Interview für TAZ, WOZ und GARA Juni 2011
César Rendueles arbeitet als Kurator im Madrider Círculo de Bellas Artes und unterrichtet kritische Soziologie an der Universidad Complutense. Er ist Mitgründer der politisch-kulturellen Zeitschrift "La Dinamo" und begleitet als Aktivist der sozialen Bewegung seit einigen Wochen die spanische Protestbewegung "15-Mayo".
Die Bewegung hat alle überrascht. Die langjährigen Aktivisten vielleicht sogar am meisten.
Ja, wir haben den Aufruf für die Proteste am 15. Mai am Anfang für unpolitisch gehalten. Er hat uns irgendwie an die Piratenpartei erinnert. Viele dieser Prozesse, die aus dem Netz hervorgehen, sind ja von einem apolitischen Diskurs geprägt, und das passt mit den Vorstellungen einer aktivistischen Linken natürlich kaum zusammen.
Die Bewegung hat ihren Diskurs aber auch geschärft. Nicht mehr die Kritik der Politik, sondern der Parteien steht im Mittelpunkt; man fordert Partizipationsmöglichkeiten ein. Das hat eine Re-Politisierung unter ganz neuen Vorzeichen ermöglicht.
Mich erinnern die Bilder an Lateinamerika, wo in den vergangenen 15 Jahren in vielen Ländern Repräsentationskrisen ausgesprochen sind.
Es gibt zweifelsohne wichtige Parallelen. Der Ausgangspunkt ist auch hier die wachsende Kluft zwischen der Bevölkerung und den politischen Institutionen gibt. Es ist ja behauptet worden, die PP hätte die Wahlen gewonnen. Das ist völliger Unsinn. Auch die Konservativen haben Stimmen verloren. Zugelegt hat nur die Wahlenthaltung.
Von der Repräsentationskrise sind aber auch die großen Gewerkschaften betroffen, denen man ihre Verflechtung mit der Regierung und den Unternehmerverbänden vorwirft; und auch die alternative Linke. Auch sie stützt ihre Politik in gewisser Hinsicht auf das repräsentative Sprechen, auf die politische Form ‚Partei’.
Derartige Bewegungen kommen überraschend, aber nicht aus dem Nichts. Was waren die Vorläufer des 15-M?
Die Bewegung hat sicher Ähnlichkeiten mit den Protesten nach dem 11. März 2004. Die Hunderttausenden, die damals gegen die Regierung Aznar auf die Straße gingen, haben sich auf ähnliche Weise in Bewegung gesetzt wie heute. Zweitens würde ich die Demonstrationen gegen den Irak-Krieg als Vorläufer bezeichnen. 95% der Bevölkerung war damals gegen die Intervention, das heißt, auch fast alle PP-Wähler. Drittens gibt es eine wachsende Distanzierung von den Gewerkschaften. Der Generalstreik im Herbst 2010 war eine Farce. Die Gewerkschaften haben ihn nur organisiert, um sich nicht völlig zu diskreditieren. Und viertens schließlich muss man die kleinen Bewegungen sehen, in denen in den vergangenen Jahren bestimmte Praxen erprobt wurden. Soziale Zentren haben zum Beispiel versucht, sich gegenüber Gruppen zu öffnen, die nicht aus dem Aktivismus kommen, also der Nachbarschaft, und dabei gelernt haben, andere Sprachen zu sprechen. Mich hat das in der Vergangenheit nicht sehr überzeugt. Aber im Rückblick würde ich sagen, dass das jetzt erlaubt, sich mit Menschen zu verständigen, die aus ganz anderen Realitäten kommen.
Im Zusammenhang mit den arabischen Revolten und jetzt der 15-M wird viel von „Facebook-Revolutionen“ gesprochen. Kritische Stimmen haben angemerkt, dass die Revolten der Vergangenheit ja auch nicht nur deshalb als „Bücher- oder Zeitungsrevolutionen“ bezeichnet, weil Bücher und Zeitungen verwendet werden. Sie forschen auch zu Neuen Medien. Wie würden Sie den Einfluss der technologischen Mittel auf die Bewegung beschreiben?
Ich habe den Eindruck, dass der Verweis auf Internet und soziale Netzwerke den politischen Gehalt der Revolte still stellt. Hinter dem Argument versteckt sich ein Technikfetischismus reinster Natur. Das ist fast schon amüsant: Diejenigen, die den Marxismus am Schärfsten wegen seines technischen Determinismus kritisieren, versuchen jetzt, soziale und politische Prozesse aus Technologien abzuleiten. Im arabischen Raum, wo ja nur ein sehr begrenzter Teil der Bevölkerung Zugang zum Internet hat, ist das fast schon etwas lächerlich. Von Libyen heißt es, dass gerade einmal 5% der Bevölkerung das Internet nutzt.
Diese Argumente sind nicht einfach nur falsch, sie transportieren auch einen politischen Diskurs. Es wird unterschwellig postuliert, die fortschrittliche westliche Technologie verwandele rückständige, islamistische Gesellschaften in Demokratien.
