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Regierungskontinuität, Rechtsruck, Bürgerkrieg oder populare Demokratisierung - nach Chávez' Tod sind zunächt alle Szenarien in Venezuela denkbar.

Ein aktualisierter Text über die mögliche Zukunft des Chavismus als lateinamerikanisch-soziales Reformprojekt.

Der politische Wechsel, der nach dem Tod von Präsident Chávez ansteht, stellt die venezolanische Linke vor enorme Probleme. In den vergangenen 20 Jahren war der „bolivarische Prozess“ so eng mit der Figur des Präsidenten verwoben, dass man sich ein linkes Projekt ohne diesen nicht recht vorstellen konnte: Dass Basisbewegungen, Militärs, linke GewerkschafterInnen und Teile der Mittelschichten in den 1990er Jahren überhaupt zu einer politischen Bewegung zusammenfinden konnten, war Chávez‘ Charisma und seiner (den Bolivarismus in viele Richtungen offen haltenden) Ambiguität geschuldet. Wenn die Bewohner der Armenviertel zwischen 2002 und 2005 immer wieder massenhaft gegen rechte Umsturzversuche im Land auf die Straße gingen, dann deshalb, weil die nicht-weiße Mehrheit der VenezolanerInnen sich durch den Präsidenten erstmals politisch repräsentiert sah. Und dass der Veränderungsprozess trotz des unübersehbaren Aufstiegs einer neuen „bolivarischen“ Staatsbourgeoisie bis heute nach wie vor breite Unterstützung genießt, hatte schließlich auch weniger mit der Politik der Regierung als solcher als mit der Glaubwürdigkeit ihres Präsidenten zu tun.

Das Problem der „bolivarischen Revolution“ besteht aber nicht nur darin, dass Chávez‘ Popularität fehlen wird. Nicht minder gravierend ist, dass das Regierungslager über kein eindeutig definiertes politisches Projekt verfügt. Der Chavismus setzt sich aus heterogenen Interessen und Strömungen zusammen. Allein in der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei (PSUV) lassen sich mindestens vier Flügel ausmachen: Neben der Gruppe um Vizepräsident Nicolás Maduro, der als Kandidat der venezolanischen Linken in den Präsidentschaftswahlkampf gehen wird, gibt es die Fraktion um den Ex-Militär Diosdado Cabello, den Basisgruppen als Vertreter der aufstrebenden „Boli-Bourgeoisie“ bezeichnen. Eine dritte Strömung, die von Rafael Ramírez, dem Chef des staatlichen Ölkonzerns PDVSA, repräsentiert wird, will die ölfinanzierte Wohlfahrtspolitik vertiefen und verfolgt eher sozialdemokratische Ziele. Eine vierte Position schließlich nimmt Ex-Vizepräsident Elias Jaua ein, der der wichtigste Ansprechpartner für die sozialen Bewegungen in der Regierung. (Welche Rolle Jaua, der erst vor wenigen Wochen zum Außenminister ernannt wurde, in der venezolanischen Innenpolitik spielen wird, ist jedoch unklar.)

Neben diesen Fraktionen in der Regierungspartei PSUV gibt es zudem zahlreiche Gruppen, die sich zwar der „bolivarischen Revolution“ und ihrem „Comandante“ verpflichtet fühlen, den Staatsfunktionären jedoch abgrundtief misstrauen. Bemerkenswerterweise hat gerade dieses ungeklärte Verhältnis die Reformpolitik im Land bislang in Gang gehalten. Basisbewegungen fanden in der Regierung und v.a. in Chávez selbst einen Ansprechpartner, blieben gegenüber den staatlichen Strukturen aber auf Distanz und konnten so nicht völlig kooptiert werden. Es ist fraglich, ob diese widersprüchliche, aber eben auch produktive Konstellation auch ohne Chávez Bestand haben wird.

Eine Erneuerung des Prozesses?

