urna2Nachdem diese Woche Millionen Menschen in Katalonien für das Selbstbestimmungsrecht und gegen Polizeigewalt auf der Straße waren, ist heute erst mal wieder relative Normalität eingekehrt. Auf den Plätzen sieht man nur vereinzelt ein paar Leute Transparente malen. Ansonsten nutzen viele nach einer Woche auf der Straße die Ruhe, um einzukaufen oder Wäsche zu waschen. Ein paar Beobachtungen aus dem Alltag und Einschätzungen zur weiteren Entwicklung.

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Da die EU so politisch offensichtlich nicht werden will, ist die Schweiz als Vermittler eingeschaltet worden. Was verhandelt werden soll, ist allerdings ziemlich unklar. Für den spanischen Nationalismus, der bis weit in die politische Linke reicht, geht es um Verteidigung der nationalen Einheit. Ein großer Teil der katalanischen Gesellschaft hingegen hat den Bruch mit Spanien hingegen endgültig vollzogen. Die Wahlen haben das deutlich gemacht. Wenn 40% der Wahlberechtigten trotz Verbot und massiver Polizeipräsenz für die Unabhängigkeit stimmen, wenn sie bereit sind, stundenlang im Regen zu warten und sich zusammenschlagen zu lassen, dann kann man wohl davon ausgehen, dass die Legitimation des Staates in einem beträchtlichen Teil der Gesellschaft zerbrochen ist.

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In der Unabhängigkeitsbewegung diskutiert man die weiteren Schritte. Der Abzug von Großbanken und anderer Konzerne aus Katalonien scheint die Leute viel weniger zu erschrecken, als man vielleicht vermuten würde. Gemeinden kündigen ihre Bankkonten bei Caixa und Banco de Sabadell, der britische Autor Paul Mason interpretiert die Situation als Chance für den Aufbau eines öffentlichen Bankenwesens.
Allerdings fragen sich viele Leute – sowohl bürgerliche Politiker wie der Ex-Ministerpräsident Artur Mas als auch Linksradikale aus der CUP –, wozu man jetzt die Unabhängigkeit erklären soll, wenn man sie danach nicht umsetzen kann und sich politisch damit nur isoliert. Das ist das Eine. Das Andere ist allerdings, dass ein großer Teil der Bevölkerung nicht mehr zurück will. Katalonien sucht seit 2004 Kompromisse mit dem spanischen Staat; Madrid hat darauf nur mit Drohungen und Repression reagiert. Und der Antikatalanismus in den spanischen Medien wird immer unverhohlener.

Diskutiert wird daher ein Zwischenschritt, nämlich die Ausrufung der katalanischen Republik und die Einberufung eines verfassunggebenden Prozesses (mit Bürgerversammlungen in den Stadtteilen) ohne sofortige Ausrufung eines unabhängigen Staates. Das würde Raum für Verhandlungen lassen und wäre ein Angebot zur demokratischen Beteiligung an alle. Vor allem aber würde es eine These der Linken aufgreifen: Die Republik darf nicht von oben proklamiert, sondern muss von unten aufgebaut werden.

Es heißt, dass auch die Regierung um den bürgerlichen Ministerpräsident Carles Puigdemont ein derartiges Modell – das die demokratische Souveränität der BürgerInnen in den Mittelpunkt stellen würde – befürwortet. Ob er sich dem europäischen Druck widersetzen wird, steht in den Sternen.
Puigdemont wird auf jeden Fall am Dienstag vor dem Parlament sprechen.

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Gleichzeitig macht die spanische Rechte mobil. Die Organisation „Sociedad Civil Catalana“ ruft für den morgigen Sonntag und für den Nationalfeiertag am 12. Oktober („Dia de la Hispanidad“) zu Demonstrationen in Barcelona auf. Aus ganz Spanien sollen Busse kommen. Schriftsteller Mario Vargas Llosa will dabei sein, zahlreiche Nazi-Organisationen, aber auch Politiker der spanischen Sozialdemokratie (PSC-PSOE) unterstützen die Demonstration. In Madrid hängen schon jetzt auffallend viele Nationalfahnen an den Balkonen.

