"Sozialismus des 21. Jahrhunderts" - Alternative Entwicklung in Venezuela?

Beitrag in: Welttrends Nr. 60, Frühjahr 2008

Auch wenn es in der medialen Berichterstattung kaum so wahrzunehmen ist: Die Regierung Chávez hat in der Sozialpolitik beachtliche Erfolge vorzuweisen. Millionen Venezolaner besonders aus den ärmsten Bevölkerungsschichten haben in den vergangenen Jahren von so genannten Misiones, groß angelegten Bildungs- und Gesundheitsprogrammen, profitiert. Ausländische Journalisten merken zwar gerne an, „es sei leicht, mit Ölgeldern Sozialpolitik zu finanzieren“. Doch so simpel ist der Sachverhalt nicht. Als Chávez 1998 ins Amt kam, war der Ölpreis im Keller und der staatliche Ölkonzern PDVSA gab seine Gewinne nicht an den Staat ab. Dass die OPEC 1999 zur Förderdisziplin zurückkehrte, ging maßgeblich auf die Regierung Chávez zurück. Und auch die Reform des Ölkonzerns PDVSA musste von der Regierung erarbeitet werden. Zweimal versuchte die bürgerliche Opposition gegen Chávez zu putschen, als dieser versuchte, den Staatskonzern zu reformieren. Es ist ein Verdienst der Regierung, dass Venezuela heute wieder über fiskalpolitische Spielräume für Sozialprogramme verfügt.

Richtig ist aber auch, dass eine ölfinanzierte Wohlfahrtspolitik keine langfristige Perspektive bietet. Venezuela braucht ein Entwicklungskonzept, das die unproduktive, staatszentrierte Struktur der Gesellschaft überwindet.

„Endogene Entwicklung“ und „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“

Vor diesem Hintergrund legte die Regierung unter den Schlagworten endogene Entwicklung und Sozialismus des 21. Jahrhunderts 2004 / 2005 Eckpunkte eines alternativen Entwicklungsvorhabens vor. Das Projekt wurde nur grob umrissen: Unter endogener Entwicklung versteht man eine Strategie, die lokale Fähigkeiten und Strukturen fördert. Im Unterschied zur großindustriell ausgerichteten Importsubstituierung, die bis in die 1970er Jahren in Lateinamerika vorherrschend war, will man verstärkt regionale Kreisläufe aufbauen.

In eine ähnliche Richtung zielt auch der Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Damit soll eine Abkehr von den autoritär-zentralistischen Traditionen des Staatssozialismus signalisiert werden. Vier Merkmale werden in der Regel genannt: a) Aufbau einer nicht-verstaatlichten Ökonomie, in der der Staat die Grundversorgung gewährleistet und genossenschaftliche Eigentums- und Produktionsformen fördert; b) Vertiefung der Demokratie durch Plebiszite, Referenden und Partizipationshaushalte; c) eine inhaltliche Anpassung des Begriffs Sozialismus an die lateinamerikanische Wirklichkeit, indem indigene Kollektivtraditionen, christliche Prinzipien und Gerechtigkeitskonzepte der Unabhängigkeitskriege aufgegriffen werden und d) die Verfolgung eines kontinentalen Integrationsprojekts, wie es von Chávez unter dem Namen ALBA propagiert wird.

Das grundlegende Problem an diesem durchaus vernünftig klingenden Projekt besteht darin, dass zwischen den allgemeinen Zielen und der konkreten Praxis eine gewaltige Lücke klafft. Natürlich kann man nicht erwarten, dass die Regierung Chávez auf sämtliche Fragen der alternativen Entwicklung Antworten parat hat. Kritisch festzuhalten ist jedoch, dass sie wenig dafür tut, die Komplexität des Transformationsvorhabens transparent zu machen und zu diskutieren.

Edgardo Lander, regierungsnaher und doch kritischer Intellektueller, hat mehrfach auf das Defizit hingewiesen: Man propagiere einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts, ohne zu untersuchen, warum sich der real existierende Sozialismus zu einem autoritären, ökonomisch völlig ineffizienten System entwickelte. Tatsächlich liefert der Chávez-Diskurs in dieser Hinsicht wenig Reflexionen. Die Beibehaltung einer gemischten Wirtschaft, die Bewahrung unterschiedlicher Eigentumsformen, demokratische Garantien und die Entwicklung spezifisch regionaler Projekte, ist alles andere als ein Novum in der sozialistischen Debatte. In Jugoslawien versuchte man sich ab den 1960er Jahren am Genossenschaftssozialismus. In Peru berief sich die Regierung des linken Militärs Juan Velasco Alvarado (1968-1975) auf indigene Traditionen und stärkte Dorfversammlungen. Demokratie und gemischte Wirtschaft waren auch Eckpunkte der sandinistischen Politik in Nicaragua. All diesen Ansätzen ist jedoch gemein, dass sie – ebenso wie der Staatssozialismus sowjetischer Prägung – scheiterten. Das bedeutet nicht unbedingt, dass diese Politik falsch war. Zu beantworten ist allerdings, warum sich auch alternativ-sozialistische Ansätze nicht behaupten konnten.

