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Wenn von der Sozial- und Wirtschaftspolitik der Regierung Chávez die Rede ist, bringen Kritiker/innen gewöhnlich sofort zwei Argumente ins Spiel: Erstens sei es kein Kunststück, mit hohen Öleinnahmen Sozialprogramme zu finanzieren, zweitens verschärfe die Staatszentriertheit der Wirtschaftspolitik die alten Strukturprobleme Venezuelas nur weiter.

Eine sich selbst tragende nachhaltige Entwicklung sei in den vergangenen Jahrzehnten nämlich vor allem dadurch verhindert worden, dass das Land weitgehend am (ölfinanzierten) Subventionstropf hing und sich somit keine eigenständige produk­tive Basis entfalten konnte (Burchardt 2005a; 2005b).

Das erste Argument, das in der medialen Berichterstattung breiten Raum einnimmt, muss man in Anbetracht der realen politischen Entwicklungen ab 1998 schon als einigermaßen zynisch bezeichnen, denn faktisch war die Regierung Chávez in den ersten fünf Jahren hauptsächlich damit beschäftigt, Kämpfe um die Einnahmen des Ölsektors auszutragen. Dass der Erdölpreis 1999 nach einer Tiefpreisperiode wieder von etwa 10 auf knapp 20 US$ pro Barrel stieg, war zumindest anfangs den außenpolitischen Anstrengungen der damals frisch amtierenden Chávez-Administration geschuldet. Vene­zuela sorgte mit seiner politischen Initiative dafür, dass sich die Organisation Erdöl exportierender Länder (OPEC) neu konstituierte und zur Förderquotendisziplin zurückkehrte. Diese energiepolitische Offensive bescherte der Regierung Chávez frühzeitig die Feindschaft der USA und verschiedener europäischer Regierungen.

Auch die Fähigkeit, mit den (zunächst bescheiden) steigenden Öleinnahmen Sozialprogramme zu finanzieren, musste von der Regierung in Caracas mühselig erkämpft werden. So setzten die Mobilisierungen der bürgerlichen Opposition, die zwischen 2002 und 2004 zwei Umsturzversuche und ein Abwahlreferendum gegen Chávez organisierte (Wilpert 2003; 2007), nicht mit den politischen Reformen im Rahmen der Verfassunggebenden Versammlung 1999 ein, sondern Ende 2001, als die Regierung – bis dahin ohne klares sozialpolitisches Profil – Umverteilungsmaßnahmen in Angriff nahm. Der Konflikt eskalierte schließlich, als die Chávez-Regierung eigenes Personal im staatlichen Erdölunternehmen PDVSA durchzusetzen und die Kontrolle über den Staatsbetrieb zurückzuerlangen versuchte. Mommer hat in seinem lesenswerten Aufsatz “Subversive Oil” (2003) gezeigt, dass das PDVSA-Management bis dahin darum bemüht gewesen war, das Unternehmen systematisch der politischen Kontrolle zu entziehen und Gewinne – unter anderem durch Geschäfte mit ausländischen Tochterunternehmen – vor dem Staat zu verbergen. De facto, so Mommer, habe das Management dabei auf eine Re-Privatisierung von PDVSA hingearbeitet. Dass der Ölkonzern heute hingegen wieder einen Großteil der Gewinne an den Staat abliefert und somit fiskalpolitischer Spielraum für Sozialprogramme entstanden ist, lässt sich also nicht einfach mit dem rasanten Anstieg des Ölpreises ab 2002 erklären. Ohne die Bereitschaft der Regierung, sich oligarchischen Interessen zu widersetzen und politisch über die Ölreserven zu verfügen, wären die Sozialprogramme der letzten Jahre nicht finanzierbar gewesen.

Inhaltlich interessanter ist daher das zweite Argument, das die aktuelle Sozialpolitik der Chávez-Regierung als Wiederkehr des spezifisch venezolanischen “populist system of conciliation” (Rey 1991) bezeichnet. Tatsächlich waren Nahrungsmittelsubventionen, öffentlich finanzierte Wohnungsbau-, Gesundheits- und Bildungsprogramme auch in der Vergangenheit – besonders aber während der Bonanza Petrolera unter Präsident Carlos Andrés Pérez 1974-1979 – fester Bestandteil der Regierungspolitik. Dabei führte das System hoher Staatsausgaben zwar zu einer Verringerung der absoluten Armut (Buxton 2003), diente den Eliten jedoch gleichzeitig als Mechanismus zur privaten Bereicherung. Der ehemalige Vize-Planungsminister Roland Denis hat dies in einem Interview (Zelik 2003) als spezifisch venezola­nisches Akkumulationsmodell bezeichnet. Da Venezuela vollständig von der staatlich verwalteten Erdölrente abhängt, finde die privatkapitalistische Akkumulation im Staat statt. Der populistische ‘Pakt’ war sozusagen die politische Form zur Aneignung öffentlichen Reichtums. Staatliche Infra­struktur- und Bauprojekte wurden weit über den realen Kosten abgerechnet, die bewilligten Gelder verschwanden in Privatkassen. Allein der sozialde­mokratische Präsident und spätere Vizepräsident der Sozialistischen Interna­tionalen Carlos Andrés Pérez soll auf diese Weise ein Milliardenvermögen beiseitegeschafft haben. Der Puntofijismo generierte also eine von Korrup­tion und Klientelismus gezeichnete Staatlichkeit, durch die die Legitimität der “Musterdemokratie Venezuela” – wie es fälschlicherweise lange hieß – untergründig erodierte[1] (Lander 2005).

Kritiker verweisen nun darauf, dass die chavistische Sozial- und Entwicklungspolitik dem Klientelpopulismus von Carlos Andrés Pérez in vieler Hinsicht ähnlicher ist als es dem Regierungslager Recht sein kann (Burchardt 2005b). Die allgemeine Subventionierung der Wirtschaft blähe den Staat auf und verstärke vorhandene Korruptions- und Klientelstrukturen. Zudem habe die Regierung bislang wenig unternommen, um die Ölabhängigkeit zu überwinden. Genau diese Abhängigkeit ist jedoch die Crux des südamerikanischen Landes. Sie sorgt dafür, dass Venezuela letztlich immer mit zwei gleichermaßen problematischen Zuständen konfrontiert ist. In Pha­sen hoher Öleinnahmen leidet das Land unter der “holländischen Krankheit”, also unter einer chronischen Überwertung der einheimischen Währung. Die Dollarzuflüsse lassen den Wert des Bolívar steigen, was die im Inland herge­stellten Produkte relativ verteuert. Dadurch wird es billiger, Waren zu im­portieren, als sie in Venezuela selbst herzustellen. Produktive Sektoren kön­nen sich vor diesem Hintergrund kaum entwickeln.[2] Gehen die Öleinnahmen hingegen zurück, leidet das Land schlagartig unter Zahlungsengpässen und droht wie in den 1980er Jahren in eine Geldentwertungs- und Verschuldungsspirale zu geraten.

Dieser Zusammenhang von Ressourcenreichtum, Aufblähung des Staatsapparates und Entwicklungsblockaden ist der Regierung Chávez allerdings durchaus bekannt. Bereits 1999, als vom “Sozialismus des 21. Jahrhunderts” noch keine Rede war, sprach der Präsident von der Notwendigkeit nachhaltiger Entwicklungsstrategien. Im Mittelpunkt sollte dabei zunächst die Landwirtschaft stehen. Besonderes Interesse galt den Llanos, dem dünn besiedelten südvenezolanischen Tiefland, das Chávez (Harnecker 2003; Gott 2001) in eine Kornkammer verwandelt sehen wollte.

In einem umfassenderen Sinn debattiert wurde eine alternative Entwicklungspolitik allerdings erst ab 2004 – was vor allem zwei Gründe haben dürfte: Zum einen überwand der venezolanische Staat in diesem Zeitraum die schwere Fiskalkrise, die ihn während der innenpolitischen Auseinandersetzungen 2002/2003 an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hatte.[3] Dank einer geglückten Konsolidierung bei PDVSA und des steigenden Ölpreises verfügte der Staat ab 2003/2004 über deutlich mehr Mittel. Zum anderen radikalisierte sich der politische Prozess. Die Mobilisierungen gegen die oppositionellen Umsturzversuche im April und Dezember 2002 machten deutlich, dass nicht die Parteien des Regierungslagers oder staatliche Institutionen, sondern dezentrale und nicht fest organisierte Basisnetzwerke[4] die wichtigste Stütze der Regierung darstellten. Diese jedoch forderten die Durchsetzung eines anderen gesellschaftlichen Modells. 

Misiones: Sozialpolitik und innenpolitischer Konflikt

Bis Ende 2001 hatte sich die Regierung Chávez auf die Verabschiedung der neuen Verfassung (zum verfassunggebenden Prozess vgl. Twickel 2006: 135-154; Wilpert 2007), die gleichzeitig autoritäre wie demokratisierende Momente beinhaltet – zum einen wurde die Präsidialmacht gestärkt, zum anderen werden aber auch demokratische Partizipationsmöglichkeiten deutlich erweitert und eine politische Inklusion marginalisierter Gruppen durchgesetzt – sowie auf eine größere außenpolitische Unabhängigkeit gegenüber den USA konzentriert. Mit dem Putsch im April 2002, der maßgeblich von Privatmedien, dem PDVSA-Management und Teilen der Armee getragen wurde, auf Rückendeckung aus den USA zählte und mit Massendemonstrationen der venezolanischen Mittelschichten einherging (Lemoine 2003a; 2003b; 2003c; Wilpert 2007; Zelik/Bitter/Weber 2004; zur Rolle der USA: Gollinger 2006), wurde schließlich deutlich, dass sich der innenpolitische Konflikt in Venezuela entlang sozialer Bruchlinien entwickelte. Nachdem die Regierung während des Unternehmerstreiks im Dezember 2002 erneut maßgeblich ‘von unten’, soll heißen: von den Bewohnern der Armenviertel, verteidigt worden war, begann die Regierung Chávez, ihre Politik entschlossener an den Interessen subalterner Gruppen auszurichten. Für Chávez’ Anhängerschaft in den Armenvierteln bestand das Hauptmanko der Regierungspolitik zu diesem Zeitpunkt nämlich – ganz anders als es die Kritik der bürgerlichen Opposition und den meisten ausländischen Medien vermuten ließ – nicht darin, dass die Regierung zu radikal gewesen wäre, sondern im Gegenteil, dass sie an den Verteilungsverhältnissen bis dahin kaum gerüttelt hatte.[5]

Dass die Chávez-Regierung ab 2003 alternative Sozial- und Entwicklungsprojekte in Angriff nahm, entsprach also durchaus den Vorstellungen jener unsichtbaren Mehrheit, die in der “venezolanischen Musterdemokratie” des Puntofijismo keine Rolle gespielt hatte (Lander 2005; Denis 2005). Der häufig zu hörende Einwand, dass die zu diesem Zeitpunkt einsetzende Sozialpolitik keiner kohärenten Strategie folgte (Eisenbürger/Küppers 2005), ist dabei zweifellos richtig. Man muss andererseits aber auch sehen, dass die neue Sozialpolitik eben nicht so sehr das Ergebnis eines Regierungsvorhabens als vielmehr Resultat einer spezifischen Konfliktdynamik war.

