Zwei Jahre, nachdem Ada Colau von der Bewegung gegen Zwangsräumungen PAH (Plataforma de Afectados por la Hipoteca) zur „demokratischen Revolution“ aufrief, und ein Jahr nach der Wahl der früheren Hausbesetzerin zur Bürgermeisterin der Millionenstadt bietet Barcelona das bekannte Bild. Touristenhorden wälzen sich auch außerhalb der Saison durch das Barri Gòtic, das Altstadtviertel in der Nähe des Rathauses. Backpacker überprüfen per Smartphone ihren Weg zur AirBnb-Unterkunft. Auf den Ramblas preisen – legale wie illegale – Verkäufer chinesische Souvenirs an: Trikots, Postkarten, Plastikkitsch.
Dass Katalonien in den vergangenen Jahren zu den turbulentesten Regionen Europas zählte, ist kaum zu erkennen. Eine Plakatkampagne der linken Stadtregierung ruft die Bevölkerung zur Bürgerbeteiligung auf, und die – allerdings auch schon etwas staubig gewordenen – katalanischen Fahnen an den Balkons erinnern daran, dass das Autonomieparlament im vergangenen November die Sezession von Spanien und die Gründung einer Republik Katalonien beschlossen hat. Doch ansonsten scheint alles wie gehabt. Nichts deutet darauf hin, dass ein Drittel der Abgeordneten im Stadtparlament über Listen gewählt wurden, die man anderswo wohl als „linksradikal“ bezeichnen würde.
Die Kommunalwahlen von Mai 2015 kamen überall im spanischen Staat einem politischen Erdbeben gleich. Nicht nur in Barcelona, sondern auch in Valencia, Zaragoza, A Coruña, Santiago, Irunea, Badalona und Cádiz fielen die Rathäuser an Listen links der Sozialdemokratie. Die bewegungslinken Kandidaturen waren dabei durchaus auch als Alternative zu Podemos gedacht. Im Unterschied zur neuen Linkspartei schrieben sich die offenen kommunalen Listen basisdemokratische Prinzipien groß auf die Fahnen. Während Podemos mit einem eher klassischen Medienwahlkampf und starken Führungspersonen die Regierungsmacht erobern wollte, propagierte die „munizipalistische Linke“ eine Politik, die über die lokale Verankerung in Stadtteilen und Gemeinden wachsen sollte. Barcelona stand emblematisch für dieses Projekt. Gemeinsam mit anderen BewegungsaktivistInnen und kritischen AkademikerInnen schlug die ehemalige Hausbesetzerin Ada Colau das Projekt Guanyem vor: „lasst uns gewinnen“. Die Initiative schlug ein wie eine Bombe: Die Liste um Ada Colau, die schließlich als Barcelona En Comú (Gemeinsam Barcelona) antrat, wurde bei den Kommunalwahlen im Mai 2015 mit 25,2% auf Anhieb stärkste Partei. In Madrid war das Ergebnis sogar noch beeindruckender: Die offene Liste Ahora Madrid, zu der sich BewegungsaktivistInnen, Podemos und Teile von Izquierda Unida zusammenschloss, erhielt fast 32% der abgegebenen Stimmen und ließ die sozialdemokratische PSOE (mit 15,3%) weit hinter sich.
12 Monate später ist von diesem Aufbruch überraschend wenig zu spüren. Ich begleite David Balbas auf eine Sitzung der „Kommission für Ökologie, Urbanismus und Mobilität“. Der 38jährige Balbas ist Stadtplaner und Koordinator der Fraktion von Barcelona En Comú im Kommunalparlament – ein freundlicher, enthusiastisischer, sehr gut organisierter Techniker. Wie die meisten AktivistInnen der neuen Stadtregierung kam er in den letzten Jahren fast ein wenig zufällig zur Politik.
