Wie viel Propaganda müssen wir in diesen Monaten ertragen. Von einer „Griechen-Rettung“ ist die Rede. Dabei wissen alle, die das Wort in den Mund nehmen, dass es diese Hilfe überhaupt nicht gibt. 97 Prozent der Zahlungen an Griechenland fließen als Zinsen und Tilgungen wieder ab. Warum? Weil europäische Banken und Versicherungen trotz bekannter Risiken dem griechischen Staat Geld geliehen haben – zu vergleichsweise hohen Zinsen – und seit 2008 vor Verlusten geschützt werden.
Theoretisch gilt im Kapitalismus: Wer schlecht wirtschaftet oder sich beim Spekulieren verhebt, wird abgestraft. Aber eben nur theoretisch. In der Realität hat der Finanzmarktkapitalismus kein Problem mit staatlicher Intervention. Im Gegenteil: Die Verstaatlichung wird erzwungen, wenn es der Verteidigung des eigenen Reichtums, der eigenen Macht dient.
Wir debattieren in Europa über die Austeritätspolitik. Die Neoliberalen treten angeblich für „Sparsamkeit“, Linke vermeintlich für eine großzügigere Haushaltspolitik ein. Was für eine blödsinnige Debatte haben wir uns da wieder aufzwingen lassen! 2007, bevor die Finanzkrise Spanien erreichte, lagen die öffentlichen Schulden des Landes bei 42 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In Deutschland waren es im selben Jahr 65 Prozent. Doch in der Finanzkrise stellte sich heraus, dass spanische Banken Hunderttausende von hochriskanten Immobilienkrediten vergeben hatten. Die Europäische Union und nicht zuletzt Deutschland zwangen die Regierung in Madrid dazu, die bankrotten Privatbanken zu retten und die faulen Kredite zu übernehmen. Warum? Um deutsche, französische, niederländische Geldinstitute und Versicherungen, die ebenfalls am Geschäft beteiligt waren, ihrerseits vor Verlusten zu retten.
Seit Beginn des Troika-Diktats 2008 haben sich Spaniens öffentliche Schulden verdreifacht! Sie sind von 383 Milliarden auf 1,033 Billion Euro gestiegen. In fünf Jahren! Hat das etwas mit Sparsamkeit zu tun?
Umverteilung durch Krisenpolitik
Das europäische Krisenmanagement ist eine gigantische Maschine zur Umverteilung von Reichtum. Der Staat steht dafür gerade, dass Finanzeliten, die zum Spekulieren zu blöd, aber intelligent genug zum Herrschen sind, ihre Machtposition nicht einbüßen. Der Neoliberalismus ist also weit davon entfernt, den Staat abzubauen. Der Neoliberalismus braucht nicht weniger Staat als Keynesianer oder Regierungssozialisten. Er kommt staatskritisch daher, um einen anderen Staat durchzusetzen: einen Staat gigantischer Rüstungsausgaben wie seit 1980 in den USA, einen Staat der Bankenrettung wie in den letzten 5 Jahren in Europa und nicht zuletzt einen autoritären Staat, der wie hier heute in Frankfurt 10.000 Polizisten, Hundert Panzerfahrzeuge und kilometerlange Zäune auffährt, um soziale Proteste im Keim zu ersticken. Derselbe autoritäre Staat, der Gesprächsbereitschaft signalisiert, wenn Rassisten wie die Pegida-Anhänger Einwanderer und Flüchtlinge für die Krise verantwortlich machen und damit die eigentlichen Zusammenhänge kaschieren.
Auch wir, die Bevölkerung in Deutschland, leidet unter dem neoliberalen Diktat. Zwar hat Deutschland durchaus von der Krise profitiert – die Zinsen für Schuldpapiere des Bundes beispielsweise liegen seit einigen Jahren praktisch bei null, weil deutsche Anleihen sicherer erscheinen als südeuropäische und dadurch zu geringeren Zinsen angeboten werden können, was wiederum die öffentlichen Haushalte entlastet. Außerdem sind Zehntausende qualifizierte Arbeitskräfte aus Südeuropa eingewandert, deren Ausbildung von Griechenland, Spanien, Italien oder Portugal bezahlt worden ist.