Die Geschichte der mittlerweile viel beachteten Misiones, der staatlichen Sozialprogramme, zeigt diesen improvisierten Charakter der neuen Politik recht deutlich. Zu den ersten Programmen gehörten die Missionen “Barrio” “Adentro”, “Ribas”, “Robinson” und “Mercal” (vgl. den Überblick bei Wilpert 2007), mit denen eine Befriedigung von Grundbedürfnissen (medizinische Versorgung, Alphabetisierung, Zugang zum Bildungswesen, Versorgung mit Produkten des täglichen Bedarfs) sichergestellt werden sollte. Die soziale Basis, die Chávez 1998 ins Amt gebracht und 2002 gegen die rechte Opposition verteidigt hatte, profitierte dadurch erstmals direkt von der Regierungspolitik. Dies negativ als Klientelpolitik zu beschreiben, geht an der Realität vorbei und verkennt die realen Erfolge der Programme. Durch das “Barrio-Adentro-Programm”, in dessen Zusammenhang 10.000 kubanische Ärzte ins Land kamen, erhielten Millionen von Barrio-Bewohnern erstmals eine medizinische Grundversorgung vor Ort. Die Missionen “Ribas und “Sucre” ermöglichten es Hunderttausenden, eine (Fach-)Hochschule zu besuchen. Und schließlich war zwar die Analphabetenrate in Venezuela schon vor der großen Alphabetisierungskampagne “Robinson” vergleichsweise niedrig. Doch auch diese Mission erreichte Hunderttausende und implizierte eine Anerkennung gerade der am meisten marginalisierten Bevölkerungsgruppen, also der alten, aus ländlichen Regionen stammenden, meist farbigen und weiblichen Barrio-Bewohner. Eine Politik, die sich auf solche Weise ausgegrenzten und entrechteten Bevölkerungsgruppen zuwendet, kann nicht einfach als wahltaktisch denunziert werden.

Ein zweiter, nicht minder interessanter Aspekt der Missionen bestand in der gesellschaftlichen Mobilisierung, mit der diese einhergingen. Bis Ende 2003 hatte sich die Chávez-Regierung in der eigentümlichen Situation be­funden, dass sie zwar die Regierung stellte, nicht aber den Staatsapparat kontrollierte – eine Situation, die Rossana Rossanda (1974) am Beispiel Chiles unter Salvador Allende aufschlussreich diskutiert hat. Diese Krisen­situation führte im venezolanischen Fall allerdings zu bemerkenswerten Provisorien: 2003 sah sich die Regierung Chávez gezwungen, am eigenen Verwaltungsapparat vorbei zu regieren – oder wie es auch heißt: einen Bypass zu legen (eigenes Interview mit dem Vizepräsidenten José Vicente Rangel, 20.09.2005). In diesem Sinne entwickelten sich die Missionen im Konflikt mit der Opposition als improvisierte Regierungsmaßnahmen. An den staatlich verwalteten “Mercal-Läden lässt sich das – auch in seiner Widersprüchlichkeit – gut zeigen.

Der Gründung der Läden ging die Krise Ende 2002 voraus. Der im Wesentlichen von Unternehmern und Mittelschicht getragene politische “Streik”[6] gegen die Chávez-Regierung führte damals zu einem Zusammenbruch der Grundgüterversorgung, die vom Großhandel einfach eingestellt wurde. Vor allem in Caracas bildete sich vor diesem Hintergrund eine Art Notversorgung heraus: Die Regierung kaufte Lebensmittel, Kochgas und Benzin im Ausland ein, die Armee transportierte die Güter in die Armenviertel, und die Verteilung wurde von lokalen Stadtteilorganisationen übernommen (eigenes Interview mit Stadtteilorganisationen von La Vega und dem Sozialwissenschaftler Andrés Antillano, Mai 2003). Den kulturell-politi­schen Basisnetzwerken[7] wurde dabei eine offizielle Anerkennung zuteil, die ihnen bis dahin verwehrt geblieben war. Mit der Gründung der “Mercal-Läden sollte diese Erfahrung nun institutionalisiert werden. Die Läden sollten eine von Großunternehmen unabhängige Versorgung sicherstellen und gleichzeitig eine Steuerung von Konsum und Nachfrage ermöglichen, indem gezielt genossenschaftlich produzierte Güter oder Produkte aus dem lateinamerikanischen Ausland vertrieben werden sollten (Wagner 2005; Twickel 2006: 272f.). In der Praxis wurde diese strategische Ausrichtung in der Folgezeit je­doch kaum umgesetzt: Zwar fanden Aktivisten aus Basisgruppen Anstellung in den staatlichen Läden, doch die Verschränkung mit bestehenden Organi­sationen verhinderte nicht, dass sich erneut korrupte und ineffiziente Struk­turen herausbildeten. So berichteten bei “Mercal angestellte Stadtteilakti­visten in Caracas von massiver Veruntreuung im Unternehmen (eigene In­terviews mit “Mercal”-Mitarbeitern: 10.09. 2005). Auch das staatliche Programm Producción y Distribución Venezolana de Alimentos (PDVAL), das 2008 als Weiterentwicklung von MERCAL geschaffen wurde, ist von schwerer Korruption geprägt. Das vom Ölkonzern PDVSA finanzierte System zur Lebensmittelversorgung wurde 2010 von einem Skandal erschüttert. Die PDVAL-Leitung  hatte 1300 Container mit Nahrungsmitteln in einem Lager im Bundesstaat Carabobo gehortet. Weiter 800 Container mit verfallenen Lebensmitteln wurden im Nachbarstaat Cojedes entdeckt. Es scheint, dass der Ex-Direktor des Programms Luis Pulido mit den Nahrungsmitteln spekuliert hatte – was schließlich zu seiner Verhaftung führte (El Universal, 1.6.2010; Venezuelanalysis Online 2.6.2010). Vorstellbar ist aber auch, dass es sich einfach um Gleichgültigkeit handelte, wie sie für die venezolanischen Staatsbürokratien der IV. wie V. Republik alles andere als untypisch ist.

Aus diesen Korruptionsfällen lässt sich allerdings nicht ableiten, dass die Nahrungsmittelprogramme völlig misslungen sind. Die Versorgung der Barrio-Bewohner und besonders der (im Rahmen von Gesundheitsprogrammen betriebenen) Armenküchen beruht wesentlich auf den staatlichen Ernährungsprogrammen.

Zu einer interessanten Verschränkung staatlicher Sozialpolitik und Selbstorganisation kam es, zumindest anfangs, auch bei den Bildungs- und Gesundheitsmissionen “Robinson, Ribas und Barrio Adentro. Die Sozialprogramme wurden initiiert, weil Venezuelas Akademiker in der Regel nicht bereit waren, in den als gefährlich geltenden Armenvierteln zu arbeiten (Wilpert 2007). Vor diesem Hintergrund griff man bei den Bildungsprogrammen “Robinson und “Ribas” auf provisorische Lösungen zurück. Die Stadtteilorganisationen stellten Klassenräume und Übungsleiter (facilitadores), der Staat lieferte Bücher, Fernseher und didaktisch aufbereitete Unterrichtsvideos, die von kubanischen Pädagogen erstellt worden waren. Es war augenscheinlich, dass sich das Fehlen ausgebildeter Lehrer auf die Nachhaltigkeit der Programme negativ auswirkte (Zelik 2005). Andererseits lösten die beiden Misiones eine regelrechte Bildungsbegeisterung in der armen Bevölkerung aus – wahrlich kein geringer Erfolg. In einer bis dahin räumlich, politisch und sozial marginalisierten Bevölkerungsgruppe setzte sich die Überzeugung durch, dass Ausgrenzung nicht naturgegeben ist. Auch wenn zahlreiche Teilnehmer der Mission “Ribas ihre Ausbildung vor dem Erreichen der Hochschulreife abbrachen – in den Barrios von Caracas wurde die mangelhafte Disziplin von Betreuern und Schülern häufig kritisiert –, ist die Zahl derjenigen, denen sich durch die Programme neue Perspektiven eröffneten, nicht zu unterschätzen.

Ganz ähnlich liegt der Fall bei der Gesundheitsmission “Barrio Aden­tro. Der umstrittene Rückgriff auf kubanische Ärzte hatte damit zu tun, dass venezolanisches Fachpersonal – das mehrheitlich aus der Mittelschicht stammt – selten bereit war, in Armenvierteln und abgelegenen Dörfern zu arbeiten. In Anbetracht dieses Fachkräftemangels schloss die Regierung Chávez das mittlerweile allgemein anerkannte Abkommen mit der kubanischen Regierung, in dessen Rahmen Öl gegen medizinisches und technisches Know-how getauscht wird. Zwar kritisierte die venezolanische Ärzteschaft die Einreise der 10.000 kubanischen Mediziner nicht ganz zu Unrecht als Lohndumping,[8] doch auch dieses Programm war zunächst von einer bemerkenswerten Bürgerpartizipation geprägt. In der Anlaufphase der Misión wurden von den Nachbarschaften nämlich verlangt, Gesundheitskomitees zu gründen, die die kubanischen Ärzte bei der täglichen Arbeit unterstützten. Auf diese Weise engagierten sich allein in Caracas Tausende Personen im Rahmen von “Barrio Adentro.

Der vielfach kritisierte Bypass, also die Improvisation einer alternativen Staatlichkeit, bei der sich Regierungsinstanzen direkt mit Stadtteilgruppen kurzschlossen, brachte dabei hochinteressante Aspekte hervor. Klassisch-assistenzialistische Strukturen wurden aufgebrochen, weil die Bevölkerung nicht einfach versorgt wurde, sondern sich aktiv an den Kampagnen beteiligen musste. Die politische Mobilisierung wirkte dabei in eine doppelte Richtung: Sie ermöglichte den Betroffenen eine Partizipation am Veränderungsprozess, garantierte der Regierung aber auch eine politische Massenbasis.