Schon der erste Blick in den Plenarsaal ist aussagekräftig: Der modern ausgestattete Raum ist bis auf den letzten Platz gefüllt. In den hinteren Reihen sitzen Verwaltungsangestellte sowie zwei Dutzend JournalistInnen, die nur auf einen Fehler der linken Stadtverwaltung zu warten scheinen. Die erste Reihe ist den Parlamentariergruppen reserviert. Wie überall in Katalonien ist das politische Spektrum extrem ausdifferenziert: Auf die spanischen Rechtsparteien Ciudadanos und PP folgen die katalanischen Liberalen von der CDC, die spanisch-sozialdemokratische PSC, die katalanisch-linksrepublikanische ERC sowie die linksradikale Unabängigkeitspartei CUP. Ihnen gegenüber, unter dem Logo der Stadt, sitzen die Vertreterinnen der Kommunalregierung, die sich nicht nur durch das Alter, sondern auch durch den Dress-Code deutlich von den Oppositionsparteien (von der CUP einmal abgesehen) unterscheiden. Die Repräsentantinnen von Barcelona En Comú sind nicht nur jünger, sie verfügen auch noch nicht über jene Aura der Macht, die die fast ausschließlich männlichen Repräsentanten des Establishments umgibt.
Die Situation im Plenarsaal lässt das Drama der Stadtregierung von Ada Colau zu einem Standbild zusammenzurren: Die Linke mag die Bürgermeisterin stellen, aber hat in Anbetracht der realen Machtverhältnisse denn doch wenig zu melden. Die großen Medien der Stadt sind unter Kontrolle von PP, PSC und Liberalen und stürzen sich begierig auf jeden Konflikt, mit dem sich Ada Colau attackieren lässt. Auch aus dem Verwaltungsapparat bläst der Stadtregierung ein strammer Wind entgegen: Die meisten leitenden Funktionäre gehören selbst zum Establishment der früheren Regierungsparteien und stellen nur diejenigen Informationen zur Verfügung, die ihnen in den Kram passen. Und schließlich sind auch die Mehrheitsverhältnisse im Gemeinderat für Barcelona En Comú eine echte Katastrophe: Die Liste verfügt nur über 11 von 41 Sitzen und muss jede Abstimmung verhandeln.
An diesem Tag debattiert die Kommission eine Verlängerung des Moratoriums für Ferienwohnungen. Eines der zentralen Versprechen von Barcelona En Comú war, die Verdrängung der Bevölkerung aus den Innenstadtbezirken zu stoppen. Als eine der ersten Maßnahmen hat man deshalb beschlossen, keine neuen Lizenzen für Feienunterkünfte mehr zu vergeben. Doch ohne Beschluss des Stadtparlaments kann das Moratorium jetzt nicht verlängert werden. Weil die Stadtregierung keine Mehrheit besitzt, versucht sie es mit einem Trick: Sie legt ein nur leicht modifiziertes,von der Linken 2015 blockiertes Projekt der rechtsliberalen Vorgängerregierung zur Abstimmung vor. Ein mittelmäßiger Beschluss ist besser als gar keine Regelung. Es gilt, ein paar Monate Atempause zu gewinnen.
Der Alltag ist von solchen taktischen Manövern geprägt. Theatralisch wirft die Opposition den Vertreterinnen von Barcelona En Comú „Stümperei“ vor, die Hauptanstrengung der Stadtregierung besteht darin, sich vor den Medien keine Blöße zu geben. Nur einen einzigen Verbündeten hat die Regierung von Ada Colau im Kommunalparlament: ausgerechnet die PSC, die in den 1990er Jahre die auf Massentourismus setzende „Marke Barcelona“ entwickelte und damit die Verdrängung der ärmeren Bevölkerung aus der Innenstadt in Gang setzte. Die 4 Stimmen der spanischen Sozialdemokratie helfen Barcelona En Comú zwar auch nicht weiter als die 3 Stimmen der linksradikalen CUP, aber viele vermuten, dass es bei diesem Pakt letztlich um etwas anderes geht. Die Tageszeitung El Periódico und ein wichtiger Teil des Verwaltungsapparates gelten als PSC-nah. Durch die Koalitionsvereinbarung mit den SozialdemokratInnen hofft die Stadtregierung von Ada Colau die Widerstände zu reduzieren.