Genau diese – entscheidende – Debatte wird in Venezuela kaum geführt. Und nicht nur das: Die postulierten Prinzipien werden von der konkreten Praxis häufig konterkariert. Man spricht von umweltverträglicher Entwicklung, vergibt im Zweifelsfall aber doch Schürflizenzen in indigenen Gebieten an transnationale Unternehmen. Man formuliert eine inhaltlich richtige Staatskritik, baut aber Institutionen auf, die den alten erschreckend ähnlich sind. Intransparent, ineffizient und demokratisch unkontrollierbar dienen auch sie den neuen Funktionären zur persönlichen Bereicherung. Dabei ist nicht überraschend, dass die neuen Institutionen den alten ähneln. Der Klientelcharakter des alten venezolanischen Staates hatte ja nicht in erster Linie damit zu tun, dass er mit korruptem Personal besetzt gewesen wäre. Das Problem war und ist struktureller Natur: Die Tatsache, dass die Erdölrente innerhalb des Staates verteilt wird, formt ihn klientelistisch. Die private Bereicherung ließe sich nur bremsen, wenn es zu einer radikalen Demokratisierung käme, also wenn für aktive Bürgerbeteiligung gesorgt würde. Von einer solchen Contraloría Social ist in Venezuela zwar viel die Rede, doch in der Praxis erweist sich der Staatsapparat als kontrollresistent. Die informellen Machtnetzwerke entziehen sich der angestrebten Demokratisierung. So war in den vergangenen Monaten das Erstarken einer „endogenen“ (sozusagen hausgemachten) Rechten um den ehemaligen Vizepräsidenten Diosdado Cabello zu beobachten– einer politischen Strömung, die grundlegende ökonomische Transformationen abzuwehren versucht und der Korruption im großen Stil vorgeworfen wird.

„Entwicklungskerne“, Genossenschaften, Arbeiterselbstverwaltung

Und dennoch sind in Venezuela interessante Ansätze alternativer Entwicklung zu beobachten. 2004 begann die Regierung entwicklungspolitische Musteranlagen, so genannten Núcleos de Desarrollo Endógeno, zu eröffnen. Die wohl bekannteste befindet sich im Armenviertel Catia im Westen der Hauptstadt Caracas. Auf einem stillgelegten Gelände des Staatskonzerns PDVSA versucht man dort eine alternative Verbindung von Sozial- und Entwicklungspolitik sichtbar zu machen: Versorgungseinrichtungen und Produktionsanlagen liegen direkt nebeneinander. Neben einer Klinik, Sportplätzen und Nachbarschaftseinrichtungen gibt es genossenschaftlich betriebene Lebensmittelpflanzungen, eine Schneiderei und eine Schuhfabrik. Die Anlage soll zeigen, dass es Venezuela nicht in erster Linie um weltmarktorientierte Produktion geht. Unter Entwicklung versteht man vielmehr einen umfassenden sozio-ökonomischen Prozess, der der Bevölkerungsmehrheit allgemein zugute kommt. Darunter wird immer auch Bildung verstanden. So sind die Schuh- und Textilgenossenschaft in die Mission Vuelvan Caras integriert, einem Berufsausbildungsprogramm für Erwachsene. Die Genossenschafter wurden 2005 ausgebildet, um die Anlage selbständig weiterzuführen. Die vom Staat geleisteten Investitionen sollen dabei, zumindest perspektivisch, von den Genossenschaften abgezahlt werden.

Damit will man vermeiden, erneut paternalistische Beziehungen zwischen Staatseliten und Bürgern herzustellen, wie sie für den venezolanischen Populismus der 1970er Jahre so charakteristisch waren. Die Genossenschafter werden, zumindest theoretisch, vom Staat nicht alimentiert. Sie müssen ihre Anlagen abbezahlen und auf diese Weise Mittel für andere Förderprojekte zur Verfügung stellen. Gleichzeitig versucht man – dem „endogenen“ Prinzip folgend – auf lokales Wissen zurückzugreifen: Catia gilt als ein Viertel, in dem traditionell viele Schuh- und Textilwerkstätten existieren.