Seit 2005 hat diese Verschränkung von Basismobilisierung und Regierungsprogrammen allerdings stark an Bedeutung verloren. Dafür verantwortlich dürften zwei Faktoren gewesen sein. Zum einen ist ein beträchtlicher Teil des Regierungslagers ganz konkret daran interessiert, sich als Staatsbürokratie festzusetzen. Das, was häufig als Korruption kritisiert wird, lässt sich nämlich auch einfach als Professionalisierungs- und Spezialisierungsstrategie eines (neuen oder alten) Staatspersonals beschreiben. Da ein Posten im Staatsapparat gleichbedeutend mit ökonomischer Sicherheit ist und informelle Bereicherungsstrategien ermöglicht, muss die Bürokratie darauf bedacht sein, nicht durch Basisprozesse überflüssig gemacht zu werden.

Zum anderen dürfte aber auch der Einfluss staatssozialistischer Ideologien bei der Entwicklung eine wichtige Rolle spielen. Chávez’ strategische Allianz mit Kuba impliziert eine Orientierung an solchen (spätleninistischen und staatszentrierten) Modellen, in denen sozialistische Umgestaltung in erster Linie über einen Regierungs- und Verwaltungsapparat erfolgt.

Beide Momente – das Interesse, Tätigkeiten im Rahmen der Sozialprogramme als feste Posten zu institutionalisieren, und die politische Überzeugung, dass Gesellschaftsalternativen über den Staatsapparat aufgebaut werden müssen – dürften dazu beigetragen haben, dass die Sozialprogramme ihren offenen und mobilisierenden Charakter teilweise wieder verloren haben. Dabei steht zu befürchten, dass die im Zusammenhang institutionalisierter Sozialpolitik neuen ‘bolivarianischen’ Verwaltungsapparate ebenso undurchsichtig, bürokratisch und ineffizient sein werden wie die berüchtigten Strukturen des Puntofijismo.

“Endogene Entwicklung” und “Sozialismus des 21. Jahrhunderts”

Mit den Begriffen “endogene Entwicklung und Sozialismus des 21. Jahrhunderts brachte Präsident Chávez dann 2004 bzw. 2005 auch Eckpunkte eines alternativen Wirtschafts- und Entwicklungsprojekts ins Gespräch. Obwohl vor allem der “Sozialismus des 21. Jahrhunderts” mittlerweile in aller Munde ist, sind beide Konzepte bis heute nur in Umrissen skizziert.

Unter “endogener Entwicklung versteht man in Venezuela eine Politik dezentraler und nachhaltiger Entwicklung, die lokale Fähigkeiten und Strukturen als Potenzial zu nutzen versucht (Gobierno de Venezuela 2004). Im Unterschied zu den fordistischen Strategien der Importsubstituierung, die in Lateinamerika in den 1950er und 1960er Jahren vorherrschend waren, soll eine kleinteiligere Entwicklung betrieben werden, die lokale Selbstversorgungskreisläufe in ländlichen Regionen, aber auch im informellen Sektor integriert und fördert. Außerdem wird Entwicklung nicht nur als wirtschaftliches und politisches, sondern auch als ökologisches und soziokulturelles Vorhaben begriffen:

"Wir wollen die Wirtschaftsdemokratie erweitern und vertiefen, eine Arbeits- und Produktionskultur stärken; unsere Abhängigkeit von den Öleinnahmen schrittweise verringern. Wir wollen die Ökonomie jenseits des Öls diversifizieren und lokale Produktion ankurbeln, indem wir die Selbstverwaltung und unterschiedliche Eigentumsformen stärken sowie alternative Produktions- und städtisch-ländliche Konsumbeziehungen fördern" (Gobierno de Venezuela 2004).

Das Konzept des “Sozialismus des 21. Jahrhunderts” zielt in eine ähnliche Richtung. Der deutsch-mexikanische Soziologe Heinz Dieterich (2006), von dem der Begriff ursprünglich stammt, hat damit ein Modell bezeichnet, in dem ein nicht kapitalistischer Äquivalententausch, demokratische Strukturen und ein lateinamerikanisches Integrationsprojekt kombiniert werden. Die venezolanischen Regierungsveröffentlichungen orientieren sich aber nur teilweise an Dieterichs (nicht wirklich neuem) Modell und sprechen allgemein von folgenden Merkmalen eines alternativen Sozialismus: a) Errichtung einer sozialen, aber nicht vollständig verstaatlichen Ökonomie, in der die Grundversorgung öffentlich gewährleistet und solidarische, genossenschaftliche und kollektive Eigentums- und Produktionsformen gefördert werden; b) Aufrechterhaltung und Vertiefung der Demokratie durch Plebiszite, Referenden, Partizipationshaushalte etc.; c) eine inhaltliche Anpassung des Begriffs Sozialismus an die lateinamerikanische Wirklichkeit, indem indigene Kollektivtraditionen, christliche Prinzipien und Gerechtigkeitskonzepte der Unabhängigkeitskriege aufgegriffen werden und d) die Verfolgung eines kontinentalen Integrationsprojekts, wie es von Chávez unter dem Namen ALBA (Alianza Bolivariana para los Pueblos de Nuestra América) propagiert wird.[9]

Gegen die Konzepte lässt sich auf einer allgemeinen Ebene nicht allzu viel einwenden. Endogene Entwicklungskonzepte werden auch von der UNO propagiert, nachdem die nachholende fordistische Entwicklung – wie sie bis in die 1970er Jahre in weiten Teilen der sogenannten Dritten Welt verfolgt wurde – schwere ökologische Zerstörungen nach sich zog und in den meisten Staaten auch ökonomisch scheiterte. Dazu kommt, dass sich die nachholende fordistische Modernisierung als ungeeignet für eine emanzipatorische Transformation von Gesellschaften erwiesen hat.[10]

Dass Sozialismus im 21. Jahrhundert eine Stärkung solidarischer (nicht-staatlicher) Eigentumsformen, die Förderung partizipativer Demokratie und die Berücksichtigung lokaler/regionaler Traditionen beinhalten sollte, erscheint nach den Erfahrungen mit den staats- und eurozentrierten autoritären Ideologien des 20. Jahrhunderts ebenfalls reichlich plausibel.

Wie kaum überraschen dürfte, besteht das grundlegende Problem jedoch darin, dass zwischen den allgemeinen Zielen und der konkreten Umsetzung eine gewaltige Lücke klafft. Dabei kann der Einwand kaum lauten, dass die Chávez-Regierung keine Lösungsmodelle für eine alternative soziale, ökonomische und ökologische Entwicklung parat hat. Klimawandel, das ungelöste globale Armutsproblem, Finanz- und Überproduktionskrise zeigen heute deutlich, dass auch die bürgerlichen Gesellschaften und die freie Marktwirtschaft keine Lösungen auf die großen Menschheitsfragen zu bieten haben. Kritisch einzuwenden ist also nicht, dass die Alternativkonzepte in Venezuela bislang nicht stimmig sind, sondern vielmehr, dass die Regierung wenig dafür tut, die Komplexität des Transformationsprojekts sichtbar zu machen und zu diskutieren.

Edgardo Lander (2006), regierungsnaher und doch kritischer Intellektueller in Venezuela, hat mehrfach auf diesen Aspekt hingewiesen: Die Regierung Chávez propagiere den Sozialismus des 21. Jahrhunderts, ohne zu untersuchen, warum sich der real existierende Sozialismus zu einem autoritären, ökonomisch völlig ineffizienten System entwickelte. Tatsächlich liefert der Regierungsdiskurs in dieser Hinsicht wenig Reflexionen. Die Beibehal­tung einer gemischten Wirtschaft, die Bewahrung unterschiedlicher Eigen­tumsformen, demokratische Garantien und die Entwicklung spezifisch natio­naler oder regionaler Projekte ist alles andere als ein Novum in der sozialistischen Debatte. In Jugoslawien versuchte man sich ab den 1960er Jahren an Arbeiterselbstverwaltung und Genossenschaftssozialismus. In Peru übergab die Regierung des linken Militärs Juan Velasco Alvarado zwischen 1968 und 1975 Schlüsselbranchen an die Belegschaften, berief sich auf indigene Traditionen und stärkte Dorfversammlungen, also genau jenes Poder Popular, von dem auch in Venezuela heute wieder die Rede ist. Demokratische Partizipation, lateinamerikanische Identität, Meinungsfreiheit und gemischte Wirtschaft waren auch Eckpunkte des sandinistischen Programms in Nicaragua. All diesen Ansätzen ist gemein, dass sie – ebenso wie der Staatssozialismus sowjetischer Prägung – letztlich scheiterten. Das bedeutet nicht unbedingt, dass eine derartige Politik prinzipiell falsch gewesen sein muss. Zu beantworten wäre jedoch, warum sich auch diese Ansätze nicht auf die gewünschte Weise entwickelten.

Genau diese (entscheidende) Debatte wird von der Regierung in Venezuela vermieden. Und nicht nur das: In offensichtlichem Widerspruch zum eigenen Diskurs verteidigt die Regierung Chávez Kuba immer wieder als gesellschaftliches Modell. Dabei kann auch ein wohlgesinnter Beobachter, der die kubanischen Leistungen bei der Grundversorgung der Bevölkerung anerkennt, nicht übersehen, dass der Konsumsektor und die meisten Produktionsbereiche auf Kuba leidlich oder gar nicht funktionieren und das politische System durch und durch autoritär organisiert ist.