Das zweite große Thema neben dem Moratorium für Ferienwohnungen ist an diesem Tag der Bau einer neue Straßenbahnlinie. Vorgestellt wird das Vorhaben von Mercedes Vidal. Die 34jährige Kommunistin ist seit einem Jahr Chefin der Verkehrsbetriebe von Barcelona, und hat in diesem Zeitraum bereits den größten Konflikt der neuen Legislaturperiode zu verwalten gehabt: den Streik der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CGT im öffentlichen Nahverkehr. Bürgermeisterin Ada Colau weigerte sich, mit den Angestellten der Verkehrsbetriebe über eine Lohnerhöhung zu verhandeln, solange die Gewerkschaft ihren Streikaufruf nicht zurückzog. Außerdem seien die Löhne der Bus- und U-Bahnfahrer vergleichsweise hoch. Die CGT verwies darauf, dass es bei den Verkehrsbetrieben hochdotierte Beraterverträge gebe, die die neue Stadtregierung nicht nur übernommen, sondern sogar verlängert habe. Wenn Ada Colau sparen wolle, dann doch am Besten bei den Spitzengehältern. Doch offensichtlich braucht die Stadtregierung jene Berater, von denen viele aus den Reihen der Sozialdemokratie und der ebenfalls lang in Barcelona regierenden Linksgrünen stammen. So schwelt der Arbeitskampf weiter: Die CGT fordert ein Ende der prekären Beschäftigung, die Regierung Ada Colau will in erster Linie Tariferhöhungen für die Bevölkerung verhindern.
Die Kommissionssitzung zieht sich hin. Auch in der Frage der neuen Straßenbahntrasse kommt es zu parteipolitischen Selbstinszenierungen. Leicht entnervt verlasse ich den Plenarsaal. Doch David Balbas von Barcelona En Comú scheint das Spektakel wenig auszumachen. Als ich frage, ob sich der Gang in die institutionelle Politik nicht als Fehler erwiesen habe, ist er ehrlich überrascht. Er habe jahrelang erfolglos protestiert, jetzt könne man endlich etwas durchsetzen. Tatsächlich legt die Stadtregierung gerade ein kommunales Wohnungsbauprogramm auf, verfolgt verfolgt eine Gender- und Gleichstellungspolitik, hat die städtischen Sozialausgaben erhöht und fördert die Entwicklung von Genossenschaften. Es gibt sie durchaus, die wichtigen Erfolge. Trotzdem sei doch absehbar, dass sich Barcelona En Comú in den Institutionen abnutzen werde. Transformatorische Politik brauche aber eine Strategie, um stärker zu werden – eine Gegenmachtperspektive. Balbas wirkt erneut überrascht. Man werde einfach so gut regieren, dass man nach den nächsten Wahlen über eine eigene Mehrheit verfüge, sagt er zuversichtlich.
Möglicherweise ist das Problem von Barcelona En Comú ganz ähnlich wie das von Podemos. Die 15M-Bewegung hat eine neue Generation von AktivistInnen hervorgebracht, von denen viele hervorragend ausgebildet sind. Mit den Wahlen sind viele von ihnen in politische Verantwortung gekommen. Allein in Barcelona arbeiten heute 300 ehemalige Bewegungslinke, fast alle zwischen 30 und 40 Jahre alt, und über Podemos sind angeblich weitere 3000 AktivistInnen im ganzen Land zu einer Anstellung gekommen. Sie tragen andere Ideen und ein direktdemokratisches Politikverständnis in die Institutionen, sie stärken das Gemeineigentum stärken, beschränken die eigenen Gehälter und wollen den Kapitalismus überwinden. Wie Grüne oder Piraten in Mitteleuropa sind sie nicht – und doch scheint die „demokratische Revolution“ überraschend schnell im Treibsand der gesellschaftlichen Machtverhältnisse stecken zu bleiben.
David Balbas hat auch darauf eine Erwiderung parat: „Gibt es im Moment etwas Sinnvolleres, als es trotzdem zu probieren?“ Ich bin froh, dass ich darauf keine abschließende Antwort geben muss.
Raul Zelik