Die „bolivarische Revolution“ steht also tatsächlich an einer Wegscheide. Ein Zerfall des Chavismus ist denkbar, doch wie jede Krise birgt auch diese ihre Chancen. So mag die Fixierung auf Chávez in Venezuela zwar manches in Gang gesetzt haben: Der Präsident hat die subalterne Mehrheit immer wieder zur Selbstorganisierung ermuntert und dadurch verhindert, dass rein formale, institutionalisierte Demokratieformen die Überhand gewinnen. Doch andererseits hat die Überhöhung des „Comandante“ aber eben auch vieles blockiert. Es ist keine Kleinigkeit, dass in Venezuela auch nach 14 Jahre nach Beginn der „Revolution“ offen über alles diskutiert werden – in vielen Ländern, in denen in der Vergangenheit grundlegende Veränderungen auf der Tagesordnung standen, war das anders. Gleichzeitig aber gibt es in Venezuela eben auch kaum kritische Debatten in der Linken selbst. Wenn in der Vergangenheit Diskussionen in Gang kamen, dann meist nur, weil Chávez auf einen Text oder eine Kritik verwies.

Insofern stand sowieso – mit oder ohne Chávez – eine Erneuerung der „bolivarischen Revolution“ an. Ob der Chavismus die notwendige Kraft dafür besitzt, ist völlig offen. Von der Regierungspartei PSUV ist wenig zu erwarten. Ihre Strukturen sind zu stark von der Klientel-Logik des Erdölstaats geprägt, in dem die Staatsfunktionäre fast zwangsläufig symbiotische Beziehungen zu Bauunternehmen und Handelskonzernen ausbilden. Die sozialen Bewegungen wiederum sind zu schwach und unorganisiert, um dem Prozess ihren Stempel aufdrücken zu können.

Doch andererseits darf man Venezuela auch nicht unterschätzen. In den vergangenen 25 Jahren hat die populare Mehrheit erst den Neoliberalismus, dann das traditionelle politische System zu Fall gebracht. Sie hat „ihren“ Präsidenten gegen Umsturzversuche verteidigt und sich doch eine Autonomie gegenüber dem Staat bewahrt. Und sie verfügt über ein Wissen, auf das man in anderen Teilen der Welt nur selten zurückgreifen kann: Sie weiß, dass Märkte keine ‚Wahrheit sprechen‘ und eine andere Verteilung des Reichtums möglich ist.

Für die venezolanische Linke mag die Situation also kompliziert sein. Doch auch für die Rechte birgt sie Gefahren. Sollte sie – allein oder in einem Bündnis mit den unternehmerfreundlichen Sektoren des Bolivarismus – an die Regierung zurückkehren, wird sie sich einem breiten gesellschaftlichen Widerstand gegenübersehen. Denn es ist kaum davon auszugehen, dass sich die Bevölkerungsmehrheit die Errungenschaften des vergangenen Jahrzehnts widerstandslos wieder abnehmen lassen wird. Allzu repressiv kann die neoliberale Rechte, wenn sie keinen Bürgerkrieg riskieren will, nicht vorgehen. Vor diesem Hintergrund ist durchaus vorstellbar, dass die Wirtschaftsverbände und nicht zuletzt auch Washington eher auf einen schleichenden Zerfall des chavistischen Projekts als auf einen schnellen Regierungswechsel hinarbeiten werden.

Doch möglicherweise wird dieser Zerfall ausbleiben. Aktuelle Umfragen deuten darauf hin, dass auch Nicolás Maduro die bürgerliche Rechte bei Präsidentschaftswahlen, die nun anberaumt werden müssen, schlagen kann. Und die Tatsache, dass die seit vielen Jahren aufgeschobene und vom Chavismus wegen ihrer Inflationsdynamik gefürchtete Währungsabwertung Anfang Februar, d.h. bereits unter Führung von Nicolás Maduro, ohne größere Probleme umgesetzt wurde, verweist ebenfalls auf eine bemerkenswerte Stabilität. Der Chavismus als lateinamerikanisch-soziales Reformprojekt besitzt also durchaus das Potenzial, auch ohne seinen Gründer zu bestehen.

