuliert, gedichtet und dazu erfunden. ‚Alle wollen Veteranen sein', ‚diese oder jene Situation schon 100 Mal erlebt haben', ‚endgültig den Kragen voll' und doch ‚etwas derartiges noch nie gesehen haben'. Und deswegen sind auch alle, die "nächstes Jahr ganz bestimmt wieder dabei sein werden", froh oder zumindest erleichtert, wenn die drei heißen Tage am 2. Mai vorbei sind. Zum Abschluß feiert man dann - geht trinken, legt sich vor den Fernseher oder grillt zum Beispiel trotz schlechten Wetters in einem nah gelegenen Park. Als ich am 2. abends durch die Grünanlage streife, sehe ich die Bäume in Blaulicht getaucht. ‚Verdammt', denke ich, ‚lassen die uns jetzt nicht mal mehr beim Grillen in Ruhe?' Aber als ich näher komme, stelle ich fest, daß es sich gar nicht um Polizei, sondern um die brave, am 1. Mai von einer eigenen Demonstration gefeierten Kreuzberger Feuerwehr handelt. Drei fleißige Feuerwehrmänner löschen ein unidentifizierbares, mitten auf der Wiese vor sich hinschwelendes Objekt.Ich verstehe gar nichts.

Erst am Heinrichplatz erklären mir die üblichen Verdächtigen - ein paar sturzbetrunken, andere mit Saft in der Hand -, was geschehen ist. Peter, angehender Apotheker (so viel zum Thema Drop-Outs), sagt, daß man "als Ausdruck des Verhältnisses zu Staat und Kapital" jedes Jahr am 2. Mai eine Bank im Viertel anzünde. "Aber das war `ne Parkbank", werfe ich ein. "Trotzdem", antwortet Peter. "Bank ist Bank." Peter gehört zu den Safttrinkern. "Im Moment haben ein paar Leute sogar einen Prozeß deswegen." "Ach", sage ich, "das ist ja Scheiße." "Ja", er nickt nachdenklich, "die waren so betrunken, daß sie ihre Rucksäcke neben der Parkbank vergessen haben ..... Mit den ganzen Schulsachen drin."

Raul Zelik

 

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