venezuela-violencia-eleccionesNach den anhaltenden Protesten der bürgerlichen Opposition zweifelt die Weltöffentlichkeit – allen voran Washington und die internationalen Leitmedien CNN und EL PAIS – mal wieder am Zustand der venezolanischen Demokratie. Zwar sind die Falschmeldungen der letzten Tage mittlerweile widerlegt: Die Toten stammen nicht etwa aus Oppositionsreihen, sondern sind Regierungsanhänger, die bei Angriffen von Oppositionellen auf staatliche Gesundheitsposten und andere öffentliche Einrichtungen getötet wurden. Und auch die These der Wahlfälschung scheint vom Tisch. Nachdem 54% der Urnen – wie im venezolanischen Wahlsystem üblich – sofort nach Zufallsprinzip gegengezählt worden waren, werden nun auch noch die fehlenden 46% manuell überprüft.

Doch nun kehren die internationalen Meinungsmacher zu ihrer alten Kritik zurück: Die politische Polarisierung bedrohe die venezolanische Demokratie in ihren Grundfesten. Das System sei am Ende, weil sich zwei fast gleich große Lager unversöhnlich gegenüber stehen.

Die Kritik ist verlogen

Diese Kritik ist nicht nur deshalb verlogen, weil die Polarisierung der letzten Tage maßgeblich von der – international unterstützten – Opposition ausging. Auch der Zusammenhang selbst lässt sich anders interpretieren: Die Heftigkeit des Konflikts in Venezuela hat nicht zuletzt damit zu tun, dass dort, anders als in den USA oder Westeuropa, nicht nur über das Regierungspersonal, sondern auch über die Inhalte der Politik abgestimmt wird.

In Europa haben wir in den vergangenen Jahren feststellen müssen, dass die zentralen sozial- und wirtschaftspolitischen Fragen vom Wahlausgang offensichtlich völlig unberührt bleiben. Egal, wer gewinnt – die neoliberale Politik ist immer die gleiche. In Venezuela hingegen haben Wahlen offensichtlich echte Relevanz. Dort geht es nicht nur um die Zusammensetzung der Regierung, sondern auch um die Organisation der Wirtschaft, das Demokratiemodell, die außenpolitische Ausrichtung des Landes, die Verteilung des Reichtums. Und genau das ist auch der Grund, warum sich die politischen Lager in Venezuela so unerbittlich gegenüberstehen. Es geht um nicht weniger als die Frage: neoliberaler Kapitalismus oder lateinamerikanisch-sozialistischer Wohlfahrtsstaat. Wo sonst auf der Welt lässt sich behaupten, dass so grundlegende Fragen alle sechs Jahre einem Plebiszit unterzogen werden?

Doch wenn diese Behauptung stimmt, warum sind die Wahlen dann überhaupt so knapp für den Chavismus ausgegangen? Immerhin müsste doch die überwältigende Mehrheit der Venezolaner ein Interesse an der Fortsetzung der Sozialpolitik haben. Das hat zum Einen mit der Entwicklung des Chavismus selbst zu tun. Da Venezuelas Ölreichtum – nicht erst seit Chávez – vom Staatsapparat kontrolliert wird, wuchern hier Bürokratie und Korruption.  Mit der sogenannten Boli-Bourgeoisie ist eine neue aufstrebende Oberschicht entstanden, die von der einfachen Bevölkerungsmehrheit ähnlich weit entfernt scheint wie die von der Opposition repräsentierten traditionellen Eliten. Chávez galt vielen Venezolanern als Garant dafür, dass die aufstrebende Oberschicht nicht völlig die Oberhand gewinnt. Doch viele Wähler hegen Zweifel, ob der Elitenbildung auch von der neuen Führung etwas entgegensetzt werden kann.

Der zweite entscheidende Faktor ist der äußere Druck. Die öffentliche Meinung Venezuelas wird nach wie vor von den privaten Medienkonzernen beherrscht. Zwar ist im Ausland viel von der angeblichen Gleichschaltung der Presse die Rede, doch – mit zwei Ausnahmen – sind nach wie vor alle Tageszeitungen des Landes in den Händen der Opposition. Und auch beim Fernsehpublikum haben die bürgerlichen Kanäle gegenüber dem Staatsfernsehen die Nase klar vorn. Dazu kommt, dass die Opposition auch außenpolitisch offensichtlich über die mächtigeren Verbündeten verfügt. Es wäre naiv zu glauben, dass sich die Ereignisse der letzten Tage zufällig ergeben haben. Fast eine Woche lang verbreiteten die großen internationalen Medien Nachrichten, von denen sie leicht hätten wissen können, dass sie falsch sind. Die Website der staatlichen Wahlbehörde CNE wurde durch eine Cyber-Attacke (angeblich aus Kolumbien) einen Tag lang lahm gelegt. Bewaffnete Oppositionsgruppen setzten staatliche Einrichtungen in Brand, und die US-Regierung, die in der Vergangenheit bei zweifelhaften Wahlergebnissen in Lateinamerika nur selten ein Problem gehabt hat, drängte darauf, den Sieg Maduros nicht anzuerkennen.

Position beziehen

Offensichtlich gibt es in Venezuela zwischen Regierung und Opposition keinen eigenständigen politischen Platz. Man mag das bedauernswert finden, doch letztlich ist das in einem Prozess, bei dem es um nicht weniger als um die Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft geht, auch nicht besonders verwunderlich. Sicher gibt es gute Gründe, dem venezolanischen Staatsapparat und Teilen der Regierungspartei PSUV zu misstrauen. Doch die Alternative dazu ist klar: die Rückkehr der alten Eliten und damit auch der neoliberalen, an Washington orientierten Politik. Der Oppositionskandidat Henrique Capriles war zwar um ein gemäßigtes Auftreten bemüht und kündigte sogar an, im Falle eines Wahlsiegs an den chavistischen Sozialprogrammen festzuhalten. Doch man muss kein Hellseher sein, um zu wissen, dass von dieser Zurückhaltung im Ernstfall nicht viel übrig bleiben würde. Die Opposition will an die Macht, um die eingeleiteten Reformen rückgängig zu machen. Dafür ist sie – wie sie in den vergangenen Tagen bewiesen hat – bereit, auf alle denkbaren Mittel zurückzugreifen. Venezuelas Polarisierung hat nicht mit der Schärfe der Rhetorik zu tun. Sie ist den zugrundeliegenden sozialen und ökonomischen Interessen geschuldet. Es ist gut, nach Mäßigung zu rufen, damit sich der Konflikt nicht noch weiter verschärft. Doch es wäre naiv, seine Ursachen zu ignorieren.

Raul Zelik

 

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