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Caracas, unweit der U-Bahnstation California. Hier im Osten der venezolanischen Hauptstadt treffen Miami und Lagos, Apartmentsiedlungen und Armenviertel aufeinander. Oberhalb der der vom Verkehrkollaps gebeutelten Avenida Francisco de Miranda stehen verschachtelte Ziegelbauten, unterhalb mit Elektrozäunen gesicherte Apartmenthochhäuser. Dazwischen liegt eine unscheinbare, drei Hektar große Brachfläche. Zwischen Schilfgestrüpp und einigen Bäumen steht ein altes Haus, das früher einmal als Wirtschaftsgebäude einer Finca gedient haben muss. Schon vor Jahrzehnten ist die Stadt am Gelände vorbei gewachsen. Über dem baufälligen Dach weht eine rote Fahne.

An diesem Abend haben sich unter der Plastikplane eines behelfsmäßigen Versammlungsraums 150 Menschen versammelt. Es sind Bewohner der anliegenden Armenviertel. In Kleingruppen debattieren sie über ihre Lebenssituation. Auf DIN-A1-Bögen sind die Themen notiert, die die Kleingruppen abarbeiten wollen: Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Umweltfragen, Verkehrsanbindung. Obwohl der Straßenlärm heranbrandet, spielende Kinder herumlaufen und der Wind immer wieder ganze Sätze verweht, diskutieren die Anwesenden hochkonzentriert. Mehr als drei Viertel sind Frauen, die meisten von ihnen älter als 40.

Yaneth Betancur, eine der Sprecherinnen, gehört mit 31 zu den jüngeren. Die vier Monate alte Tochter hat sie ihrem Mann in die Arme gelegt und geht nun zwischen den Gruppen umher, um sich ein Bild von den Diskussionen zu machen. „Wir fangen mit einer Diagnose an“, erklärt sie. „Unser Ziel ist, ein sozialistisches Viertel aufzubauen, solidarisch und selbstverwaltet. Aber dafür müssen wir uns erst einmal darüber einigen, was wir wollen. Unser Zeitplan sieht vor, dass wir 6 Monate diskutieren und Gemeinschaftsarbeiten auf dem Grundstück machen, bevor wir mit den Architekten die Baupläne erarbeiten.“

Die Besetzer sind Teil einer Bewegung, die sich Campamentos de Pioneros (Pionierlager) nennt. Der Name, die rote Fahne und das große Porträt von Venezuelas Staatschef Hugo Chávez am Eingang des Wirtschaftsgebäudes erinnern an stalinistische Zeiten. Doch so einfach ist es nicht. Die Bewegung der Pioneros ist keine gleichgeschaltete Massenorganisation. Sie ist unter den Bewohnern von Armenvierteln entstanden, deren Wohnverhältnisse auch nach 13 Jahren Chávez-Regierung menschenunwürdig sind und die gemeinschaftlich nach einer Lösung suchen.

„Unser Ziel ist nicht“, erklärt Yaneth Betancur, „dass uns die Regierung Sozialbauten hinstellt. Wir wollen neue Formen des Zusammenlebens aufbauen. Unser Viertel soll autofrei sein, damit die Kinder draußen rumlaufen können. Und wir wollen Einrichtungen und Geschäfte selbstverwaltet und gemeinschaftlich betreiben.“

Etwa 60 derartige Besetzungen gebe es zur Zeit in Venezuela, erzählt die Frau, die meisten im Großraum Caracas. Da die Gründstücke meist in kommunalem Besitz seien, müsse man je nach politischen Verhältnissen vor Ort auch mit Räumungen rechnen. Der Staat stellt den Raum für selbstbestimmte Projekte also nicht einfach zur Verfügung. Die Besonderheit in Venezuela ist vielmehr, dass die Regierung die Basisbewegung – mal mehr, mal weniger – als Akteur anerkennt. 40 Millionen Bolívares, nach offiziellem Umtauschkurs etwa 10 Millionen US-Dollar, hat das Projekt an der U-Bahnstation California für den Bau der Siedlung bewilligt bekommen.

