75 Prozent der Deutschen sind laut „Wirtschaftswoche“ der Ansicht, der Kapitalismus müsste stärker politisch reguliert werden. In Frankreich sieht man noch klarer: Dort sind 43 Prozent der Ansicht, der Kapitalismus sei am Ende, ein neues System müsse her. Doch auch wenn die Hegemonie des Weltsystems bröckelt, artikuliert sich – auch im 7. Jahr der globalen Krise – vergleichbar wenig Widerstand. Das liegt nicht nur daran, dass im Kapitalismus im Unterschied zu anderen Herrschaftsformen niemand die unmittelbare Verantwortung für die Verhältnisse zu tragen, weil sich die Aneignung wie von selbst organisiert. Es hat auch damit zu tun, dass der neoliberale Kapitalismus die gesellschaftliche Grundlage zersetzt, die überhaupt etwas infrage stellen könnte: das Soziale an sich, die gemeinschaftliche Zuversicht, dass etwas Anderes möglich ist und gewagt werden könnte. Wir gleichen einem Depressiven, für den die Gegenwart grau, aber die Zukunft noch farbloser ist. In dieser Hinsicht wäre die Zeit eigentlich reif für einen Antikapitalismus, der vom sozialpsychischen Erleben der Zustände ausgeht.
Teil I einer losen, auf 5 Folgen angelegten Aufsatzreihe zur Kapitalismuskritik
Die Untoten des Kapitals
Der britische Kulturtheoretiker Mark Fisher, der gesellschaftliche Verhältnisse reflektiert, indem er sich von Marx zur Popmusik, von Derrida zu den dazugehörigen Geistern, von universitären Evaluierungsverfahren nach Hollywood hangelt, hat das neoliberal-postmoderne Zeitalter vor einigen Jahren als „kapitalistischen Realismus“ bezeichnet. Jeder alternative Vorstellungsraum ist versperrt, die Zukunft nur insofern offen, als die technischen Innovationen und kulturellen Moden, mit denen der feststehende Zukunftsweg ausgestaltet werden soll, noch gefunden werden müssen. Das alles erzeugt eine erdrückende Traurigkeit. Der Realismus, schreibt Fisher, „funktioniert analog zu der gedämpften Perspektive eines Depressiven, der glaubt, dass jeder positive Zustand und jegliche Hoffnung gefährliche Illusionen sind.“
Fisher belegt das u.a. mit der Popkultur der Gegenwart. Die Tatsache, dass Musik, Moden und Jugendmilieus sich heute darauf beschränken, Stilzitate aufzugreifen und neu zusammenzusetzen, sei Ausdruck dieser gesellschaftlichen Verschließung. In der kapitalistischen Wüste des Realen gibt es kein Außerhalb mehr – was sowohl „there is no alternative“ bedeutet als auch: Die Inwertsetzung hat alle Lebensbereiche erfasst. Gerade der Boom der „Kreativökonomien“ ist Ausdruck des Verschwindens jeder Kreativität. Wenn selbst die Subversion als Marketingstrategie in die Totalität hereingeholt ist, kann kulturelle und soziale Praxis nur noch als sinnentleerte Farce daherkommen.
Das ist die Quelle der großen Traurigkeit unserer Zeit: Es ist nichts Anderes als das Bestehende möglich, wir müssen aber trotzdem permanent Neues schaffen, weil der Kapitalismus ohne beschleunigende Ausdehnung nicht überleben kann. Immer mehr Neues, das doch nur eine Kopie des Bestehenden ist. Und das Niederschmetterndste daran ist, dass selbst das Scheitern in dieser Maschine eine ökonomische Funktion erfüllt. Depressionen als Wachstumsmarkt der Pharmaindustrie.
Wir sind die Untoten des Kapitals. Selbst das ereignisloseste Scheißleben dient der Akkumulation.
Entfremdungs- versus Verteilungskritik
Dass der Kapitalismus sich nicht darauf beschränkt, Reichtum in den Händen weniger zu konzentrieren und phantasmagorische Ungleichheit zu generieren, sondern durch die Kolonisierung der Lebenswelten das Dasein selbst derjenigen, die von den Verteilungsverhältnissen profitieren, jedes Sinnes beraubt, ist keine ganz neue Erkenntnis. Beim jungen Marx der Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte stand die Entfremdung des Menschen von Natur und sich selbst sogar ganz im Mittelpunkt der Kritik. Erst von dort arbeitete sich der Entfremdungs-Marx in Richtung Klassen- und Verteilungsverhältnisse weiter. Mit Autoren wie Herbert Marcuse, Erich Fromm, Theodor Adorno oder André Gorz wurde der humanistische Marx in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder populär. Die Neue Linke fragte nicht länger nur, wem die Produktionsanlagen gehörten und wer sich den Reichtum aneignete, sondern zunehmend auch nach dem Wie: Wie wird im Kapitalismus gelebt, gearbeitet, gewünscht, begehrt ...