Regionale Perspektiven

Klarer als das innenpolitische Panorama ist hingegen das regionale Szenario. Für Lateinamerika bedeutet der Abtritt von Chávez einen herben Verlust – und das obwohl der Antiimperialismus Venezuelas, so z.B. die demonstrative Freundschaft mit den Regierungen Irans oder Weißrusslands, oft nur als krude zu bezeichnen war. Doch trotz dieser haarsträubenden Schulterschlüsse mit anti-amerikanischen Rechtsregierungen in der ganzen Welt hat die chavistische Außenpolitik in Lateinamerika eben auch viel bewirkt. Die Distanzierung von Washington und der geschickte Einsatz des Erdöls als bündnispolitisches Mittel haben dazu beigetragen, dass die wirtschafts-, sozial- und fiskalpolitischen Spielräume auf dem Subkontinent heute sehr viel größer sind als noch vor 20 Jahren. Viele Länder haben ihre Rohstoffvorkommen teilweise re-nationalisiert. Durch den Aufkauf von Staatsschulden (nicht zuletzt durch Venezuela) wurde der Internationale Währungsfonds weitgehend entmachtet, und mit der Renaissance des (zumindest teilweise) gegen Märkte und internationale Finanzeinrichtungen intervenierenden Staates hat auch die Sozial-, Gesundheits- und Bildungspolitik wieder an Bedeutung gewonnen. Lateinamerika verfügt mit UNASUR heute über eine eigene, nicht von Washington kontrollierte Staatengemeinschaft, hat seine wirtschaftlichen und außenpolitischen Beziehungen diversifiziert, und Brasilien als wichtigster Akteur in der Region positioniert sich zunehmend als Bollwerk gegen die Interventionsversuche der USA auf dem Subkontinent.

Natürlich ist vieles an dieser neuen Eigenständigkeit Lateinamerikas widersprüchlich: Die Schulden beim IWF wurden durch Milliardenkredite in China ersetzt. Der Rückzug europäischer Konzerne aus linksregierten Staaten wie Bolivien ist mit dem Vormarsch brasilianischen Kapitals einhergegangen. Dass die von Chávez initiierte internationale Banco del Sur sechs Jahre nach ihrem Gründungsbeschluss immer noch nicht arbeitet, hat nicht zuletzt mit den Interessen der Brasilianer zu tun. Die verfügen nämlich über eine eigene staatliche Entwicklungsbank, deren Existenz den einheimischen Baukonzernen den Zugang zu Großprojekten sichert.

Doch wer daraus folgert, dass in Lateinamerika nur eine für die Bevölkerung unbedeutende Verlagerung der Dominanz stattfindet – weg von den USA hin zu Brasilien oder China –, verkennt wichtige Details. Die Unterordnung Lateinamerikas unter die USA und Westeuropa wurde auf verschiedene Weise gewährleistet: Militärinterventionen spielten dabei ebenso eine Rolle wie die internationale Finanzarchitektur und die unangetastete politische Vormachtstellung Washingtons. Heute bewegt sich der Subkontinent zwischen verschiedenen Machtpolen – was die Bewegungsspielräume für eine nationalstaatliche und bisweilen auch demokratische Politik deutlich erweitert.

Wird diese Verschiebung ohne Chávez weitergehen? Zumindest der sozialpolitische und gesellschaftliche Aspekt wird mit Sicherheit in den Hintergrund geraten. Chávez war im vergangenen Jahrzehnt der wichtigste Garant dafür, dass die lateinamerikanische Integration nicht ausschließlich wirtschafts- und geopolitisch interpretiert wurde. Es war seiner Haltung zu verdanken, dass Venezuela nicht nur Kooperationsabkommen mit der brasilianischen Regierung oder dem Ölkonzern PETROBRAS, sondern auch mit der brasilianischen Landlosenbewegung MST unterzeichnete. Ob sein Nachfolger, der deutlich weniger politisches Gewicht mitbringen wird, an einer derartigen Position interessiert ist und im Stande sein wird, sie durchzusetzen, ist stark zu bezweifeln.  

Raul Zelik

 

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