(erschienen in: Neues Deutschland Sommer 2003)
Caracas, Innenstadt, Avenida Baralt. Verkäufer bieten Mangos, Kochbananen, Unterwäsche und CDs feil. Der Fußweg ist so dicht mit Ständen vollgestellt, dass sich die Passanten stauen. Im Vorbeigehen hört man kolumbianischen Vallenato, in Venezuela leben angeblich bis zu 2 Millionen illegale Einwanderer aus Kolumbien, die Luft stinkt nach Abgasen. An der Tür des Edificio Bolívar, eines fünfstöckigen, vielleicht 70 Jahre alten Baus steht eine alte, dunkelhäutige Frau. Sie betrachtet uns misstrauisch. Wir seien eingeladen, erkläre ich, zu einem Treffen mit dem Landkomittee. Die Frau wartet, bis ein Bewohner kommt, der uns kennt. Wir werden ein enges, dunkles und ein wenig beklemmendes Treppenhaus hinauf geführt. In der Wohnung im vierten Stock, in der das Treffen stattfinden soll, x trennen Decken und Plastikplanen anstelle von Wänden die Schlafzimmer vom Wohnraum ab. Vom Balkon aus kann man auf die Puente Llaguno schauen, eine Brücke, die über die Avenida Baralt führt. In ihrer Mitte stehen ein Kreuz und eine venezolanische Fahne. Im April 2002 haben sich hier die Ereignisse abgespielt, die den rechten Putschversuch gegen die Regierung Chávez legitimieren sollten.
Unerwartet verdichtet sich alles.
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Das Edificio Bolívar ist eines von zwölf besetzten Häusern in Caracas. Wobei - das Wort 'besetzt' auf deutsch die falschen Assoziationen weckt. Hier geht es nicht um subkulturelle Freiräume, sondern ganz um ein Dach über dem Kopf für ganz normale Familien. Im Edificio leben in 16 Wohnungen über 100 Menschen. In anderen Gebäuden sind es bis zu doppelt so viele. Im Wohnzimmer sitzen Vertreter von 7 Besetzungen. Aura, ihre Wortführerin, ist eine Frau um die 50. Afrovenezolanerin aus Sucre, dem Osten des Landes, ich habe Schwierigkeiten, sie zu verstehen. Nicht nur wegen des Lärms, der von der Avenida Baralt hereindringt. Wir fragen, seit wann die Besetzer im Haus sind. Aura antwortet, seit zwei Jahren. Sie hätten das Schloss aufgebrochen. Ein Mädchen fügt hinzu, die Zimmer seien bis zur Decke voll mit Schrott gewesen. Sie hätten alles ausgeräumt und hergerichtet. Wir fragen, warum sie besetzt hätten.
"Aus Notwendigkeit", antwortet Aura. Aus Notwendigkeit, aber auch weil sie sich ermutigt fühlten. "Das hat uns Chávez beigebracht."
Man kommt um den Präsidenten nicht herum, wenn man die in Venezuela florierenden Selbstorganisierungsprozesse verstehen will. Chávez, der in den Medien gern als populistisch oder autoritär bezeichnet wird, repräsentiert im Grunde genommen das genaue Gegenteil einer autoritären oder populistischen Politik. Er ermuntert die Bevölkerung zu Eigeninitiative und Selbstorganisation und verteilt, verglichen mit früheren venezolanischen Regierungen, so gut wie keine staatlichen Geschenke mehr. Bevormundung und Paternalismus sind jedoch die eigentlichen Kennzeichen eines autoritären Populismus.
"Er hat gesagt, das sei eine Revolution, die uns Würde geben wird. In der alle ein Recht auf Wohnen besitzen."
Eine Frau mit einem kleinen Kind auf dem Oberschenkel meldet sich zu Wort. "Ich habe die 'Aló Presidente'-Sendung gesehen, in der Chávez von den Häusern gesprochen hat. Er hat gesagt, dass viele Gebäude in Staatsbesitz leer stehen. Dass wir Genossenschaften gründen und einfach in die Gebäude hinein gehen sollen. Das ist unser Prozess."
Wir haben die Hausbesetzer bei der Vollversammlung der Landkomittees von Caracas kennen gelernt. Das von der Regierung 2002 erlassene Dekret zur Landreform ermöglicht es Barrio-Bewohnern, sich zu legalisieren, wenn sie sich zuvor als Nachbarschaftskomittees organisiert haben. Die Hausbesetzer von Puente Llaguno hoffen unter die gleiche Regelung zu fallen. Ein formeller Eigentumstitel würde sie schützen.