Die Gewerkschaften konnten damit oft nicht besonders viel anfangen, stand doch die Lebens- und Konsumkritik in Widerspruch zu ihren Lohnkämpfen. Die Verwandlung der meisten Neulinken in Alternativbürgerliche seit den frühen 1980er Jahren gibt ihnen im Nachhinein aber auch ein wenig recht mit ihrer Skepsis. Die grünen Milieus haben die Entfremdungskritik systematisch zum Stilproblem reduziert. Alternative Lebensentwürfe statt Konsumterror, Bio statt Lidl oder Aldi. Die Entschleunigungsdebatte heute, wie sie u.a. von dem Jenaer Soziologen Hartmut Rosa repräsentiert wird, kommt ein bisschen als Neuauflage dieser Stilpolitik daher. Bei Rosa wird der systemische Ausdehnungs- und Akzelerationszwang des Kapitalismus zwar scharfsinnig kritisiert, dabei gerät aber aus dem Blick, dass die Klassenunterschiede größer sind als je zuvor und die Besitzer der großen Privatvermögen alles, auch das Mörderischste, zu tun bereit sind, um die herrschenden Entfremdungsverhältnisse (inklusive Wellness, Bio und Entschleunigung für sich selbst) zu verteidigen.
Angst durch Ungleichheit
Dabei gäbe es durchaus Möglichkeiten, um Entfremdungs- und Verteilungskritik dauerhaft (und im Übrigen ganz im Sinne von Marcuse oder Fromm) miteinander zu verschränken. 2009 veröffentlichten die britischen GesundheitswissenschaftlerInnen Richard Wilkinson und Kate Pickett unter dem Titel The Spirit Level eine Großstudie über den Zusammenhang von Ungleichheit, psychischem Empfinden und Erkrankung. Wilkinson/Pickett gingen dabei zunächst von folgender Beobachtung aus. Auf der einen Seite nimmt die Lebenserwartung bei wachsendem Wohlstand der Nationen bis zu einem gewissen Niveau zu – ein Zusammenhang, der nicht allzu schwer zu verstehen ist: Extrem arme Länder können die Grundversorgung mit Gesundheit, Trinkwasser und Kanalisation nicht gewährleisten; ab einer bestimmten Schwelle jedoch wirkt sich das höhere BIP nicht mehr positiv auf die Lebenserwartung aus. So liegt diese in den USA niedriger als beispielsweise in Costa Rica oder Kuba. Auf der anderen Seite jedoch belegen Vergleiche innerhalb von Gesellschaften auch in den reichen Industriestaaten einen starken Zusammenhang zwischen Einkommensniveau und Lebenserwartung. In Deutschland beispielsweise liegt die durchschnittliche Lebenserwartung von Menschen der höchsten Einkommensgruppe um 10 Jahre höher als die von Angehörigen der niedrigsten Einkommensgruppe. Das hat zweifellos auch damit zu tun, dass sich Reiche eine bessere Gesundheitsversorgung leisten können oder Bauarbeiter ein höheres Unfallrisiko tragen als Manager. Doch Wilkinson / Pickett wenden sich einem Aspekt zu, der in der Debatte nur selten eine Rolle spielt: der Angst.
Offensichtlich geht der entwickelte Kapitalismus – und das nicht erst seit Beginn des neoliberalen Zeitalters – mit der Ausbreitung psychischer Erkrankungen einher. In den 1980er Jahren waren Angstzustände unter amerikanischen Durchschnittskindern verbreiteter, als sie es in den 1930er Jahren in der Gruppe der Psychiatriekinder gewesen waren. Und auch unter Durchschnittsstudenten nahmen die Angstzustände zwischen den 1950er und 1990er Jahren deutlich zu. Bemerkenswert sei dabei, so Wilkinson / Pickett weiter, dass gleichzeitig dem Selbstwertgefühl sehr viel größere Bedeutung beigemessen wird. Sehr viel mehr Menschen als früher stimmten der Aussage zu, „ich bin wichtig“. Dabei handele es sich um ein instabiles Selbstwertgefühl – so genannten „bedrohten Egozentrismus“ oder „Narzissmus“. Die Bewertung durch die Außenwelt wird als permanente Bedrohung, als „social evaluative threat“ wahrgenommen.
