comunaSchon die ersten Augenblicke im Land zeigen das ganze Ausmaß der venezolanischen Krise: Wer nicht illegal bei Taxifahrern tauschen will und deshalb die staatliche Wechselstube aufsucht, ist mit einer Situation à la Monty Python konfrontiert. Drei Angestellte sitzen hinter Panzerglas und warten darauf, dass ihre Schicht zu Ende ist. Es geht zwar nur um 20 Dollar, aber seit die bolivarische Regierung Finanzspekulation und Kapitalflucht mit Hilfe von Umtauschbeschränkungen zu bekämpfen versucht, sind Devisengeschäfte in Venezuela stark reglementiert. Der Geldwechsel darf nur mit Ausweispapieren vollzogen werden.

Die jüngste der drei Angestellten, die den Pass entgegennimmt, hat die Arbeit offensichtlich noch nicht oft gemacht. Vielleicht will sie einem auch nur eine Möglichkeit geben, es sich noch einmal anders zu überlegen. Geschlagene 15 Minuten braucht sie, um Namen und Passnummer in ihr System einzutragen. Dann endlich händigt sie die Landeswährung aus: Nach Abzug von Kommission und Gebühren etwa 120 Bolívares – gerade einmal genug, um zwei winzige Milchkaffees im Plastikbecher zu trinken.

Vier verschiedene Wechselkurse

In dieser Momentaufnahme zeigen sich Venezuelas Probleme verdichtet. Der offizielle Dollarkurs liegt bei 6,3 Bolívares, auf dem Schwarzmarkt jedoch werden 175 gezahlt, dazwischen gibt es noch weitere 2 offizielle Umtauschkurse: der eine 1:12, der andere 1:50. Da sich die Preise für Konsumgüter am Schwarzmarktkurs orientieren, ist das Monatsgehalt eines mittleren Angestellten auf 50-60 Dollar abgestürzt. Zwar hat der Staat Millionen VenezolanerInnen in Brot und Lohn gebracht, aber er ist noch ineffizienter geworden. Die öffentliche Verwaltung funktioniert in der Regel noch schlechter als die Wechselstube. Das liegt auch daran, dass die meisten VenezolanerInnen nicht von ihrer Arbeit, sondern von Parallelgeschäften leben: Devisenhandel, Spekulation oder Verkauf von Waren, die der Preiskontrolle unterworfen und dementsprechen knapp sind – darunter viele Produkte des alltäglichen Gebrauchs: Trinkwasser, Klopapier, Seife.

Und nicht zuletzt auch die Mieten sind explodiert. Jene Teile der Mittelschicht, die Wohnraum besitzen, halten ihr Konsumniveau, indem sie die Mieten in die Höhe treiben. Die venezolanische Krise ist allgegenwärtig.

Dabei ist es keineswegs so, dass sich in den letzten Jahren in Venezuela nichts positiv verändert hätte. In Caracas stechen die Unterschiede zu anderen lateinamerikanischen Großstädten, aber auch zu den Metropolen der Industriestaaten ins Auge. Es gibt – anders als in Bogotá, Berlin oder New York – kaum Straßenarmut. Die Innenstadtviertel sind saniert, ohne dass eine Verdrängung stattgefunden hätte. Gerade die ärmsten Caraqueños nutzen die neu eröffneten staatlichen Kinos und Kultureinrichtungen im Zentrum. Die Fußgängerzone ist voll mit shoppenden ArbeiterInnen, der öffentliche Nahverkehr wurde stark ausgebaut. Neue Bus- und Zuglinien verbinden Caracas mit den Vororten, an den Hängen gelegene Armenviertel sind mit Seilbahnen ans Verkehrsnetz angeschlossen worden. Die Metro ist zwar den ganzen Tag über heillos überfüllt, dafür aber praktisch kostenlos.

In den großen Medien wird selten darüber gesprochen, aber tatsächlich ist die Sozialpolitik Venezuelas in vieler Hinsicht vorbildhaft. In einer Gesellschaft, in der in den 1990er Jahren drei Viertel der Bevölkerung unter extrem prekären Bedingungen arbeitete und lebte, garantiert der Staat heute die materielle Grundversorgung. Nahrungsmittel werden in Supermärkten oder durch die LKW der staatlichen Ernährungsprogramme zu Niedrigpreisen verkauft. 600.000 Sozialwohnungen sind errichtet und verteilt worden. Und auch wenn die Gesundheitsversorgung in den öffentlichen Krankenhäusern von Mangel geprägt ist, funktioniert die Erstversorgung in den Armenvierteln tadellos. Das Problem Venezuelas ein anderes: Auch wenn sich sozialpolitisch viel getan hat, ist die ökonomischen Struktur weitgehend die alte.