Die chavistische Haltung zu Kuba ist dabei durchaus charakteristisch für das venezolanische Regierungsprojekt. Plausible Grundprinzipien werden oft von der politischen Alltagspraxis konterkariert. Man spricht von einer alternativen, umweltverträglichen Entwicklung, vergibt im Zweifelsfall aber doch Schürflizenzen in indigenen Gebieten an transnationale Unternehmen (Radio Nacional de Venezuela, 24.04.2009). Man formuliert eine inhaltlich richtige Staatskritik, baut aber Institutionen auf, die den alten ausgesprochen ähnlich sind. Intransparent, ineffizient und demokratisch unkontrollierbar dienen sie den neuen Funktionären zur persönlichen Bereicherung.[11] Dabei ist nicht überraschend, dass die neuen Institutionen den alten ähneln. Der Klientelcharakter des venezolanischen Staates hat ja nicht in erster Linie damit zu tun, dass er mit schlechtem, korrumpiertem Personal besetzt wäre. Sein Problem war und ist struktureller Natur: Die Tatsache, dass innerhalb des Staates die Erdölrente verteilt wird, formt diesen klientelistisch. Strategien zur privaten Bereicherung im Staat ließen sich nur unterbinden, wenn es zu einer radikalen Demokratisierung käme, also wenn die aktive Bürgerbeteiligung eine Transparenz des Apparates erzwänge. Von einer solchen Contraloría Social ist in Venezuela zwar die Rede – sie gehört zu den Stützpfeilern der Verwaltungsreform, doch in der Praxis erweist sich der Staatsapparat als kontrollresistent. Und zwar nicht zuletzt deshalb, weil der politische Apparat von Führungsstrukturen und informellen Machtnetzwerken beherrscht wird, zu deren Entstehen der personalistische Stil des Präsidenten beiträgt. Chávez spielt also eine widersprüchliche Rolle: Einerseits kommt ihm das Verdienst zu, eine Partizipationsbewegung ausgelöst zu haben, andererseits steht er als überhöhte Führerfigur einer radikalen Demokratisierung im Wege, die wiederum das einzig wirksame Mittel gegen den Klientelismus zu sein scheint.

“Entwicklungskerne”, Genossenschaften, Arbeiterselbstverwaltung

Doch auch wenn die konkreten Transformationen von Ökonomie und Gesellschaft weit hinter der Regierungsrhetorik zurückbleiben, lohnt es sich, einige Pilotprojekte und -programme genauer zu betrachten: 2004/2005 begann die Regierung mit der Einrichtung von entwicklungspolitischen Musteranlagen, den sogenannten Núcleos de Desarrollo Endógeno. Die wohl bekannteste dieser Anlagen befindet sich im Armenviertel “Catia” im Westen der Hauptstadt Caracas. Auf einem stillgelegten Gelände des Staatskonzerns PDVSA versucht man dort im Núcleo de Desarrollo Endógeno Fabricio Ojeda, die Verbindung von Wirtschafts-, Sozial- und Entwicklungspolitik sichtbar zu machen: Versorgungseinrichtungen und Produktionsanlagen liegen direkt nebeneinander. Neben einer Klinik, Sportplätzen und einigen Nachbarschaftseinrichtungen gibt es eine Schuhfabrik, eine Schneiderei sowie genossenschaftlich betriebene Gemüsegärten. Die Gesundheitseinrichtungen, darunter auch eine Apotheke, die Medikamente zu Niedrigpreisen zur Verfügung stellt, werden vom Staat unterhalten und sind kostenlos. Auch die Investitionen in den Fertigungsanlagen wurden mit staatlichen Mitteln finanziert. Die Anlage macht deutlich, dass es der venezolanischen Regierung nicht in erster Linie um eine Steigerung weltmarktorientierter Produk­tion geht. Unter Entwicklung versteht sie vielmehr einen umfassenden sozioökonomischen Prozess, der der Bevölkerungsmehrheit zugute kommen muss (vgl. die Selbstdarstellung unter PDVSA 2005, eigene Interviews mit Mitarbeitern des Núcleo September 2005).

Gleichzeitig wird auf der Anlage produziert. Die Schuh- und Textilgenossenschaften wurden im Rahmen der Mission “Vuelvan Caras gegründet, einem Ausbildungsprogramm, das Erwachsenen die Berufsausbildung ermöglicht. Die Genossenschafter wurden 2005 in der Schuh- und Textilfabrik ausgebildet, um die Anlage selbstständig weiterführen zu können. Die vom Staat getätigten Investitionen müssen dabei, zumindest perspektivisch, von den Genossenschaften abgezahlt werden (Zelik 2005).

Offensichtlich will man vermeiden, erneut paternalistische Beziehungen zwischen Staat (bzw. Staatseliten) und Bürgern herzustellen, wie sie für den Populismus unter Carlos Andrés Pérez so charakteristisch waren. Staatsmittel sollen nicht einfach konsumiert werden, sondern in Produktionsanlagen und Ausbildung fließen. Die Genossenschafter werden, zumindest theoretisch, vom Staat nicht alimentiert. Sie müssen ihre Anlagen abbezahlen und auf diese Weise Mittel für andere Förderprojekte zur Verfügung stellen. Außerdem wird das Projekt als Ausdruck einer “Wirtschaftsdemokratie” verstanden – ganz der in Europa in den 1920er Jahren vor allem von Linkssozialisten verteidigten Idee verpflichtet, dass Demokratie auch das Arbeits- und Produktionsleben erfassen muss. ‘Politisch’ ist weiterhin, dass man sich – dem “endogenen” Prinzip folgend – bemüht, auf lokales Wissen zurückzugreifen: “Catia” gilt als Viertel, in dem traditionell zahlreiche Schuh- und Textilwerkstätten existieren.

Das grundlegende Problem des Projekts wird jedoch auch in diesem Fall wenig reflektiert: In kaum einem Bereich ist die Weltmarktkonkurrenz so brutal wie in der Schuh- und Textilbranche. Wenn die venezolanischen Genossenschaften nicht mit südostasiatischen Sweat Shops um die schlechtesten Arbeitsbedingungen konkurrieren sollen, werden sie dauerhaft auf die Unterstützung oder zumindest Protektion des Staates angewiesen sein. Auf diese Weise erlebt das paternale Prinzip, das dem Klientel-Populismus zugrunde liegt, dann aber doch eine stille Renaissance. Der Staat – und noch drastischer: Präsident Chávez – wird auch weiterhin für die Kooperativen sorgen. Dabei ist wenig dagegen zu sagen, dass die lokale Produktion vor einer Niedriglohnkonkurrenz geschützt werden soll. Doch umso direkter diese Unterstützung in Form von Subventionen erfolgt, desto ausgeprägter werden die Alimentierungserwartungen sein, die für Venezuela so typisch sind: Der Staat ist der Versorger (tendenziell passiver) Bürger.

Auch größer angelegte Projekte in der Automobil- und IT-Branche sind mit diesem Phänomen konfrontiert: Das 2006 gegründete iranisch-vene­zo­lanische Joint Venture “Venirauto“” produziert seit mittlerweile zwei Jahren und will 2009 nach eigenen Angaben 10.000 Kleinwagen auf den Markt bringen (Selbstdarstellung “Venirautos, <http://www.venirauto.com>, 30.04.2009). Auch wenn der Aufbau einer eigenen Pkw-Produktion wohl nicht zu den brennendsten Prioritäten in Venezuela gehört, gibt es nachvollziehbare Argumente für das Projekt. Der Fuhrpark der Venezolaner ist völlig überaltert, gerade die Mittelschicht fährt – auch wegen des extrem niedrigen Benzinpreises[12] – große, umweltschädliche US-Modelle aus den 1970er Jahren. Eine Modernisierung durch Pkws aus eigener Produktion würde also tatsächlich wichtige Probleme lindern. Doch bisher ist völlig unklar, ob das Vorhaben realisierbar ist. “Venirauto lässt kaum etwas über die ersten zwei Produktionsjahre verlautbaren. Auf dem Markt sind die Pkws bislang nicht erhältlich. Die ersten Fahrzeuge wurden an Militärs verteilt und es ist von jahrelangen Wartezeiten für potenzielle Käufer die Rede (Presseagentur Xinhua/spanische Ausgabe des People’s Daily, 10.07.2007; Venezuela de Televisión 20.10.2008). Offensichtlich ist die Produktivität extrem niedrig, was aber auch mit der mangelhaften Arbeitsorganisation der iranischen Part­ner zusammenhängen soll. Unter Regierungsanhängern wird in Internetforen auf jeden Fall ausgiebig über “Venirauto” debattiert,[13] wobei das Schweigen des Unternehmens einigermaßen verdächtig wirkt. Die pro-chavistische Ge­werkschaft Sindicato de Trabajadores y Trabajadoras de Venirauto Indus­trias SINTRAVIN machte in einer Pressemitteilung vom 01.12.2008 zudem auch öffentlich, dass man bei dem iranisch-venezolanischen Konsortium seit Längerem einen Arbeitskampf mit der Unternehmensleitung führe (das Dokument ist einsehbar unter <http://www.aporrea.org/trabajadores/a67978. html>; 05.05.2009).

Andere Pilotprojekte im Joint-Venture-Bereich sind die chinesisch-venezolanischen Kooperationen zur Herstellung von Billig-Handys und ‑Laptops für den venezolanischen Binnenmarkt. Auch hier dürfte sich bald das Problem stellen, dass die Betriebe sich entweder internationalen Produktionsbedingungen anpassen oder aber vom Staat alimentiert werden müssen.

Dass eine Anbindung an den Staat ein prinzipielles Problem darstellt, wird bei den Agrarkooperativen schon heute deutlich. Fox (2007) berichtet im regierungsnahen, aber nicht unkritischen Online-Magazin Venezuelana­ly­sis.com von 181.000 Kooperativen, die 2007 in Venezuela registriert gewesen seien. Von diesen Genossenschaften funktionierten selbst nach offiziellen Statistiken weniger als 40%. Das hat unter anderem damit zu tun, dass der Genossenschaftsboom ein Ergebnis von Chávez’ politischer Mobilisierung ist. Dem Präsidenten gelingt es zwar immer wieder, gesellschaftliche Bewegungen zur Veränderung der sozioökonomischen Beziehungen auszulösen, doch häufig reicht der Impuls nicht aus, um eigenständig arbeitende Projekte zu konsolidieren. Auf einer landwirtschaftlichen Kooperative im südvenezolanischen Barinas berichteten Kleinbauern beispielsweise, dass von ursprünglich 100 Familien noch ganze zehn übrig geblieben waren (eigene Interviews mit Genossenschaftern, März 2005). Dabei hatte die Regierung viele ihrer Zusagen eingehalten und der abgelegenen Kooperative Einiges an Infra­struktur – Straßenanbindung, Häuser, Schulen etc. – zur Verfügung gestellt. Die geographische Lage und Konflikte innerhalb der Kooperative brachten jedoch viele Gründungsmitglieder dazu, innerhalb kurzer Zeit wieder aufzugeben. Erschwerend kam außerdem hinzu, dass viele Genossenschafter keine oder wenig Erfahrung im landwirtschaftlichen Bereich besaßen. Mit dem Ausbildungsprogramm “Vuelvan Caras und der Unterstützung durch Techniker versucht man diese Lücken zwar zu schließen, doch die Ergebnisse sind bisher ausgesprochen ernüchternd.