Cortisol als Klassenherrschaft
Damit stellt sich die Frage, was eigentlich die körperlichen Mechanismen sind, die der gesellschaftlichen Depression zugrundeliegen. Wilkinson / Pickett bezeichnen Scham als das soziale Gefühl von Menschen, wobei sich die Angst, ausgeschlossen oder gar gemobbt zu werden, unmittelbar auf die körperliche Gesundheit auswirke.
So hat man in Forschungsreihen festgestellt, in welchen Situationen Menschen besonders hohe Dosen des Stresshormons Cortisol ausschütten. Interessanterweise sorgt soziale Angst – und nicht etwa konkrete Lebensgefahr – für besonders hohe Ausschüttungen. Cortisol, ein Entzündungshemmer, blockiert das Immunsystem und begünstigt damit die verschiedensten Erkrankungen. Herzinfarkte beispielsweise sind – entgegen der landläufigen Meinung – unter Arbeitslosen und Working Poor verbreiteter als unter Managern, das heißt: Armut und Marginalisierung erzeugen mehr Stress als hektische Cheftätigkeiten. Selbst Fettleibigkeit, gemeinhin als „Zivilisationskrankheit“ bagatellisiert, ist nicht in erster Linie deshalb unter SozialhilfeempfängerInnen weiter verbreitet als unter Reichen, weil Erstere sich nicht gesund zu ernähren wissen oder nicht genug Geld dafür haben. Der Zusammenhang ist offensichtlich viel simpler: Das physische Bedürfnis nach Zucker und Fett steigt mit dem sozialen Stress. Die Angst vor den Mitmenschen und ihrem Urteil, der „sociale evaluative threat“, verändert den Körper.
Die Kernthese von Wilkinsons / Picketts Buch ist, dass in Gesellschaften mit geringerer Ungleichheit die Angst und die damit zusammenhängenden Krankheiten abnehmen, während umgekehrt in ungleichen Gesellschaften das soziale Misstrauen, instabiles Selbstwertgefühl und rücksichtslose Verhaltensweisen zunehmen. Das erklärt ihrer Ansicht nach auch, warum Gewaltkriminalität nicht mit materieller Not, sondern v.a. mit Ungleichheit wächst: „Der Zusammenhang ist, dass Menschen sensibler werden, wenn sie das Gefühl haben, respektlos und von oben herab behandelt zu werden. Scham und Erniedrigung sind in hierarchischeren Gesellschaften zentrale Probleme und auch der Status wird wichtiger. Da die Statuskonkurrenz zunimmt, verlieren mehr Menschen Zugang zu den Symbolen von Status und sozialem Erfolg. Daher nehme ich schon die kleinste Beleidigung als Hinweis auf mangelnden Respekt wahr.“
Selbst der Konsumismus erscheint in diesem Zusammenhang in einem anderen Licht. Er ist nicht einfach nur ein Produkt von Ideologie und falsch gewählter Lebensweise, sondern eine Strategie, um sich Anerkennung zu verschaffen. „In ungleichen Gesellschaften“, erklärt Wilkinson in einem Interview, „arbeiten Menschen länger, sparen weniger und verschulden sich mehr. Das ist so, weil der soziale Status hier wichtiger ist, und weil sie in einer sozialen Umgebung leben, in der sich Menschen stärker aufgrund ihres Status‘ bewerten.“
Die Arbeiterklasse des 19. Jahrhunderts machte ihr Elend zum Ausgangspunkt der Politik. Gegen den Hunger organisierte sie Lohnkämpfe, auf den Ausschluss aus der Bildung reagierte sie mit Selbstschulung. Die entscheidende Frage heute lautet, wie sich Niedergeschlagenheit, Unsicherheit, die Angst vor den Anderen und ihrer Verachtung nicht nur zu politischen Fragen, sondern zum Ausgangspunkt der Praxis gemacht werden können. Die durch die totale Inwertsetzung des Lebens entfremdeten Subjekte können sich und ihre soziale Umgebung kaum respektieren. Doch Subjekte, die sich selbst und das Soziale nicht schätzen, können auch nicht kämpfen.
Readings
Mark Fisher: „Kapitalistischer Realismus ohne Alternative“, VSA_Verlag, Hamburg 2013, 120 Seiten
Mark Fisher: „Gespenster meines Lebens. Depression, Hauntology und die verlorene Zukunft“, Edition Tiamat, Berlin 2015, 256 Seiten
Richard Wilkinson/Kate Pickett: «Gleichheit ist Glück: Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind.» Haffmans & Tolkemitt. Berlin 2009. 368 Seiten.
Raul Zelik