Nicht links, aber vielleicht zumindest lateinamerikanisch

(Originalfassung eines Beitrags für den Freitag, Januar 2006)

Auf den ersten Blick ist die politische Lage Südamerikas heute so vielversprechend wie lange nicht mehr. Nach dem Wahlsieg der sozialistischen Kandidatin Bachelet in Chile wird ein großer Teil des Subkontinents von Linken regiert. Die Südamerikaner haben den vom IWF verordneten Spar- und Verelendungsprogrammen in den vergangenen Jahren bei fast allen Urnengängen Absagen erteilt. So weit die gute Nachricht.

Die schlechte Nachricht ist, dass sie zwar eine andere Politik gewählt haben, aber diese deshalb noch lange nicht bekommen werden. Tatsächlich haben die wenigsten Regierungswechsel der letzten Jahren keinen Politikwechsel nach sich gezogen. Unter Lula in Brasilien ist ein umfassendes Korruptions- und Klientelsystem aufgebaut worden, das der Bevölkerung zwar keine besseren Lebensbedingungen, aber der PT eine einigermaßen sichere Regierungsmehrheit im Parlament beschert hat. Die PT- und CUT-Funktionäre – äußerst kombativ, wenn es darum geht, die Linke aus ihren Organisationen zu entfernen – tauschten Parlamentarierstimmen u. a. gegen illegale Rodungslizenzen in Amazonien. Auch Tabare Vázquez, der in Uruguay in Koalition mit den legendären Tupamaros regiert, hat sich bislang eigentlich nur darüber profiliert, dass er um ausländische Wirtschaftsinvestitionen buhlt. Ricardo Lagos, sein chilenischer Amtskollege und Sozialist, hat die Folterer der Militärdiktatur in Ruhe gelassen und stattdessen die einst von Pinochet blutig durchgesetzte Wirtschaftspolitik kontinuierlich weiterentwickelt. Und von Nestor Kirchner in Argentinien schließlich lässt sich zumindest berichten, dass er mit seiner kämpferischen Haltung gegenüber dem IWF und mit Maßnahmen gegen die Armeeführung so manchen Beobachter positiv überrascht hat. Allerdings wohl auch nur deshalb, weil die Erwartungen an einen Peronisten nicht sehr groß waren. Bleiben der venezolanische Präsident Hugo Chávez, der in vieler Hinsicht einen Sonderfall darstellt, und der neue bolivianische Präsident Evo Morales, von dem schon wegen seiner indigenen Herkunft einiges erwartet wird, dessen Partei MAS in diversen Kommunalregierungen aber bereits die üblichen Institutionalisierungserscheinungen an den Tag gelegt hat.

Die lateinamerikanischen Linksregierungen sind bislang weitgehend Enttäuschungen gewesen. Warum ist das so? Hat es wirklich damit zu tun, dass im Zuge der Globalisierung Spielräume für eine alternative Politik abhanden gekommen sind?

Zunächst einmal sollte man die Legende vergessen, dass gesellschaftliche Linksbewegungen das Ergebnis von Wahlsiegen waren. In den meisten Fällen war das genaue Gegenteil der Fall. In Europa bedeutete der Sieg Mitterrands 1981 tendenziell eher das Ende als den Anfang einer starken französischen Linken, und auch der Wahlsieg der spanischen PSOE sorgte in erster Linie für die Modernisierung eines von heftigen, auch bewaffneten Kämpfen erschütterten Landes – den Aufbau von rechten Todesschwadronen durch das sozialistische Innenministerium und die Zerschlagung der kämpferischen Arbeiterbewegung mit eingeschlossen. In Lateinamerika sind die Erfahrungen mit reformistischen Projekten dünner gesät. US-Interventionen haben die meisten Linksregierungen frühzeitig zu Fall gebracht. Doch selbst in Chile, wo mit Allende 1970-73 ein überaus integrer und konsequenter Linken regierte, vollzogen die Reformen häufig nur nach, was in sozialen Kämpfe zuvor bereits umgesetzt worden war. So hatten sich beispielsweise die Belegschaften der Kupferindustrie schon vor der Verstaatlichung faktisch die Kontrolle über die Anlagen angeeignet.