Aus dem Landwirtschaftsministerium wird weiterhin berichtet, dass es aufgrund der staatlichen Förderung immer wieder zu betrügerischen Genossenschaftsgründungen kommt. In einem Fall seien Landarbeiter von einem Großgrundbesitzer aufgefordert worden, eine Kooperative zu gründen und einen Antrag auf Landmaschinen zu stellen. Der staatlich finanzierte Traktor sei schließlich für einige Dutzend Kästen Bier an den Großgrundbesitzer abgetreten worden (eigene Interviews mit Mitarbeitern des Landwirtschaftsministeriums, September 2005).

Ein grundlegendes Problem des venezolanischen Transformationsprozesses scheint zu sein, dass das qualitative Wachstum nicht mit dem quantitativen Schritt halten kann. Dieses Problem wird von der Politik Chávez’ verstärkt. Der Präsident setzt auf die permanente politische Mobilisierung der Unterschichten. Das ist zum einen positiv: Chávez hat eine nicht repräsentierte, medial unsichtbar gemachte Bevölkerungsmehrheit zur Beteiligung ermuntert. Andererseits lösen seine Kommunikations- und Mobilisierungsstrategien aber auch kontraproduktive Eigendynamiken aus. Um den ihn tragenden Prozess in Gang zu halten, muss Chávez die Bevölkerung immer wieder von Neuem begeistern. Das heißt, er ist gezwungen, bei seinen Medienauftritten Erfolge vorzuweisen und die Skepsis zu bannen.

In diesem Zusammenhang könnte man von einer venezolanischen Va­riante der “Tonnenideologie”[14] sprechen: Das vorweisbare quantitative Wachstum wird höher bewertet als schlecht sichtbares qualitatives. Als ein Opfer dieser Politik könnte man den 2005 zurückgetretenen Wohnungsbauminister Julio Montes bezeichnen. Montes, der gute Beziehungen zu Stadtteilorganisationen besaß, hatte nach seinem Amtsantritt eine radikale Kehrtwende der öffentlichen Baupolitik vorgeschlagen. Er fror undurchsichtige Verträge mit privaten Bauunternehmern ein und suchte eine enge Koopera­tion mit den basisdemokratischen Comités de Tierra Urbana (CTU) (eigenes Interview mit dem Stadtteilaktivisten und Sozialwissenschaftler Andrés Antillano, 10.09.2005). Die CTU’s, die im Rahmen der Legalisierung städtischer Armenviertel 2002 entstanden, können – zumindest in Caracas – als horizontale Form der Nachbarschaftsorganisation gelten. Die kritische Stadtplanung verweist seit Langem darauf, dass Stadtentwicklung mit demokratischer Partizipation einhergehen muss – und zwar nicht nur, weil der urbane Raum ansonsten nur nach Verwertungsinteressen gestaltet wird. Demokratische Partizipation ist auch eine zentrale Voraussetzung für das Gelingen von Infrastrukturvorhaben. So hat man in Venezuela immer wieder die Erfahrung gemacht, dass staatliche Sozialsiedlungen nicht angenommen wurden und ungenutzt verfielen. Außerdem fungiert Partizipation als Kontrollmechanismus gegen die im Bauwesen verbreitete Korruption. Wenn zukünftige Bewohner direkt an Bauprojekten beteiligt sind, ist es viel schwieriger, Geld zweckzuentfremden oder mangelhaftes Material einzusetzen.

Vor diesem Hintergrund waren die Vorschläge von Minister Montes, staatliche Finanzmittel in einer Form von Co-Regierung gemeinsam mit Basisorganisationen zu verwalten, sehr sinnvoll. Dadurch jedoch, dass Partizipation und Transparenz in den Mittelpunkt gestellt wurden, konnte spürbar weniger gebaut werden als ursprünglich geplant. Präsident Chávez nahm dies schließlich zum Anlass, um den Minister in seiner Fernsehsendung “Alo Presidente öffentlich zu rügen. Montes reichte daraufhin im August 2005 den Rücktritt ein.

Dass formale und quantifizierbare Aspekte im Vordergrund stehen, ist ein Eindruck, der sich auch in anderen Bereichen einstellt. Die Demokratisierung des Wirtschaftslebens – also die Mitbestimmung in Großbetrieben oder die Selbstverwaltung von in Konkurs gegangenen, durch Belegschaften besetzten Fabriken –, zeigt in der Praxis nur begrenzte Wirkung. Oft beschränkt sich die Mitbestimmung auf eine Aufwertung der chavistischen Gewerkschaften innerhalb der Betriebe und auf eine revolutionäre Rhetorik, die an Arbeitsbedingungen und Entscheidungsprozessen wenig ändert. Die staatlichen Aluminiumanlagen von Alcasa zum Beispiel werden zwar seit 2005 in Mitbestimmung verwaltet, die Produktion gilt jedoch als so gesundheitsschädlich, dass sie eigentlich stillgelegt werden müsste. Selbst in diesem Ausnahmeprojekt stellt sich somit die Frage, was real unter Selbstverwaltung und Demokratie zu verstehen ist.

 

Ökonomische Bilanz des Chavismus

Auch wenn man von diesen Fallbeispielen auf die Makroebene zurückkehrt, bleibt das Ergebnis uneindeutig. Venezuelas Wirtschaftspolitik ist keineswegs erfolglos. Das Land hat nach der politischen Krise 2002 stets eine der höchsten Wachstumsraten Lateinamerikas vorweisen können. Dabei handelte es sich nicht immer um ein Wachstum des Ölsektors.[15] Allerdings speiste sich das Wachstum auch nicht aus einer Entwicklung alternativer produk­tiver Sektoren. Vor allem hohe – und letztlich dann doch wieder ölfinanzierte – Zuwächse der Binnennachfrage und des Importhandels waren für den Boom verantwortlich und ließen die Inflationsrate auf 30% ansteigen. 2008 knickte die Wachstumskurve aufgrund des verfallenden Ölpreises deutlich ein, lag aber immer noch bei etwa 5% (CEPAL 2009: 103).

Die von den meisten Beobachtern vorhergesagte Krise ist bislang nicht eingetreten. Es steht aber außer Frage, dass der Verfall des Ölpreises von mehr als 140 US$ pro Barrel Mitte 2008 auf 40 US$ Anfang 2009 die venezolanische Wirtschaft hart treffen wird. Der Staatshaushalt war bis Ende 2008 auf der Grundlage eines Weltmarktpreises von 60 US$ kalkuliert. Dennoch ist fraglich, ob die Krise existenzielle Ausmaße erlangen wird. Immerhin liegt der Ölpreis heute immer noch auf dem Niveau von 2005, als die Chávez-Regierung bereits umfangreiche Sozial- und Entwicklungsprogramme finanzierte. Zudem verfügt man über beträchtliche Reserven. Mit 33 Mrd. US$ (CEPAL 2008a: 177) besaß Venezuela vor der Krise die höchsten Pro-Kopf-Devisenreserven Lateinamerikas. Die Binnensparquote ist, auch wegen der Finanzpolitik der Regierung, relativ hoch. Und schließlich kann die Chávez-Regierung aufgrund neuer Steuergesetze auf eine solidere Einnahmebasis zählen als in der Vergangenheit.[16]

Als makroökonomischer Erfolg muss außerdem gelten, dass die Öleinnahmen sichtlich besser verteilt werden. Die Arbeitslosigkeit ist von 12% im Jahr 2006 auf 7,4% im Jahr 2008 zurückgegangen (CEPAL 2009). Dabei wurden, anders als in Westeuropa, vor allem reguläre Beschäftigungsverhältnisse geschaffen. Neuere Berechnungen der Einkommensverteilung durch die staatliche Statistikbehörde INE (<http://www.venezuelanalysis. com/news/4064>, 25.03.2009) gehen zudem von einem deutlich niedrigeren GINI-Koeffizienten aus. Der GINI-Wert von 0,42 ist zwar nach wie vor höher als etwa der deutsche Vergleichswert (0,28), doch innerhalb Lateinamerikas weist Venezuela eine der geringsten Einkommensspreizungen auf.

Umgekehrt kann man die Wirtschaftspolitik, zumindest gemessen an den Ansprüchen der Regierung, auch nicht wirklich als Erfolg bezeichnen. Die Außenhandelskennziffern legen nahe, dass sich die Strukturen bislang kaum geändert haben. Einer CEPAL-Studie zur lateinamerikanischen Weltmarktintegration (2008b) zufolge konnte Venezuela Außenhandel und Produk­tionsstrukturen in den vergangenen Jahren nicht wesentlich diversifizieren. Unter Chávez ist zwar viel von der lateinamerikanischen Integration die Rede, doch der Anteil Lateinamerikas am venezolanischen Außenhandel ist zwischen 2000 und 2007 sogar von 20 auf 15% gefallen, während der Anteil der USA nach wie vor bei über 50% liegt. Auch die großen Anstrengungen Venezuelas, strategische Beziehungen mit China und anderen asiatischen Ländern aufzubauen, schlagen sich in den Statistiken bislang kaum nieder. Venezuelas Exporte in den Pazifikraum machen nur 5% des Exportvolumens aus. Die Vergleichswerte Chiles und Kubas liegen bei 37% bzw. 30%. Neben Ecuador und Uruguay ist Venezuela somit eines der wenigen lateinamerikanischen Länder, das seine Handelsabhängigkeit von den USA bislang nicht reduzieren konnte (CEPAL 2008b).

Das bedeutet, dass sich die großen Integrationsprojekte der Regierung Chávez ökonomisch bisher kaum niederschlagen. Das ALBA-Bündnis, dem neben Kuba und Venezuela mittlerweile auch Bolivien, Nicaragua, die Karibikinsel Dominica und bemerkenswerter Weise auch das liberal regierte Honduras angehören, charakterisiert sich vor allem durch Willensbekundungen. Mit Ausnahme Kubas profitieren die anderen ALBA-Mitglieder einseitig von venezolanischer Unterstützung. Nur die venezolanisch-kubanischen Beziehungen können als Matrix alternativer Wirtschaftskooperation erörtert werden. Die Bereitstellung von kubanischen Ärzten, technischem Personal und Know-how gegen venezolanisches Öl ist das einzige – allerdings durchaus überzeugende – konkrete Beispiel dafür, wie eine alternative ökonomische Zusammenarbeit aussehen könnte. Wie sehr ALBA ein politisches Mobilisierungsprojekt ist, zeigt sich zudem auch in der Ankündigung, dass nun auch der Iran und Russland Mitglied des lateinamerikanischen Integrationsverbandes werden sollen.