Anlagen verrotten im Zoll

„Es wird einfach nicht produziert.“ Alberto Torres, in Spanien geboren, aber schon in den 1990er Jahren eingebürgert, ist ein Revolutionär der ersten Stunde. Seit 15 Jahren arbeitet er im Agrarministerium, wo er den Aufbau von Genossenschaften begleitet und die einheimische Lebensmittelproduktion anzukurbeln versucht hat. Nach mehr als einem Jahrzehnt linker Politik fällt seine Bilanz fällt ernüchternd aus.

„Wir haben in den letzten 12 Monaten versucht, eine Gemüsefarm außerhalb von Caracas aufzubauen. Die Gewächshäuser haben wir importiert, das Ministerium hat 50 Arbeiter angestellt.“ Der 55jährige Torres muss lachen, als er die Geschichte erzählt. „Die Anlage ist ein Jahr im Zoll liegen geblieben. Wir haben die Arbeiter fürs Nichtstun bezahlt. Die hatten im Übrigen auch keinen Bock zu arbeiten ... Der Zoll hat die Anlagen nicht rausgerückt. Dabei war das ein Staatsprojekt! ... Wenn wir von einem Privatkonzern gewesen wären, hätten wir die Gewächshäuser sofort  bekommen. Wir hätten einfach Schmiergeld bezahlt. Aber so war nichts zu machen.“

Die venezolanische Regierung erklärt solche Vorfälle mit Sabotage und Konspirationen. Doch Torres lässt diese Erklärung nicht gelten: „Natürlich gibt es so was wie einen Wirtschaftskrieg und wollen die USA die Regierung mit allen Mitteln stürzen. Aber die Hauptgründe der Krise sind andere. Dass so viele Grundprodukte, die der Preiskontrolle unterliegen, nicht im Supermarkt zu haben sind, hat einen ganz simplen Grund: Mit ihnen lässt sich auf dem Schwarzmarkt sehr viel Geld verdienen.“

Noch deutlicher sei der Zusammenhang beim Schmuggel. „In den Grenzgebieten zu Kolumbien mischen alle mit: Rechte, Chavisten, kolumbianische Guerilleros, Drogenmafia, normalen Bauern – alle. Ganz einfach, weil die Gewinnmargen so unvorstellbar hoch sind. Ein Galon Benzin kostet in Kolumbien 200 so viel wie in Venezuela.“

Dabei macht Torres nicht in erster Linie Präsident Maduro, dessen Zustimmungswerte bei Umfragen auf dramatische 22% eingebrochen sind, für die Situation verantwortlich. Das Problem habe mit der ökonomischen Struktur des Erdölstaats zu tun, so Torres. „100 Jahre Petro-Dollars haben die VenezolanerInnen daran gewöhnt, dass es sich besser leben lässt, im Staat einen Posten zu ergattern oder Konsumgüter zu importieren als produktiv zu arbeiten ... Dass der Zoll die Anlage für die Gewächshäuser nicht rausgerückt hat, ist ein Ausdruck davon. Es ist den Leuten einfach egal. “

Tatsächlich haben sich die strukturellen Probleme der venezolanischen Ökonomie unter dem Chavismus noch verschärft. 15 Jahre Revolution haben den „Rentismus“, alsodie unproduktive, konsumorientierte Rohstoffökonomie demokratisiert. Zwar haben korrupte Seilschaften auch im vergangenen Jahrzehnte Milliardenbeträge auf Privatkonten geschafft, aber insgesamt wurden die Einnahmen besser verteilt. Ermöglicht wurde das nicht nur durch die Schaffung von Arbeitsplätzen, sondern auch durch den Aufbau staatlicher Banken, die bei der Zuteilung von Kreditkarten und Überziehungsrahmen großzügiger vorgehen als Privatbanken. Die hohe Inflation, die heute je nach Quelle zwischen 40 und 70% beträgt, ist in diesem Zusammenhang nicht einfach das Resultat einer verfehlten Wirtschaftspolitik, sondern auch einer besseren Verteilung des Reichtums. Die Preise steigen rasant, weil mehr Menschen am Konsum teilhaben können.

Das Problem ist allerdings, dass dieses Modell das Jahr 2015 nicht überleben wird. Der Ölpreis ist von 140 Dollar pro Barrel im Jahr 2008 auf unter 50 Dollar gefallen – wegen der Fracking-Technik, aber auch wegen der US-Militärinterventionen im Irak und Libyen, die die OPEC als Preiskartell zerstört haben.

Die Regierung Maduro muss einen radikalen Kurswechsel vornehmen und sich vom „Rentismus“ verabschieden. Das Problem ist jedoch, dass sie dafür Maßnahmen wie die Streichung der Treibstoffsubventionen oder die Bolívar-Abwertung vornehmen müsste, die im Land als Inbegriff neoliberaler Politik gelten.