Insofern müsste die Frage, was die politische Konstellation in Südamerika für die nächsten Jahre erwarten lässt, nicht so sehr darauf abzielen, was von oben an Reformen versprochen wird, sondern wie sich die Existenz der (Mitte-)Links-Regierungen auf die Bewegungen von unten auswirkt: Führt ein Wahlsieg der Linken dazu, dass soziale Kämpfe abflauen und Menschen ihre Forderungen delegieren, wird sich die Lage – wie zur Zeit in Brasilien – eher verschlechtern. Verzichtet eine Linksregierung hingegen auf den Einsatz von Repression und animiert die Selbstorganisierung der Bevölkerung, dann kann das Zusammentreffen von selbstbewussten sozialen Bewegungen und einer ansprechbaren Regierung tatsächlich auch zu einem Politikwechsel führen. Leider ist in Chile, Uruguay, Brasilien und zum Teil wohl auch in Argentinien das Erstere der Fall: Die sozialen Bewegungen sind durch die Regierungswechsel still gestellt worden.

Dass die politische Konstellation dennoch spannend ist wie lange nicht mehr, hat mit einem Sonderfall zu tun: Venezuela. Das Land, das lange Zeit als das entpolitisierteste in Südamerika galt, hat in den vergangenen 20 Jahren einen bemerkenswerten Prozess durchlebt. Wie tiefgreifend sich die Gesellschaft dabei verändert hat, lässt sich noch nicht absehen. Es hat aber den Anschein, als könnten Chávez’ Bemühungen für eine lateinamerikanische Wirtschaftsintegration das politische Gefüge auf dem Kontinent nachhaltig verschieben.

Die Mitte-Links-Regierungen in Brasilien, Uruguay, Chile und Argentinien haben bislang keine Anstrengungen unternommen, sich mit den Eliten ihres Landes anzulegen. Deshalb sind auch die versprochenen Sozialreformen weitgehend ausgeblieben. Doch diese Eliten haben gleichzeitig nur begrenztes Interesse an der Fortführung der vom globalen Norden oktroyierten Finanz- und Freihandelspolitik. Außerdem hat Venezuela kostbare Güter, die es zu Vorzugsbedingungen abgibt, wenn es der angestrebten Wirtschaftsintegration auf dem Kontinent dient: Erdöl und damit zusammenhängend Devisenressourcen. 18 karibische Staaten haben im Herbst auf venezolanische Initiative den Erdölverband Petrocaribe gegründet, der Öl zu Solidarpreisen garantiert. Mit Brasilien, Bolivien, Argentinien und Mexiko möchte die Chávez-Regierung ein lateinamerikanisches Erdölunternehmen aufbauen. Der internationale Nachrichtensender Telesur existiert bereits. Und perspektivisch zeichnet sich ab, dass das Industrieland Brasilien, der Agrarproduzent Argentinien und der Erdölexporteur Venezuela – alle drei Mitglieder der Freihandelszone Mercosur – eine strategische Kooperation eingehen könnten.

Die lateinamerikanischen Rechtsregierungen wie das Uribe-Regime in Kolumbien haben aus Treue zu Washington die Integration auf dem Subkontinent konsequent torpediert. Sie handeln damit faktisch antinational. Anders als bei uns machen nämlich die Strukturen postkolonialer Dependenz im Süden tendenziell eher die Linke als die Rechte zur Verteidigerin von nationalstaatlichen Interessen. Und in dieser Hinsicht ist die Konstellation auf dem Subkontinent heute denn doch überaus interessant. Die wirtschaftliche Integration, wie sie die Mitte-Links-Regierungen realistisch vorantreiben könnten, würde an der ungerechten Reichtumsverteilung in den Ländern nichts ändern. Aber die Bevölkerung Lateinamerikas leidet eben nicht nur und wahrscheinlich nicht einmal in erster Linie unter den einheimischen Eliten. Mindestens ebenso erdrückend ist für sie das strukturelle Enteignungsverhältnis, das durch die internationalen Tauschverhältnisse und die enorme Verschuldung immer wieder neu hergestellt wird. Der brasilianische Staat erwirtschaftet jedes Jahr 5 Prozent Überschuss, nur um seinen Schuldendienst an die Kreditgeber in Europa und Nordamerika leisten zu können. Wenn Lateinamerika sich (wie zuletzt Argentinien, das mit venezolanischer Hilfe IWF-Kredite vorzeitig zurückzahlte) aus der Umklammerung des IWF-Diktats befreien und einen zumindest partiell unabhängigen Entwicklungsverbund aufbauen könnte, wäre für die Bevölkerung des Subkontinents schon vieles gewonnen.

Raul Zelik

 

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Kopfbild Freddy Sanchez Caballero / Kolumbien