Das zentrale Problem liegt eigentlich auf der Hand: In kaum einem Bereich ist die Weltmarktkonkurrenz so brutal wie in der Schuh- und Textilbranche. Wenn die Genossenschaften nicht mit südostasiatischen Sweat Shops um die niedrigsten Löhne konkurrieren sollen, werden sie langfristig auf staatlichen Schutz angewiesen sein. Auf diese Weise erlebt das paternale Prinzip, das dem Klientel-Populismus in Venezuela seit jeher zugrunde liegt, dann aber doch eine stille Renaissance. Der Staat – oder noch drastischer: Chávez – wird auch weiterhin für die Kooperativen sorgen. Umso direkter diese Unterstützung erfolgt, desto ausgeprägter werden auch die typisch-venezolanischen Alimentierungserwartungen sein: Der Staat ist der Versorger (tendenziell passiver) Bürger.

Auch größer angelegte Projekte in der Automobil- und IT-Branche sind mit dem Phänomen konfrontiert: Das iranisch-venezolanische Joint Venture Venirauto hat unlängst die ersten einheimischen und benzinsparenden Mittelstandswagen auf den Markt gebracht. Eine chinesisch-venezolanische Kooperation stellt preiswerte Computer für den Binnenmarkt her. Beide Projekte werden mittelfristig vor der Wahl stehen, sich internationalen Produktionsbedingungen anzupassen oder aber vom Staat subventioniert zu werden.

Dass die Anbindung an den Staat häufig ein Problem ist, wird schließlich bei den Agrarkooperativen besonders deutlich. 181.000 Kooperativen waren 2007 in Venezuela registriert. Von diesen Genossenschaften funktionierten selbst nach offiziellen Statistiken weniger als 40 Prozent. Das hat u. a. damit zu tun, dass der Genossenschaftsboom ein Resultat von Chávez’ politischer Mobilisierung ist. Dem Präsidenten ist es zwar gelungen eine gesellschaftliche Bewegung auszulösen. Doch häufig reicht der Impuls nicht, um eigenständig arbeitende Projekte zu konsolidieren. Zudem führt die staatliche Förderpolitik zu rein finanziell motivierten Genossenschaftsgründungen. Aus dem Landwirtschaftsministerium wird von einem Fall berichtet, bei dem Landarbeiter von einem Großgrundbesitzer aufgefordert wurden, eine Kooperative zu gründen und einen Antrag auf Landmaschinen zu stellen. Die Genossenschafter verkauften den staatlich finanzierte Traktor schließlich für einige Kästen Bier an den Großgrundbesitzer.

Es scheint, als könne das qualitative Wachstum in Venezuela oft nicht mit dem quantitativen Schritt halten. Das Problem ist teilweise auf Chávez’ Kommunikationspolitik zurückzuführen. Der Präsident hat sich angewähnt, in seinen wöchentlichen Fernsehsendungen immer auch Erfolge vorzuweisen. Auf diese Weise hat sich so etwas wie eine venezolanische Variante der „Tonnenideologie“ herausgebildet. Das vorweisbare quantitative Wachstum wird höher bewertet als qualitatives. Ein Opfer dieser Politik wurde, wie Stadtteilorganisationen in Caracas berichten, 2005 der Wohnungsbauminister Julio Montes. Montes, dem gute Beziehungen zu Basisbewegungen nachgesagt werden, habe nach seinem Amtsantritt eine Kehrtwende in der Baupolitik vollzogen. Er habe intransparente Verträge mit Privatunternehmen eingefroren und eine engere Zusammenarbeit mit den basisdemokratisch organisierten Comités de Tierra Urbana (CTU) angestrebt. Die Beteiligung der CTU’s (die im Rahmen der Legalisierung städtischer Armenviertel 2002 entstanden) sollte Korruption erschweren und eine bewohnerfreundliche Sanierung ermöglichen. Dadurch dass der Prozess demokratischer gestaltet wurde, verlangsamte sich jedoch das Bautempo. Als Chávez öffentlich rügte, der Minister lasse zu wenig bauen, reichte– der eigentlich erfolgreiche – Montes seinen Rücktritt ein.

Dass häufig formale oder quantifizierbare Aspekte der Veränderung im Vordergrund stehen, kann man auch in anderen Bereichen beobachten. Die Demokratisierung des Wirtschaftslebens – also die Mitbestimmung in Großbetrieben oder die Selbstverwaltung von in Konkurs gegangenen, durch Belegschaften besetzten Fabriken –, wird durch die bürokratische Umsetzung konterkariert. Vieles bleibt Rhetorik – und doch ist die Leistung Venezuelas erstaunlich. Das südamerikanische Land hat ein grundlegendes Problem neu aufgeworfen, das nach dem Ende des Blockkonflikts völlig in Vergessenheit geraten war. Dass nämlich die weltmarktorientierte Entwicklung besonders im Süden keine befriedigenden Antworten auf drängende soziale und ökologische Fragen gibt und alternativen Formen der Entwicklung unverzichtbar sind.

Raul Zelik ist Schriftsteller und veröffentlichte zuletzt den Roman „Der bewaffnete Freund“ (Blumenbar-Verlag)

 

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