Dabei hat der Minister für Kommunen Elias Jaua, neben Maduro und General Diosdado Cabello wichtigster Mann in der Staatsführung, die Herausforderung in einem Papier Mitte Januar deutlich benannt: „Der Rentismus zieht nicht nur eine Abhängigkeit vom Öl und dem Weltmarktpreis nach sich, sondern auch eine Kultur, in der unablässig um die Öl-Rente gekämpft wird. Und das wiederum führt zu einer Spekulationskultur, die sich wie Gift im kapitalistischen System Venezuelas ausbreitet“.

Jaua und wohl auch Präsident Maduro selbst haben durchaus eine Vorstellung davon, wo es hingehen müsste. Mit Unterstützung des von Jaua geleiteten Kommune-Ministeriums sind auch in den letzten Jahren beeindruckende Selbsthilfeprojekte entstanden. Bewohner von Armenvierteln haben im ganzen Land Hunderte selbstverwaltete Wohnungsbauprojekte realisiert. Die neuen Siedlungen liegen teilweise in den besten Wohngegenden von Caracas: Auf illegal besetzten Brachflächen haben Stadtteilbewegungen neue Wohnblöcke für bis zu 1000 BewohnerInnen gebaut. Das Bemerkenswerte daran ist, dass die BewohnerInnen ihre Projekte selbst geplant und gebaut haben. Die Rolle des Staates hat sich darauf beschränkt, Geld für die Baumaterialien zu Verfügung zu stellen. Auf diese Weise hat man deutlich preisgünstiger gebaut als im staatlichen Wohnungsbau üblich, v.a. aber sind echte Gemeinschaftsstrukturen entstanden – jene „Volksmacht“, von der im Land so viel die Rede ist.

Zu solchen Formen demokratisch-solidarischer Eigenverantwortung müsste Venezuela kommen, wollte man aus dem Teufelskreis von Öl-Reichtum, Korruption, Ineffizienz und Weltmarktabhängigkeit ausbrechen. „Wenn wir nicht in den neoliberalen Alptraum zurückfallen wollen, aus dem wir 1998 erwacht sind, müssen wir unseren Kurs korrigieren“, schreibt Minister Elias Jaua, „aber nicht nur die bolivarische Regierung, sondern die ganze Gesellschaft.“

Doch ob dieser Politikwechsel noch möglich ist, steht in den Sternen. Der chavistische Apparats ist in den Augen der Bevölkerung gründlich diskreditiert, und die rechte Opposition, die bereits Anfang 2014 bewiesen hat, dass sich vor bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen nicht zurückschreckt, sitzt bereits in den Startlöchern: Oppositionsführer Capriles hat zu Protesten aufgerufen, und die Ultrarechte in Kolumbien und den USA setzt auch weiterhin auf einen gewaltsamen Sturz des Chavismus. Eine fast aussichtslose Lage für das erste anti-neoliberale Projekt der 2000er Jahre.

Kasten

Die Wirtschaftslage Venezuelas hat sich in den vergangenen Monaten dramatisch zugespitzt. Verschiedene Rating-Agenturen haben venezolanische Staatsanleihen auf Ramschniveau herabgestuft, große Fonds spekulieren auf die Zahlungsunfähigkeit des südamerikanischen Landes. Auf dem Schwarzmarkt hat sich der Wert des Dollar in 6 Wochen verdoppelt, das staatliche Haushaltsdefizit liegt mit geschätzten 15-18% extrem hoch.

Zu retten versucht sich Venezuela nicht zuletzt durch eine stärkere Anbindung an China. Wie Argentinien, das seine Zahlungsunfähigkeit im vergangenen Sommer relativ problemlos überwinden konnte, indem es sich in China mit frischem Kapital versorgte, versucht auch die Regierung Maduro sich dem Druck von Finanzmärkten und IWF durch eine stärkere Orientierung nach Ostasien zu entziehen. So unterzeichnete die Regierung in Caracas Anfang Januar neue Kooperationsverträge in Höhe von 20 Milliarden US-Dollar.

Doch diese Vereinbarungen, mit denen sich China langfristigen Zugang zum venezolanischen Öl sichert, werden nicht reichen, um die Krise zu bewältigen. Seit Monaten drängen chavistische Ökonomen die Regierung, die staatliche Devisenvergabe, die v.a. Spekulation und Korruption fördert, sowie die populären, aber unsinnigen Treibstoffsubventionen abzuschaffen. Präsident Maduro jedoch schiebt diese Maßnahmen – aus Angst vor Sozialprotesten und dem Widerstand der Eliten im Staatsapparat – immer wieder auf.

Raul Zelik

 

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Kopfbild Freddy Sanchez Caballero / Kolumbien