"Wir haben so viel gekämpft", sagt ein Mann in einem Sportunterhemd. "Im April 2002 haben sie meinen Nachbarn auf dem Dach fast getötet. Ich musste die Kinder in Sicherheit bringen. Überall war Tränengas. Danach die Hausdurchsuchungen. Wir haben die Revolution und dieses Haus verteidigt. Wir haben ein Recht auf diese Wohnung."
Wenn ich ehrlich bin, würde ich hier nicht wohnen wollen. Dunkler Boden, behelfsmäßige Trennwände, der Geruch von Straßenabgasen. Für die Besetzer hingegen stellt dieses Haus fast schon Mittelschichtsverhältnisse dar: im Stadtzentrum wohnen, eineinhalb Straßen vom Präsidentenpalast, nur zwei Kreuzungen von ihren Arbeitsplätzen entfernt - den Obst-, Unterwäsche- und CD-Ständen.
"Was könnt ihr für uns tun?" richtet Aura eine Frage an uns und schiebt ihre Brille zurecht.
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Wir können natürlich nichts tun, obwohl zwei aus unserer Gruppe Architekten sind. Von einem Rundgang und einem oberflächlichen Urteil über die Bausubstanz einmal abgesehen. Ich weiß nicht, ob die Besetzer enttäuscht sind.
Andrés Antillano kommt eine Stunde zu spät. Andrés ist ein Phänomen. Um die 40, Psychologe, der an der Universität Central Kriminologie lehrt, immer unterwegs.
"Entschuldigt die Verspätung. Ihr wisst ja, wie Caracas ist." Er lächelt verschmitzt. Die Besetzer erwidern das Lächeln. Andrés ist seit über 20 Jahren in Stadtteilbewegungen aktiv. Er lebt in einem Barrio - anders als das Gros urbanistischer Experten - und unterstützt die Selbstorganisierung von Barrio-Bewohnern. Unentgeltlich besucht er jeden Tag 2, 3 Treffen. In diesem Fall haben die Besetzer ihn gebeten, sie über ihre Rechte zu informieren. Andrés war an der Ausarbeitung des Dekretes zur "Regularisierung städtischen Landes" beteiligt, und weil das für Caracas zuständige technische Büro nur mit zwei Leuten besetzt ist - die Regierung Chávez arbeitet improvisiert, fast schon informell -, springt Andrés ein, wann immer er kann.
"Recht und Gerechtigkeit sind nicht das Gleiche", beginnt er zu erklären. "Wir leben immer noch in einem kapitalistischen Staat, der das Eigentum schützt." Herrschende Formalität. "Aber man kann Gerechtigkeit auch auf andere Weise durchsetzen. Ein Franzose", Andrés zitiert Proudhon, ohne den Namen zu nennen, "hat einmal davon gesprochen, dass jeder Besitz Raub ist, denn bevor es Privatbesitz gab, war alles Gemeineigentum. Das Wichtigste ist also, dass ihr euch organisiert." Andrés verspricht, Anwälte zu suchen, die die Besetzer kostenlos verteidigen. "Aber im Fall einer akuten Räumungsdrohung, müsst ihr euch gegenseitig unterstützen. Das technische Büro und die Regierungn können da offiziell nichts machen. Denen sind die Hände gebunden."
Ich frage, ob es für Notfälle so etwas wie ein Netzwerk zwischen den Häusern gibt. Die Frau mit dem Kind auf den Beinen antwortet, dass im vergangenen Jahr ein Haus von der Policía Metropolitana geräumt worden sei. "Seitdem sind wir organisiert." Der Bürgermeister des Großraums Caracas Alfredo Peña gehört zur Opposition. Auch das ist charakteristisch für Venezuela. Überall existiert eine Art Doppelmacht - in Justiz und Politik, zwischen Bundesstaaten und Nationalstaat, rechten Bürgermeistern und linken Gemeinderäten. Zwei parallel existierende Varianten des Formellen.
"Aber es muss doch eine Möglichkeit geben, einen richtigen Besitztitel zu bekommen", sagt die junge Frau kämpferisch. Andrés schlägt vor, systematisch die Besitzverhältnisse der verschiedenen Wohnungen und Häuser durchzugehen, und die Besetzer antworten. Man stellt fest, dass es für diejenigen, die private Wohnungen besetzt haben, am Schwersten sein wird. Bei den Häusern, die dem Staat oder der Armee gehören, sei die Sache einfacher. Da wird man eine Lösung finden", meint Andrés. Auf dem Weg zur Formalisierung machen sich informelle Kontakte in den Staatsapparat bezahlt. Felix, der mexikanische Projektkollege, der in Rotterdam lebt, erzählt von niederländischen Regelungen zur Legalisierung von Squats; ich berichte über die Hamburger Hafenstraße. Politische Akzeptanz, Grundrechte, die Notwendigkeit eines Dachs über dem Kopf, sagen wir. Schließlich bringt Aura ein Argument ins Gespräch, das mich einigermaßen überrascht. "Wir haben die Kriminalität in der Straße besiegt. Wir haben auf dem Balkon gestanden und geschrien, wenn jemand versucht hat, die Leute unten auszurauben. Wir haben das Recht in der Avenida Baralt wieder hergestellt."