Über das Ölbündnis Petrocaribe muss man Ähnliches sagen. In Petrocaribe sind 18 Staaten Mittelamerikas und der Karibik zusammengeschlossen, die von Venezuela Öl zu einem Vorzugspreis beziehen. Innerhalb der üblichen Frist von 90 Tagen müssen nur 50% der Forderungen bezahlt werden. Der Rest kann bei 1% Zinsen auf bis zu 25 Jahre gestreckt werden. 50 Cent pro Barrel sollen außerdem in einen gemeinsamen Agrarfonds fließen, mit dem die Nahrungsmittelsouveränität der Staaten gesichert werden soll (Telesur, 31.07.2008).

Die häufig zu hörende scharfe Kritik an Petrocaribe ist dabei nicht wirklich überzeugend. Dagegen, dass Venezuela gerade den ärmsten Staaten der Region Öl zu Vorzugskonditionen – aber immer noch oberhalb kostendeckender Preise – abgibt und damit Spielräume zur Armutsbekämpfung eröffnet, lässt sich nichts vorbringen. Und auch darüber, dass Venezuela mit dem Öl offensichtlich Außenpolitik macht und Sympathien ‘einkauft’, kann man in Anbetracht der US-amerikanischen und europäischen Handelspolitiken kaum verwerflich finden. Immerhin knüpfen die USA Handelserleichterungen systematisch an eine Kooperationsbereitschaft der lateinamerikanischen Länder in strategischen Bereichen der Sicherheitspolitik und Energieversorgung. Mit der sogenannten certificación der Drogenpolitik zwingt Washington den Ländern seit Langem nicht nur eine – ökologisch fatale – Drogenbekämpfung, sondern auch repressive Sicherheitsstrategien nach innen auf. Der einzige wirklich überzeugende Einwand gegen Petrocaribe wäre deshalb, dass die Öllieferungen untransparent von kleinen Führungsgruppen in den Mitgliedsstaaten verwaltet werden und dort, beispielsweise in Nicaragua, autoritäre und klientelistische Strukturen stärken.[17]

Aus einer politischen Perspektive betrachtet können Petrocaribe oder die als Gegenentwurf zum Internationalen Währungsfonds (IWF) konzipierte Banco del Sur also als gelungene Initiativen gelten. Venezuela zeigt mit ihnen auf, dass alternative politische Beziehungen und Handelsstrukturen denkbar sind. Das Land knüpft geschickt Allianzen mit anderen lateinamerikanischen Staaten und verschiebt dadurch das Kräfteverhältnis in der Region radikal. Dabei kommt der Chávez-Regierung das Interesse Brasiliens entgegen, sich selbst als Hegemonialmacht und Gegenpol zu den USA zu positionieren. Doch diese neuen Kräftekonstellationen bringen noch kein alternatives Wirtschafts- und Entwicklungsmodell hervor. Im Gegenteil: Wenn es konkrete Vereinbarungen mit den lateinamerikanischen Nachbarn im Süden gibt, dann handelt es sich meist um Pipeline-, Raffinerie- oder Ölfördervereinbarungen, die die ökonomische Struktur Venezuelas verfestigen und die auf fossilen Brennstoffen beruhende Entwicklung weiter fortschreiben.

Zusammenfassung

Ein abschließendes Urteil über die Sozial-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik der Regierung Chávez muss also uneinheitlich ausfallen. Der häufig zu hörende Vorwurf, die Regierung verteile das Öleinkommen allein aufgrund machtpolitischer Kalküle, ist offensichtlich falsch. Das ‘bolivari­ani­sche’ Venezuela ist bislang keine Neuauflage des populist system of conciliation. Wenn es der Regierung Chávez nur um den eigenen Machterhalt ginge, wäre es für sie in der Vergangenheit sehr viel einfacher gewesen, die traditionellen Eliten zu bedienen. Mit ihrer Sozialpolitik hat die Chávez-Regierung jedoch soziale Konflikte sichtbar gemacht und Alternativen zum herrschenden neoliberalen Modell aufgezeigt, die in Anbetracht der globalen Krise heute international wahrgenommen und diskutiert werden. Ausgerechnet ein ineffizient organisierter, klientelistischer Staat in Lateinamerika beweist, dass alternative Fiskal- und Sozialpolitiken möglich sind und mit solidem Wachstum einhergehen können.

Auch der Einwand, die venezolanische Regierung unternehme keine Anstrengungen, um die Öl- und Staatszentriertheit von Ökonomie und Gesellschaft zu überwinden, ist in dieser Form falsch. Die Regierung Venezuelas hat sich in den vergangenen Jahren durchaus darum bemüht, Finanzmittel nicht einfach zu konsumieren, sondern zu investieren und produktive Sektoren zu fördern. Groß angelegte Ausbildungs- und Gesundheitsprogramme, die Ankurbelung der Landwirtschaft und der Aufbau einheimischer Produktionsanlagen, darunter auch von Automobil- und IT-Unternehmen, belegen die Anstrengungen, sich produktiver und integraler zu entwickeln. Allerdings spricht einiges dafür, dass viele dieser Aktivitäten auf mittlere Sicht ähnlich versanden werden, wie dies in der Vergangenheit Venezuelas schon mehrfach der Fall war. Das hat unter anderem damit zu tun, dass einem qualitativen, politisch eingebetteten – also auch langsameren – Transforma­tionsprozess zu wenig Bedeutung eingeräumt wird. Die für eine gesellschaftliche Kontrolle von Staat und Verwaltung nötigen Demokratisierungsprozesse werden durch den Personenkult um Chávez blockiert. Die permanente politische Mobilisierung liefert tendenziell nur kurzfristige Impulse, es entsteht kein Klima, in dem sich eine selbstkritische Debatte über die Probleme alternativer ökonomischer Strukturen führen ließe.

Prinzipiell interessante Ansätze finden vor diesem Hintergrund zu wenig Umsetzung und bleiben formal. Dass das große alternative Projekt, das so­ziale Gerechtigkeit, Partizipation, Demokratie, Solidarität und Ökologie miteinander verbindet, in Venezuela bisher nicht zu erkennen ist, kann kein prinzipieller Einwand gegen die Regierung Chávez sein. Eine Alternative zu Markt und Konkurrenz hat mit vielen inneren Widersprüchen und nicht zuletzt auch mit massivem Widerstand von außen zu kämpfen. Zu kritisieren ist jedoch, dass in Venezuela zu wenig über strukturelle, ‘endogene’ Pro­bleme und über die desaströsen Erfahrungen des Realsozialismus diskutiert wird. Die Themen, um die es dabei gehen müsste, liegen auf der Hand. Nach den für die PSUV enttäuschend verlaufenen Parlamentswahlen von September 2010 hat Edgardo Lander (2010) acht Hauptprobleme benannt, die ich – weil er die Widersprüche m.E. sehr klar benennt – abschließend ausführlich wiedergeben möchte: 1) Das Entwicklungsmodell: „Ist das Ziel, Venezuela in eine ‚globale Energiemacht’ zu verwandeln, wie es im Sozial- und Entwicklungsplan 2007-2013 festgehalten wurde, kompatibel mit dem ‚ökologischen Sozialismus’, von dem in PDVSA-Texten die Rede ist?“ 2) Nahrungsmittelsouveränität: Wie kann diese erreicht werden, „wenn die großen Programme zur Verteilung von Land, zur Finanzierung und Unterstützung der Landwirtschaft ständig durch den Import subventionierter Lebensmittel unterlaufen werden, mit deren Preisen die heimische Produktion nicht konkurrieren kann?“ 3) Die Beziehung zwischen sozialen Organisationen, Staat und Partei: „Ist eine Demokratisierung der Gesellschaft ohne den Aufbau autonomer sozialer Organisationen möglich? Ist sie denkbar, wenn gleichzeitig Gewerkschafts- und populare Organisationen durch Staats- und Parteistrukturen kolonisiert werden? Sind die Consejos Comunales der demokratische Organisationskern der gesamten Gesellschaft beim Aufbau neuer sozialer Beziehungen, einer neuen staatlichen Institutionalität, die die bestehende ersetzt, oder sollen die roten Consejos Comunales der Ort sein, an dem sich Anhänger des Chavismus organisieren, auch wenn dadurch die Hälfte der Bevölkerung ausgeschlossen wird?“ (ebda). 4) Die Rolle von Chávez: „Sind das personifizierte Führungsmodell und das Fehlen kollektiver Debatten (...) kompatibel mit dem kollektiven Aufbau einer demokratischeren Gesellschaft? Wie wirkt sich die Tatsache, dass die Loyalität mit dem „máximo dirigente“ als Maßstab revolutionären Handelns gesehen wird, auf die aufzubauende Gesellschaft aus?“ (ebda). 5) Indigene Völker: „Ist für die Regierung die Ausbeutung der Kohlevorkommen in der Sierra de Perijá wichtiger als die Rechte der Yukpa und Bari, wichtiger als die Biodiversität in der Region (...)? Gibt es keine Grenzen der extraktiven Logik?“ (ebda) 6) Öffentliche Verwaltung: „Ist eine transparente Verwaltung und eine Beschränkung der wuchernden Korruption denkbar, wenn die Grenzen zwischen dem Öffentlichen / Staatlichen (das allen gehört) und dem (Partei-) Politischen verwischt werden?“ (ebda) 7) Unsicherheit: „Nach elf Jahren der Regierung, in denen sich die Mordrate praktische verdreifacht und Caracas zu einer der gefährlichsten Städte der Welt geworden ist“ kann man nicht „länger behaupten, dass es sich um ein von den Vorgängerregierungen geerbtes Problem (...) handelt“ (ebda). 8) Frauen: „Bis wann wird die Abtreibung ein Tabu in Venezuela sein? Wie kann es sein, dass selbst in einem Land mit so ausgeprägten Rechtsregierungen wie Kolumbien die Gesetzgebung weniger restriktiv als in Venezuela ist?“ (ebda)

Die venezolanischen Transformationsbemühungen sind in Zeiten neoliberaler Krisenverwaltung bemerkenswert – werfen sie doch jene grundlegenden Fragen zu Ökonomie, Gerechtigkeit, Ökologie und Demokratie neu auf, die sich in Anbetracht der Krise global mit großer Dringlichkeit stellen. Viele Ergebnisse sind in Venezuela beachtlich: Die Verteilungsgerechtigkeit hat zugenommen, die sozialpolitischen Programme haben das Land auf den Kopf gestellt. Mit den Consejos Comunales sind territoriale Selbstbestimmungsstrukturen entstanden, in denen viele Zehntausend Menschen zum ersten mal in ihrem Leben demokratisch aktiv geworden sind. Die Gesetze zur betrieblichen Mit- und Selbstbestimmung haben die Arbeitswelt reformiert. Vom eigenen Anspruch, einem demokratischen und ökologischen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, jedoch ist Venezuela nach wie vor weit entfernt.