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Auch Podemos, Izquierda Unida und Barcelonas Bürgermeisterin Ada Colau hatten heute zu Demonstrationen aufgerufen – allerdings nicht in Nationalfahnen, sondern in weiß. Die Kundgebungen haben eine positive, aber auch eine problematische Seite: Sie stellen sich dem Rechtstrend in der spanischen Gesellschaft entgegen, postulieren gleichzeitig aber eine falsche Äquidistanz. Im Diskurs der spanischen Linken erscheinen die Regierungen Rajoy und Puigdemont, die Fahnen der spanischen Monarchie und Kataloniens gleich verachtenswert. Aber man darf nicht vergessen: Die katalanische Regierung hat mit Zehntausenden BürgerInnen das gemacht, was Ada Colau und Pablo Iglesias immer gefordert haben: Sie hat ein demokratisches Referendum organisiert, damit die Bevölkerung von Katalonien selbst entscheiden kann. Die spanische Regierung hat das mit brutaler Gewalt zusammenprügeln lassen und lässt Politiker vor Gericht stellen.

Podemos Katalonien hat die Position von Podemos-IU-Comunes deshalb in einem Kommunique kritisiert: Dialog sei die richtige Forderung, aber an erster Stelle stehe das demokratische Recht der Menschen, ihr Schicksal selbst zu entscheiden. "Bei einem möglichen Verhandlungsszenario werden wir nicht neutral sein, (...) wir werden auf Seiten der katalanischen Institutionen und vor allem der Menschen stehen, die sich selbst ermächtigt haben, die die Gewalt erlitten und ihren Körper einsetzten, um Rechte und Freiheiten zu verteidigen."

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Die Gespräche hier kreisen immer wieder darum, wie unfassbar die Ereignisse der letzten Tage gewesen sind. Noch nie habe man eine solche Selbstorganisierung erlebt, erzählen AktivstInnen. In Barcelona hatten viele Elternversammlungen ihre Schulen schon 48 Stunden vor dem Referendum besetzt, um die Wahllokale vor der Polizei zu sichern. Die Bäckerin, die Verkäuferin im Fischgeschäft, die Rentnerin – alle haben für den Generalstreik am 3. Oktober geworben. Auf den Plätzen gab es Vollversammlungen, auf denen Streikkomitees (piquetes) gebildet wurden.

Über das Referendum werden aber noch viele andere Geschichten erzählt. Zum Beispiel, dass die katalanische Regierung die Wahlurnen auf der französischen Seite verstecken und dann von Freiwilligen konspirativ ins Land schmuggeln ließ. Der Ort, wo die Urnen lagerten, konnte kaum symbolischer gewählt sein: im französisch-katalanischen Elne, wo Antifaschisten in den 1940er Jahren Republikaner aufnahmen und 600 jüdische Kinder vor den Nazis in einem Waisenhaus versteckt und gerettet wurden.

Tausende von Freiwilligen haben die Urnen und Zugangsdaten klandestin geschmuggelt und zu den Wahllokalen gebracht, weil die spanische Polizei seit Anfang September Jagd darauf machte. Und auch Hacker-Legenden sind geschrieben worden: Die katalanische Regierung aktivierte am Morgen des Referendums den digitalen „Universal-Zensus“. Damit konnten Wahlberechtigen in allen Wahllokalen ihre Stimme abgeben. Die WählerInnen wurden nach ihrer Stimmabgabe aus dem digitalen Verzeichnis ausgetragen, damit sie nur einmal wählen konnten.

Die spanische Regierung hat den ganzen Tag über Server sperren lassen, um dieses System lahm zu legen. Die Hacker haben das System immer wieder aktiviert und dafür gesorgt, dass es auf anderen Server zur Verfügung gestellt werden konnte. Man kann sich vorstellen, was das für eine ungeheure Anstrengung war, wenn man weiß, dass die WahlhelferInnen im Morgengrauen in 2400 Wahllokalen die entsprechenden Programme aus dem Internet herunterladen mussten. Die Rechner mussten die Leute  selbst stellen.

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Katalanische FreundInnen erzählen vom großen Enthusiasmus dieser Tage. Vom Fest proletarischer Selbstorganisierung im Viertel. Aber auch von einer großen Traurigkeit. Eine Freundin sagt: „Wir haben uns sehr allein gefühlt. Niemand von unseren Freunden oder Angehörigen aus Madrid hat angerufen, um zu fragen, wie es uns geht. Niemand hat uns nach unserer Wahrnehmung gefragt, fast niemand hat sich mit unserer Rebellion solidarisiert.“

Und viele meinen, sie hätten gemerkt, dass sie von Europa und Spanien, auch von der Linken, nicht viel zu erwarten haben.

 

 

 

 

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Kopfbild Freddy Sanchez Caballero / Kolumbien