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Wenn es um Emanzipation geht, kann formelle Politik informelles Handeln nicht ersetzen. Veränderungen sind nie in erster Linie institutionell. Aber das Formelle kann Spielräume schaffen. Das ist wohl das größte Verdienst der Regierung Chávez. Sie hat, wie es in Venezuela oft heißt, "Türen geöffnet".
Wir stehen auf dem Balkon des Edificio Bolívar. Rechts liegt die Brücke Puente Llaguno, links, etwa 500 Meter entfernt, die U-Bahnstation Capitolio. Am 11. April 2002, am Tag des Putschversuchs, sind hier 17 Menschen gestorben. Anhänger der Regierung und der Opposition. Bis heute gibt es nur eine fragmentarische Aufarbeitung der Ereignisse: Am Vormittag des 11. mobilisiert die Opposition zu einer Demonstration zum Sturz des Präsidenten, um den Palacio Miraflores herum versammeln sich Regierungsanhänger. Ab 14 Uhr, die Opposition ist bis auf 600 Meter an die Puente Llaguno herangekommen, fallen Schüsse, Menschen stürzen zu Boden. Die Policía Metropolitana schießt Richtung Brücke, von dort feuern Chavistas auf die Polizei. Die Bildern von den schießenden Regierungsanhängern und toten Demonstranten werden den ganzen Tag über in den Privatsendern gezeigt. Nicht gezeigt werden hingegen Aufnahmen von mehr als 10 toten Regierungsanhängern und von einer Gruppe von Scharfschützen, die auf den Dächern zweier Hotels an der Avenida Baralt von der Staatspolizei verhaftet werden und die offensichtlich die meisten, wahrscheinlich sogar alle Todesfälle zu verantworten haben. Wenig später erklären sich hochrangige Militärs im Aufstand gegen die Regierung - angeblich wegen der Toten an der Puente Llaguno. Chávez wird festgenommen, der Unternehmerverbands-Chef Pedro Carmona zum neuen Präsidenten ernannt. Erst Gegendemonstrationen von Hunderttausenden von Barrio-Bewohnern und die Befehlsverweigerung von mehreren Militäreinheiten bringen Chávez am 14. April wieder ins Amt. Die Privatsender zeigen Zeichentrickfilme.
Aura war am 11. April auf dem Balkon. Sie sagt, sie habe Scharfschützen gesehen, vermummt und mit Gewehren. Sie hätten auch auf das Edificio Bolívar geschossen. "Die Fernsehkamera von Globovisión war auf dem gelben Gebäude rechts. Sie haben erst übertragen, als Richard und seine Leute geschossen haben." Richard und seine Leute sind Regierungsanhänger, die in diesen Tagen in Venezuela vor Gericht standen, weil sie einen gewählten Präsidenten mit Waffen verteidigten. "Auch auf zwei anderen Häusern hat es Scharfschützen gegeben. Das war ein Hinterhalt." Unklar ist, wer die Leute auf den Dächern waren. Die Scharfschützen, sagt Aura, seien während des Putsches wieder frei gelassen worden und seitdem verschwunden. Außerdem habe am 12. April, während der 40 Stunden der Carmona-Regierung, eine wahre Hetzjagd gegen Linke stattgefunden. 30 Anhänger von Präsident Chávez wurden erschossen, viele verhaftet, Hunderte mussten untertauchen. "Die Policía Metropolitana hat unser Haus durchsucht. Sie haben uns beschimpft, mir das Handy und Kleider geklaut. Und ein Bild von Simón Bolívar mitgenommen. Nichts haben sie zurückgegeben."
Ich blicke vom Balkon auf die Fahne in der Mitte des Puente Llaguno. Sie hängt schlapp in der Abenddämmerung. "Für die Verteidiger der Bolivarianischen Revolution" steht auf einem Schild unter dem Kreuz. Ich frage mich, ob Revolutionen eher Formalität oder Informalität repräsentieren. Und welcher der drei Begriffe nun die geringste Aussagekraft besitzt. Aura sieht jemanden an der Eingangstür vorbeigehen und grüßt. Ich stelle fest, dass der Frau vorne ein paar Zähne fehlen.
Raul Zelik