 

 

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Fußnoten

[1]      Solange Reste des Ölreichtums auch in den unteren Segmenten der Gesellschaft anka­men, war dieses System einigermaßen stabil. Erst als 1983 im Rahmen der Internationa­len Schuldenkrise ein Geldentwertungskreislauf einsetzte, zerbrach dieser ‘Pakt’. Die Eliten wälzten die Krise nach unten ab, was zum Ausbruch des Caracazo, der Armuts­revolte vom Februar 1989, führte. Es kam zu einer tiefen Krise der Repräsentation, die schließlich in den 1990er Jahren den kometenhaften Aufstieg von Chávez möglich machte.

[2]      In der Landwirtschaft treibt diese Deformation – Unterentwicklung durch Reichtum – besonders absurde Blüten: Das südamerikanische Land, etwa dreimal so groß wie Deutschland, importiert etwa 60% seiner Lebensmit­tel. Die verbliebene Landwirtschaft ist von extensiver Viehzucht geprägt, was auch politische Folgen hat: Für die Eigentümer der Rinderfarmen ist Grundbesitz in erster Linie eine Form spekulativer Bodeninvestition. Die Zerstörung einheimischer Produktion – infolge der hohen Öleinnahmen – geht also mit einer Stärkung der politisch reaktionä­ren Landoligarchie einher.

[3]      2003 mussten Regierungsangestellte teilweise ein halbes Jahr auf ihren Lohn warten.

[4]      Diese Basisstrukturen als “spontan” zu bezeichnen, geht an der Sache vorbei, denn die Armenviertel von Caracas besitzen durchaus eigene, lange gewachsene Organisationsformen. Um bekannte, unfruchtbare Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Spontaneität, Organisation und Institutionen zu vermeiden, würde ich daher vorschlagen (Zelik 2006), den venezolanischen Prozess mit dem von Deleuze/Guattari entwickelten Konzept des Rhizoms zu diskutieren – also von sich selbst organisierenden, mannigfaltigen und sich nicht konzentrisch, nicht zwangsläufig hierarchisch verknüpfenden Verbindungen auszugehen.

[5]      Insofern ist es richtig, von drei Akteuren zu sprechen. Während die Opposition eine Umverteilung von Einkommen und Besitz zu verhindern suchte, forderte die soziale Basis des Chavismus genau diese Transformation. In vielen Konflikten, beispielsweise bei den Landkonflikten in Süd- und West-Venezuela, stand die Regierung lange zwischen diesen Positionen.

[6]      Nur im – allerdings zentralen – Erdölsektor wurde der sechswöchige “Generalstreik” von einer Mehrheit der Beschäftigten getragen. In den anderen Branchen waren es die Unternehmer, die Geschäfte schlossen und Werksanlagen stilllegten.

[7]      Das Bemerkenswerte an diesen Netzwerken ist, dass sich kulturelle, religiöse, soziale und politische Momente bei ihnen kaum voneinander trennen lassen. Viele Barrio-Organisationen haben sich jahrelang dadurch charakterisiert, dass sie kulturell-religiöse Feiern in den Armenvierteln organisierten. Die Feiern der afro-venezolanischen Communities sind jedoch oft selbst Ausdruck politischer Widerständigkeit. Die Besetzung katholischer Prozessionen durch afrikanische Kulte wird von vielen Stadtteilaktivisten als Ausdruck eines subalternen schwarzen und indigenen Widerstands verstanden. 2002 waren es vielerorts solche Gruppen, über die die Mobilisierung der Barrios gegen die Putschversuche lief (Zelik/Bitter/Weber 2004; Zelik 2006).

[8]      Problematisch ist zudem auch, dass die Bewegungs- und Kommunikationsfreiheit der Kubaner/innen eingeschränkt ist.

[9]      Wilpert (2006), der die Darstellungen Chávez’ seit Langem aufmerksam verfolgt, nennt als Eckpunkte der eher vagen Sozialismus-Definition a) Veränderungen der Besitzverhältnisse an materiellen und intellektuellen Produktionsmitteln, b) eine Abkehr von reinen Marktbeziehungen und c) eine staatliche Politik, die nicht in erster Linie Privatin­teressen verpflichtet ist.

[10]    In der Sowjetunion war die nachholende Industrialisierung unter Stalin zwar ökonomisch erfolgreich, ging jedoch mit massenhafter Zwangsarbeit und einer brutalen Autoritarisierung der Gesellschaft einher. Bemerkenswerterweise verlief die nachholende Entwicklung in den erfolgreichen Tiger-Ökonomien Südostasiens durchaus ähnlich. In Südkorea beispielsweise gelang der wirtschaftliche Anschluss zwischen 1960 und 1990 während einer sogenannten Entwicklungsdiktatur, die ebenfalls Formen von Zwangsarbeit einsetzte.

[11]    Über das Ausmaß der Korruption gibt es wenig gesicherte Daten. Man muss auch anmerken, dass die Klage über Korruption zu den Lieblingsbeschäftigungen der Venezolaner zählt. Unzweifelhaft ist jedoch, dass die gesetzlich vorgesehene Bürgerkontrolle (Contraloría Social) bislang kaum Wirkung zeigt. Der Nichtregierungsorganisation Transparency International (2006) zufolge, die ihre Berichte im Wesentlichen auf der Grundlage von Befragungen erstellt, hat Venezuela ein großes Korruptionsproblem. Allerdings muss dabei berücksichtigt werden, dass nach denselben Zahlen (Transparency International 2006: 17) die politische Korruption in den USA als noch gravierender erachtet wird als in dem südamerikanischen Land.

[12]    Der staatlich fixierte Benzinpreis, der deutlich unter dem Preis für Wasser liegt, ist um­stritten. Einerseits profitieren vor allem die Mittelschichten von dieser Quasi-Subven­tionierung. Andererseits wird der niedrige Benzinpreis auch als Symbol dafür verstanden, dass das Öl allen Venezolanern gehört und somit sozusagen frei verteilt werden sollte. Der Caracazo, der große Aufstand gegen die AD-Regierung von Carlos Andrés Pérez im Jahr 1989, kam maßgeblich dadurch zustande, dass die Regierung die Benzin- und Transportpreise anzuheben versuchte.

[13]    Eine aufschlussreiche Forumsdebatte ist unter <http://www.aporrealos.com/forum/ viewtopic.php?t=19808&sid=bfc1655678aef56408402b52a3ed7eaf>, (25.03.2009) nach­zulesen.

[14]    Als “Tonnenideologie” bezeichnete man die politische Praxis im Staatssozialismus, ökonomische Erfolge in (Gewichts-)Mengen auszudrücken. Diese Vorgehensweise trieb bizarre Blüten: Um das (in Gewicht definierte) Plansoll zu erfüllen, verlegten sich beispielsweise sowjetische Möbelfabriken darauf, unnötig schwere Metallschränke herzustellen, um auch bei geringer Stückzahl das Planziel zu erreichen.

[15]    Während das Bruttoinlandsprodukt 2007 um 8,4% stieg, schrumpfte der Erdölsektor um 4,2% (CEPAL 2008a: 175).

[16]    2007 wurden neue Direktabgaben für Erdölfirmen eingeführt, dank derer der Staat automatisch 50% aller Einnahmen bei einem Ölpreis von mehr als 50 US$ pro Barrel bzw. 60% bei einem Preis oberhalb von 100 US$ einbehält.

[17]    Auf die Frage, ob die sandinistische Regierung noch als links gelten könne, antwortete der peruanische Ökonom Oscar Ugarteche auf einer Konferenz des Schweizer “Solifonds” im Mai 2009 mit der Gegenfrage, ob jemand, der gegen Frauenbewegungen, Homosexuelle und das Recht auf Abtreibung eintrete, als links bezeichnet werden könne. Die Position ist insofern interessant, als Ugarteche dem Chavismus nahe steht und am Aufbau der Banco del Sur beteiligt ist.

 

Raúl Zelik

Neue Entwicklungskonzepte oder
alter Staatszentrismus?
“Endogene Entwicklung” und der
“Sozialismus des 21. Jahrhunderts” in Venezuela[1]

Wenn von der Sozial- und Wirtschaftspolitik der Regierung Chávez die Rede ist, bringen Kritiker/innen gewöhnlich sofort zwei Argumente ins Spiel: Erstens sei es kein Kunststück, mit hohen Öleinnahmen Sozialprogramme zu finanzieren, zweitens verschärfe die Staatszentriertheit der Wirtschaftspolitik die alten Strukturprobleme Venezuelas nur weiter. Eine sich selbst tragende nachhaltige Entwicklung sei in den vergangenen Jahrzehnten nämlich vor allem dadurch verhindert worden, dass das Land weitgehend am (ölfinanzierten) Subventionstropf hing und sich somit keine eigenständige produk­tive Basis entfalten konnte (Burchardt 2005a; 2005b).

Das erste Argument, das in der medialen Berichterstattung breiten Raum einnimmt, muss man in Anbetracht der realen politischen Entwicklungen ab 1998 schon als einigermaßen zynisch bezeichnen, denn faktisch war die Regierung Chávez in den ersten fünf Jahren hauptsächlich damit beschäftigt, Kämpfe um die Einnahmen des Ölsektors auszutragen. Dass der Erdölpreis 1999 nach einer Tiefpreisperiode wieder von etwa 10 auf knapp 20 US$ pro Barrel stieg, war zumindest anfangs den außenpolitischen Anstrengungen der damals frisch amtierenden Chávez-Administration geschuldet. Vene­zuela sorgte mit seiner politischen Initiative dafür, dass sich die Organisation Erdöl exportierender Länder (OPEC) neu konstituierte und zur Förderquotendisziplin zurückkehrte. Diese energiepolitische Offensive bescherte der Regierung Chávez frühzeitig die Feindschaft der USA und verschiedener europäischer Regierungen.