Aber letztlich kommt das europäische Krisenprogramm eben nicht den Menschen in Deutschland zugute, sondern den Eliten, den deutschen, aber auch den anderer europäischer Staaten. Überall auf dem Kontinent hat sich die soziale Ungleichheit aufgrund des Krisenmanagements verschärft. Überall sind Sozialausgaben gekürzt worden, um Finanzkapital zu retten.
Ein CDU-Abgeordneter hat bei der Kredit-Debatte Ende Februar im Bundestag darauf verwiesen, dass die Suizidrate in Griechenland seit 2007 zwar um über 40 Prozent gestiegen sei, die deutsche Suizidrate aber immer noch dreimal so hoch sei wie die griechische. Der Mann hat recht: Die Verelendung mag in Deutschland nicht 50% der Bevölkerung erreicht haben wie in Teilen Südeuropas. Aber auch hier hat die neoliberale Politik Lebensbedingungen und Ängste verschärft. In Deutschland liegt die Arbeitslosenquote bei 7 Prozent. Aber es gibt 3 Millionen Working Poor – Erwerbstätige, die von ihrem Lohn nicht leben können. Deutschland ist international „wettbewerbsfähig“, wie es euphemistisch heißt, und das ist einer der Gründe dafür: Der große Niedriglohnsektor und das soziale Elend in und durch die Arbeit machen deutsche Produkte billiger und nutzen dem deutschen Kapital. Aber nutzen sie damit auch uns?
Europa gegen die EU neu begründen
Die Europäische Union und nicht zuletzt die Europäische Zentralbank sind Institutionen, die das neoliberale Diktat zementieren. Sie lassen sich nicht einfach reformieren. Das Regime ist in die Institutionen eingeschrieben – durch „Maastricht-Kriterien“, „Schuldenbremse“, die „Unabhängigkeit“ der Zentralbank gegenüber politischen, sprich demokratischen Entscheidungen. Wenn wir ein anderes Europa wollen, Spielräume für soziale und demokratische Politik, dann müssen wir diese Europäische Union schleifen. Wir brauchen eine Neugründung Europas, einen konstituierenden Prozess, der die bestehenden Institutionen außer Kraft setzt. Sonst gibt es keine Spielräume für Veränderungen, soziale Bewegungen, alternative Politik. Selbst der bescheidenste Reformismus ist unter diesen Voraussetzungen reine Utopie.
Wir stehen vor einer großen Herausforderung. Das autoritäre Regime in Europa und seine Propagandamaschine bekämpfen jeden Ansatz der Veränderung entschlossen – so wie man heute die Syriza-Regierung in Griechenland platt zu machen versucht. Gleichzeitig wissen wir nicht, wie sich die Machtverhältnisse verändern lassen, wie wir die Tür für ein demokratisches Europa, das nicht den Interessen der Eliten verpflichtet ist, wieder aufstoßen können. Aber die Mobilisierungen gegen das neoliberale Diktat in Spanien, Griechenland, Portugal, Italien, Irland sind ein Anfang. Von den Rändern her wird der Konsens in Frage gestellt – auf der Straße, durch Streiks und bei Wahlen.
In vielen mittel- und osteuropäischen Ländern ist die extreme Rechte heute im Aufwind. Wenn die Krisenpolitik des Kapitals die europäischen Gesellschaften weiter zerstört, dann wird diese rassistische Rechte triumphieren. Und genau deshalb haben wir keine andere Wahl, als endlich aufzuwachen und uns in Bewegung zu setzen: Wir müssen das neoliberale Regime blockieren, das Europa des Finanzkapitals unregierbar machen, so wie es die Protestbewegungen in Südamerika in den 1990er und 2000er Jahren vorgemacht haben – wir müssen radikale Demokratisierung, soziale Gleichheit und Antirassismus als zentrale Punkte auf die Tagesordnung setzen und als politisches Gegenprojekt sichtbar machen. Wir haben keine Zeit zum Lamentieren! Das neoliberale Europa wird in die Brüche gehen. Wir müssen deutlich machen, dass es solidarische und demokratische Alternativen gibt – die Platzbesetzungen in Spanien und Griechenland 2011 waren ein Anfang, das Entstehen einer breiten, antineoliberalen Bewegung in Europa ist ein nächster Schritt.
Raul Zelik