Wenn man nach fünf Jahren Abwesenheit nach Caracas kommt, fällt einem sofort auf, was alles nicht funktioniert. Auf dem Flughafen entdeckt man einen völlig überalterten Maschinenpark, denn aus Furcht vor den Verstaatlichungen investieren die privaten Fluglinien nicht mehr in neue Maschinen. In den Supermärkten werden Milch und Käse immer wieder knapp, weil die Preise für Grundnahrungsmittel festgelegt sind und die großen Lebensmittelkonzerne ihre Waren lieber horten oder auf dem Schwarzmarkt verkaufen. Die Korruption ist in aller Munde und nichts deutet darauf hin, dass sich hieran etwas ändern könnte. Präsident Chávez würde einen unberechenbaren Machtkampf mit Teilen von Armee und Staatsbürokratie riskieren, wenn er der Selbstbereicherung, die im Erdölstaat lange Tradition hat, einen Riegel vorschöbe. Und schließlich ist Wohnraum in Caracas unerschwinglich teuer: Ein 70qm-Wohnung ist selbst in Vierteln der unteren Mittelschicht unter 550 Euro kaum zu bekommen.

Doch obwohl die Probleme auf der Hand liegen, ist die Situation in vieler Hinsicht dann doch erstaunlich offen. Hernán García – ein junger Mann, der mit seinem Kinnbart und den langen Haaren aussieht wie der klassische Occupy Wall Street-Aktivist – ist Dozent an der neu gegründeten „Experimentaluniversität für Sicherheit“. An der Fachhochschule wird die neue „Nationale Bolivarianische Polizei“ ausgebildet, ein Polizeikörper, der sich durch Bürgernähe, soziale Verantwortung und Unkorrumpierbarkeit auszeichnen soll. García unterrichtet das Fach Politik und Gesellschaft mit Schwerpunkt auf sozialen und Menschenrechten. Die meisten Lehrkräfte der Polizeiakademie stammten, so erzählt er, aus sozialen Bewegungen.

Neben dieser Arbeit engagiert sich García in einer weiteren der Stadtteilbewegung, dem Movimiento de Pobladores. Als Aktivist begleitet er Versammlungen, hilft Diskussionen zu strukturieren oder referiert über die Ziele, die sich die Bewegung gesetzt hat: Selbstverwaltung, Kooperation, politische Organisierung der Unterschichten.

An diesem Tag nimmt García an einer Versammlung von Concierges teil. Wenn man aus einem anderen südamerikanischen Land kommt, fällt sofort auf, wie angstfrei die einfachen Venezolaner diskutieren. Auf dem Treffen sind erneut mehr als 100 Personen teil, auch hier sind vier Fünftel der Anwesenden Frauen.

„Die Concierges“, erzählt García, „haben lange unter sklavenähnlichen Bedingungen gearbeitet. Sie wohnen in den Erdgeschosswohnungen der teuren Apartment-Blocks und mussten nach den alten Regelungen 14 Stunden am Tag ansprechbar sein. Wenn sie das Haus zum Einkaufen oder zu einem Besuch verlassen wollten, mussten sie jedes Mal eine Genehmigung einholen.“ Die Arbeitsbedingungen seien auch deshalb so schlecht gewesen, weil sich die Hausangestellten wegen ihrer Isolation kaum organisieren konnten. Die neue Organisation, die vor zwei Jahren entstanden sei und als wöchentliche Vollversammlung funktioniere, habe erstaunlich viel erreicht. „Wir hatten vor einigen Monaten ein Treffen mit Chávez und Vizepräsident Elias Jaua. Danach hat das Parlament ein neues Arbeitsschutzgesetz verabschiedet, das die Situation für die Hausangestellten radikal verbessert.“