Ich würde behaupten, dass es genau andersherum ist. Die Revolten waren möglich, weil es noch kommunitäre Strukturen, unmittelbare Kommunikationsnetze oder – im Fall Ägyptens – Gewerkschaftskämpfe gab. Erst in diesem Zusammenhang können soziale Netzwerke oder Kommunikationswege wie Twitter eine produktive Wirkung entfalten. So wie auch Bücher oder Zeitungen.
In der Presse ist viel von der spanischen Revolte gelesen. Die Nationalitätenkonflikte im spanischen Staat reflektieren sich aber auch in der Bewegung. In Barcelona fordern die Indignados die Anerkennung des katalanischen Selbstbestimmungsrechts, im Baskenland war die Wahlbeteiligung gegen den Trend in Spanien extrem hoch. Eine neue linke Koalition ist aus dem Stand auf über 20 Prozent gekommen. Eher als um eine spanische Bewegung, scheint es sich mir um einen Aufbruch lokaler Realitäten zu handeln.
Wir haben es auf jeden Fall mit einer extrem heterogenen Bewegung zu tun. Es existiert ein Grundkonsens: Man ist sich in der Ablehnung der politischen Verhältnisse einig, der Sinnentleerung der Demokratie. Man ist auf der Straße, weil die Wirtschaftspolitik immer die gleiche ist, egal welche Partei regiert. Es geht zusammengefasst also darum, die demokratische Kontrolle über das politische Leben zurück zu erlangen.
Abgesehen davon ist der Raum aber von Heterogenität bestimmt. Und das bedeutet auch, dass die Spannungen, die den spanischen Staat durchziehen, sich auch als Vielfalt der Bewegung reflektieren. Ich finde das positiv. Die Bewegung hat nicht die Aufgabe, ein gemeinsames politisches Programm aufzustellen, sondern den Raum politischer Artikulation zu eröffnen.
Das Erstaunlichste an den Bildern aus Madrid scheint mir die Rückkehr der Versammlungen, der Räte. Wer in seinem Leben politisch aktiv ist oder war, findet Versammlungen ja meist wenig attraktiv. Die Bewegung 15-M hingegen scheint von einer „asamblearischen“ Leidenschaft geprägt. Und man hat den Eindruck, dass es bei den Diskussionen sehr diszipliniert zugeht.
Soziologisch betrachtet ist das faszinierend: Wie groß die Leidenschaft der Menschen zu reden und zuzuhören ist. Es ist wie eine Rückkehr zum eigentlich Wesen von Demokratie. Man eröffnet einen Raum der Debatte – und zwar nicht, um pragmatische Entscheidungen zu treffen, sondern um grundsätzliche Fragen erörtern zu können.
Auch deswegen finde ich die These so falsch, es handele sich um eine Facebook-Bewegung. Die Leute sind auf den Plätzen, weil sie es Leid sind, nur im Netz miteinander zu kommunizieren und sich in Foren gegenseitig zu beschimpfen. Das Mobilisierende an der Bewegung ist ja gerade, dass man sich begegnet und Empathie füreinander verspürt. Auf mich wirkt das wie eine kollektive Katharsis.
In dem Zusammenhang spielt die alternative Linke dann doch eine ganz produktive Rolle. Sie bringt Methodologien ein, z.B. dass man Hörgeschädigten-Gesten bei den Debatten verwendet, um Zustimmung oder Ablehnung zu signalisieren. Ich kenne das von Sozialforen oder Aktionen der Anti-Globalisierungs-Bewegung.
Dass man sich gern zuhört, hat natürlich aber auch damit zu tun, dass hier sehr unterschiedliche Erfahrungen zusammen kommen: von der Hausfrau und dem Black Block bis hin zu Rentnern und jungen Studierenden. Ich war z.B. völlig perplex, dass ich auf der Versammlung in unserem Viertel sehr viele Eltern getroffen habe, die ich vom Spielplatz kenne. Mit den selben Menschen, mit denen ich sonst über Kinderspiele rede, habe ich über den Kapitalismus diskutiert.
In dieser Hinsicht haben die Versammlungen nichts mit den unendlichen Treffen der Linken zu tun, in denen man sich darüber streitet, wer ein bestimmtes Flugblatt unterzeichet und wer nicht. So ungefähr habe ich mir immer die Räte der Pariser Commune vorgestellt.
Es ist eine extrem intensive Erfahrung. Das ist wohl das richtige Wort.
Auf den Bildern sieht man kaum Immigranten, obwohl sie doch von der Krise am Härtesten betroffen sind.
Richtig, und ich habe befürchtet, das könnte unter den Tisch fallen. Aber nein, auf den Versammlungen wird oft darauf hingewiesen.
Die Abwesenheit der Immigranten ist zum Einen natürlich symptomatisch für den Zustand der spanischen Gesellschaft. Die Repression gegen Einwanderer hat ein solches Ausmaß erreicht, dass Menschen ohne Papiere schlicht und einfach Angst haben, zu den Versammlungsorten zu gehen – die ja von Polizei umstellt sind.
Zum Anderen liegt das aber natürlich auch an uns. Die Einwanderer haben eigene soziale und Kommunikationsnetze, und wir haben in den vergangenen Jahren wenig dafür getan, um Verbindungen aufzubauen.
Aber wie gesagt: Die Bewegung ist in dieser Frage immerhin nicht blind. Die Stadtteilversammlung von Carabanchel beispielsweise hat sich geschlossen auf den Weg gemacht, als sie hörte, die Polizei führe in der U-Bahn Personenkontrolle gegen ausländische aussehende Menschen durch. Und sie hat die Kontrollen gestoppt.
Wie geht die Bewegung weiter? Vor zwei Wochen hat es in Hunderten von Stadtvierteln lokale Versammlungen gegeben, am 19. Juni hat es neue große Demonstrationen gegeben. Obwohl das Camp an der Puerta del Sol abgebaut worden ist, scheint es also irgendwie weiterzugehen.
Normalerweise bin ich eine eher pessimistische Natur. Aber diese Bewegung zeigt, dass etwas möglich ist. Dieser Tage waren Tausende vor dem spanischen Kongress, um gegen die neuen Arbeitsgesetze zu demonstrieren. Um das Parlament herum existiert eine Bannmeile, normalerweise geht die Polizei dort mit größter Gewalt vor. Trotzdem waren Tausende dort – ohne Unterstützung von Gewerkschaften, Parteien oder sonstigen Organisationen. Das hat es in Spanien noch nie gegeben.
Es stimmt: Niemand weiß, wie es weitergeht. Wir erleben einen Augenblick großer Spontaneität. Die Bewegung ist sehr jung, wenig artikuliert und kann jederzeit auseinanderfallen. Aber sie kann sich eben auch weiterentwickeln. Wir diskutieren heute mit unseren Nachbarn über den Kapitalismus, über Globalisierung, Neoliberalismus (lacht)... Für sechs Monaten hätte ich das für unmöglich gehalten.
Man hat auch den Eindruck, dass die Bewegungen am europäischen Rand sich gegenseitig transformieren. In Griechenland gibt es seit einem Jahr massive Proteste, die bislang aber vor allem von Gewerkschaften und linken Organisationen getragen wurden. Dieser Widerstand war mächtig und blieb doch gehegt, kontrollierbar: Die einen haben spezifische Lohninteressen verteidigt, die anderen Militanz praktiziert. Durch den 15-M scheint die Bewegung in Griechenland ihren Charakter zu ändern. Es ist eine griechische Bewegung der Empörten entstanden, weit mehr als 100.000 Menschen haben letzte Woche das Parlament in Athen belagert. Es ist, als würde sich in der europäischen Peripherie eine Multitude in Bewegung setzen.
Ja, die griechische Bewegung schien am Anfang traditioneller zu sein. Die Gewerkschaften spielten eine zentrale Rolle, und die Linksradikalen haben sofort eine direkte Konfrontation mit der Polizei gesucht.
Das Interessante an der neuen Bewegung ist, dass sie einen Punkt in der Mitte gefunden hat: eine Form des Ungehorsams, die von sehr vielen Menschen praktiziert werden kann. Diese Praxis ist von offenen, horizontalen Diskussion, dem Verzicht auf Gewalt und einer Ablehnung der Parteien geprägt. Für einen Teil der Linken ist das nur schwer zu akzeptieren: Sie fragen, warum ihre Organisation nicht auch an den Protesten teilnehmen kann? Aber genau diese Ablehnung von Partei / Organisation erlaubt es der Bewegung sich zu entwickeln.
Das darf nun nicht zu einer Idealisierung politischer Reinheit führen. Es stimmt, dass auf den Versammlungen Hausfrauen sprechen, die noch nie politisch aktiv war. Und das ist wunderbar, sicher. Aber es sind eben auch die Aktivisten da, die seit Jahren in Bewegungen arbeiten. Insofern geht es nicht darum, sich von den Erfahrungen früherer sozialer Bewegungen abzugrenzen, sondern darum, die Eigenständigkeit dieser Bewegung jetzt zu akzeptieren.
Subjektiv gesprochen: Was ist das Wichtigste in diesen Wochen?
Die Erfahrung, dass politische Diskussionen nicht auf marginale Orte beschränkt sein muss, wo die Auseinandersetzung über den Zustand der Gesellschaft wie eine Farce, wie eine theatralische Inszenierung wirkt.
Das impliziert natürlich gewaltige Widersprüche. Man muss sich Menschen gegenüber verständlich machen, deren Realität wenig mit der eigenen zu tun haben. Aber das ist der Kern der Politik. Das ist das Bewegende in diesen Wochen.
Fragen: Raul Zelik