Auf die Frage, ob er seine Situation nicht als paradox empfinde – als antiautoritärer Intellektueller einen Polizeiapparat ausbilden, als Basisbewegung auf einen Präsidenten wie Chávez setzen –, antwortet Hernan García erst mit ja, dann mit nein. Dass er als Polizeiausbilder arbeite, sei v.a. am Anfang schon sehr komisch gewesen, aber dass sie den Präsidenten unterstützten, fände er völlig logisch. „Wir sind zwar keine Anhänger der Regierungspartei PSUV, und wir wissen auch, dass wir vom Staat nicht viel zu erwarten haben. Aber wir sind trotzdem für den Präsidenten.“ Und völlig ironiefrei schiebt er hinterher: „Unseren Kommandanten“.

Auch am Stadtrand von Caracas bietet sich ein uneinheitliches Bild. „In Venezuela hat sich in den letzten vor fünf Jahren nicht viel getan“, behauptet Francisco Pérez, Bewohner von La Vega, einem Armenviertel im Südwesten Caracas’. Die vor 6 Jahren auf Anregung der Regierung gegründeten Genossenschaften seien längst wieder zerfallen, das Land hänge nach wie vor von Lebensmittelimporten ab, die Kriminalität sei zwar nicht so erdrückend, wie die bürgerlichen Medien behaupteten, und v.a. deutlich weniger organisiert als in Kolumbien, aber trotzdem gravierend.

Doch schon nach wenigen Schritten wird klar, dass eben doch nicht alles wie immer ist. Am Straßenrand stehen neue weiße Transport-Jeeps, die die Regierung, wie Pérez erklärt, als Ergänzung zum öffentlichen Nahverkehrsnetz angeschafft habe. Während die U-Bahn mit 15 Cent pro Ticket extrem preiswert ist, müssen die an den Hängen von Caracas lebenden Bewohner der Armenviertel für die Anschlussstrecken bei privaten Transportunternehmen oft das Vierfache bezahlen. Die bergtauglichen, für zehn Fahrgäste angelegten Jeeps sollen daher für Abhilfe sorgen. Aufgrund der staatlichen Ineffizienz hat die Regierung die Jeeps jedoch nicht einer Behörde zugeteilt. „Sie werden von den Consejos Comunales verwaltet, den Nachbarschaftsorganisationen. Das ist zwar auch eine Mafia, aber weil die Consejos regelmäßig gewählt werden, gibt es eine gewisse Kontrolle“.

Es ist nicht das Einzige, was sich in La Vega verändert hat. Bürgersteige und Treppen sind neu angelegt worden, die Müllentsorgung klappt sichtlich besser, und die von der Chávez-Regierungen geschaffenen Sozialeinrichtungen haben Bestand: die Gesundheitsposten des Barrio-Adentro-Programms beispielsweise oder die staatlich unterhaltenen Internet-Cafés. Und auch die Lebensmittelprogramme funktionieren trotz aller Unkenrufe weiter. Es gibt ein dichtes Netz von staatlichen Geschäften, in denen Lebensmittel zu Niedrigpreisen verkauft werden, und mindestens einmal die Woche fahren LKWs der Programme in die Armenviertel, um Fleisch und Milch zu verteilen. Auch das fällt auf, wenn man aus einem südamerikanischen Nachbarland wie Kolumbien kommt: In Venezuela sind kaum noch Bettler auf den Straßen zu sehen.

Auf die unvermeidliche Frage nach der Nachhaltigkeit – Venezuela hängt zu 90% am Erdöl-Tropf, die Sozialpolitik wird ausschließlich mit dem Öl finanziert – antwortet Pérez mit einem schelmischen Lächeln: Nein, nachhaltig sei das alles nicht. Aber man müsse gerechterweise auch fragen, was vom Kapitalismus übrig bleibe, wenn das Erdöl wirklich einmal versiegt. „Und Venezuelas Vorkommen reichen immerhin noch für 200 Jahre.“ 

Raul Zelik ist Professor für Politik an der Nationaluniversität Kolumbiens in Medellín.

 

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Kopfbild Freddy Sanchez Caballero / Kolumbien