Auch die Fähigkeit, mit den (zunächst bescheiden) steigenden Öleinnahmen Sozialprogramme zu finanzieren, musste von der Regierung in Caracas mühselig erkämpft werden. So setzten die Mobilisierungen der bürgerlichen Opposition, die zwischen 2002 und 2004 zwei Umsturzversuche und ein Abwahlreferendum gegen Chávez organisierte (Wilpert 2003; 2007), nicht mit den politischen Reformen im Rahmen der Verfassunggebenden Versammlung 1999 ein, sondern Ende 2001, als die Regierung – bis dahin ohne klares sozialpolitisches Profil – Umverteilungsmaßnahmen in Angriff nahm. Der Konflikt eskalierte schließlich, als die Chávez-Regierung eigenes Personal im staatlichen Erdölunternehmen PDVSA durchzusetzen und die Kontrolle über den Staatsbetrieb zurückzuerlangen versuchte. Mommer hat in seinem lesenswerten Aufsatz “Subversive Oil” (2003) gezeigt, dass das PDVSA-Management bis dahin darum bemüht gewesen war, das Unternehmen systematisch der politischen Kontrolle zu entziehen und Gewinne – unter anderem durch Geschäfte mit ausländischen Tochterunternehmen – vor dem Staat zu verbergen. De facto, so Mommer, habe das Management dabei auf eine Re-Privatisierung von PDVSA hingearbeitet. Dass der Ölkonzern heute hingegen wieder einen Großteil der Gewinne an den Staat abliefert und somit fiskalpolitischer Spielraum für Sozialprogramme entstanden ist, lässt sich also nicht einfach mit dem rasanten Anstieg des Ölpreises ab 2002 erklären. Ohne die Bereitschaft der Regierung, sich oligarchischen Interessen zu widersetzen und politisch über die Ölreserven zu verfügen, wären die Sozialprogramme der letzten Jahre nicht finanzierbar gewesen.

Inhaltlich interessanter ist daher das zweite Argument, das die aktuelle Sozialpolitik der Chávez-Regierung als Wiederkehr des spezifisch venezolanischen “populist system of conciliation” (Rey 1991) bezeichnet. Tatsächlich waren Nahrungsmittelsubventionen, öffentlich finanzierte Wohnungsbau-, Gesundheits- und Bildungsprogramme auch in der Vergangenheit – besonders aber während der Bonanza Petrolera unter Präsident Carlos Andrés Pérez 1974-1979 – fester Bestandteil der Regierungspolitik. Dabei führte das System hoher Staatsausgaben zwar zu einer Verringerung der absoluten Armut (Buxton 2003), diente den Eliten jedoch gleichzeitig als Mechanismus zur privaten Bereicherung. Der ehemalige Vize-Planungsminister Roland Denis hat dies in einem Interview (Zelik 2003) als spezifisch venezola­nisches Akkumulationsmodell bezeichnet. Da Venezuela vollständig von der staatlich verwalteten Erdölrente abhängt, finde die privatkapitalistische Akkumulation im Staat statt. Der populistische ‘Pakt’ war sozusagen die politische Form zur Aneignung öffentlichen Reichtums. Staatliche Infra­struktur- und Bauprojekte wurden weit über den realen Kosten abgerechnet, die bewilligten Gelder verschwanden in Privatkassen. Allein der sozialde­mokratische Präsident und spätere Vizepräsident der Sozialistischen Interna­tionalen Carlos Andrés Pérez soll auf diese Weise ein Milliardenvermögen beiseitegeschafft haben. Der Puntofijismo generierte also eine von Korrup­tion und Klientelismus gezeichnete Staatlichkeit, durch die die Legitimität der “Musterdemokratie Venezuela” – wie es fälschlicherweise lange hieß – untergründig erodierte[2] (Lander 2005).

Kritiker verweisen nun darauf, dass die chavistische Sozial- und Entwicklungspolitik dem Klientelpopulismus von Carlos Andrés Pérez in vieler Hinsicht ähnlicher ist als es dem Regierungslager Recht sein kann (Burchardt 2005b). Die allgemeine Subventionierung der Wirtschaft blähe den Staat auf und verstärke vorhandene Korruptions- und Klientelstrukturen. Zudem habe die Regierung bislang wenig unternommen, um die Ölabhängigkeit zu überwinden. Genau diese Abhängigkeit ist jedoch die Crux des südamerikanischen Landes. Sie sorgt dafür, dass Venezuela letztlich immer mit zwei gleichermaßen problematischen Zuständen konfrontiert ist. In Pha­sen hoher Öleinnahmen leidet das Land unter der “holländischen Krankheit”, also unter einer chronischen Überwertung der einheimischen Währung. Die Dollarzuflüsse lassen den Wert des Bolívar steigen, was die im Inland herge­stellten Produkte relativ verteuert. Dadurch wird es billiger, Waren zu im­portieren, als sie in Venezuela selbst herzustellen. Produktive Sektoren kön­nen sich vor diesem Hintergrund kaum entwickeln.[3] Gehen die Öleinnahmen hingegen zurück, leidet das Land schlagartig unter Zahlungsengpässen und droht wie in den 1980er Jahren in eine Geldentwertungs- und Verschuldungsspirale zu geraten.

Dieser Zusammenhang von Ressourcenreichtum, Aufblähung des Staatsapparates und Entwicklungsblockaden ist der Regierung Chávez allerdings durchaus bekannt. Bereits 1999, als vom “Sozialismus des 21. Jahrhunderts” noch keine Rede war, sprach der Präsident von der Notwendigkeit nachhaltiger Entwicklungsstrategien. Im Mittelpunkt sollte dabei zunächst die Landwirtschaft stehen. Besonderes Interesse galt den Llanos, dem dünn besiedelten südvenezolanischen Tiefland, das Chávez (Harnecker 2003; Gott 2001) in eine Kornkammer verwandelt sehen wollte.

In einem umfassenderen Sinn debattiert wurde eine alternative Entwicklungspolitik allerdings erst ab 2004 – was vor allem zwei Gründe haben dürfte: Zum einen überwand der venezolanische Staat in diesem Zeitraum die schwere Fiskalkrise, die ihn während der innenpolitischen Auseinandersetzungen 2002/2003 an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hatte.[4] Dank einer geglückten Konsolidierung bei PDVSA und des steigenden Ölpreises verfügte der Staat ab 2003/2004 über deutlich mehr Mittel. Zum anderen radikalisierte sich der politische Prozess. Die Mobilisierungen gegen die oppositionellen Umsturzversuche im April und Dezember 2002 machten deutlich, dass nicht die Parteien des Regierungslagers oder staatliche Institutionen, sondern dezentrale und nicht fest organisierte Basisnetzwerke[5] die wichtigste Stütze der Regierung darstellten. Diese jedoch forderten die Durchsetzung eines anderen gesellschaftlichen Modells.

 

1.      Misiones: Sozialpolitik und innenpolitischer Konflikt

Bis Ende 2001 hatte sich die Regierung Chávez auf die Verabschiedung der neuen Verfassung (zum verfassunggebenden Prozess vgl. Twickel 2006: 135-154; Wilpert 2007), die gleichzeitig autoritäre wie demokratisierende Momente beinhaltet – zum einen wurde die Präsidialmacht gestärkt, zum anderen werden aber auch demokratische Partizipationsmöglichkeiten deutlich erweitert und eine politische Inklusion marginalisierter Gruppen durchgesetzt – sowie auf eine größere außenpolitische Unabhängigkeit gegenüber den USA konzentriert. Mit dem Putsch im April 2002, der maßgeblich von Privatmedien, dem PDVSA-Management und Teilen der Armee getragen wurde, auf Rückendeckung aus den USA zählte und mit Massendemonstrationen der venezolanischen Mittelschichten einherging (Lemoine 2003a; 2003b; 2003c; Wilpert 2007; Zelik/Bitter/Weber 2004; zur Rolle der USA: Gollinger 2006), wurde schließlich deutlich, dass sich der innenpolitische Konflikt in Venezuela entlang sozialer Bruchlinien entwickelte. Nachdem die Regierung während des Unternehmerstreiks im Dezember 2002 erneut maßgeblich ‘von unten’, soll heißen: von den Bewohnern der Armenviertel, verteidigt worden war, begann die Regierung Chávez, ihre Politik entschlossener an den Interessen subalterner Gruppen auszurichten. Für Chávez’ Anhängerschaft in den Armenvierteln bestand das Hauptmanko der Regierungspolitik zu diesem Zeitpunkt nämlich – ganz anders als es die Kritik der bürgerlichen Opposition und den meisten ausländischen Medien vermuten ließ – nicht darin, dass die Regierung zu radikal gewesen wäre, sondern im Gegenteil, dass sie an den Verteilungsverhältnissen bis dahin kaum gerüttelt hatte.[6]

Dass die Chávez-Regierung ab 2003 alternative Sozial- und Entwicklungsprojekte in Angriff nahm, entsprach also durchaus den Vorstellungen jener unsichtbaren Mehrheit, die in der “venezolanischen Musterdemokratie” des Puntofijismo keine Rolle gespielt hatte (Lander 2005; Denis 2005). Der häufig zu hörende Einwand, dass die zu diesem Zeitpunkt einsetzende Sozialpolitik keiner kohärenten Strategie folgte (Eisenbürger/Küppers 2005), ist dabei zweifellos richtig. Man muss andererseits aber auch sehen, dass die neue Sozialpolitik eben nicht so sehr das Ergebnis eines Regierungsvorhabens als vielmehr Resultat einer spezifischen Konfliktdynamik war.

Die Geschichte der mittlerweile viel beachteten Misiones, der staatlichen Sozialprogramme, zeigt diesen improvisierten Charakter der neuen Politik recht deutlich. Zu den ersten Programmen gehörten die Missionen “Barrio” “Adentro”, “Ribas”, “Robinson” und “Mercal” (vgl. den Überblick bei Wilpert 2007), mit denen eine Befriedigung von Grundbedürfnissen (medizinische Versorgung, Alphabetisierung, Zugang zum Bildungswesen, Versorgung mit Produkten des täglichen Bedarfs) sichergestellt werden sollte. Die soziale Basis, die Chávez 1998 ins Amt gebracht und 2002 gegen die rechte Opposition verteidigt hatte, profitierte dadurch erstmals direkt von der Regierungspolitik. Dies negativ als Klientelpolitik zu beschreiben, geht an der Realität vorbei und verkennt die realen Erfolge der Programme. Durch das “Barrio-Adentro-Programm”, in dessen Zusammenhang 10.000 kubanische Ärzte ins Land kamen, erhielten Millionen von Barrio-Bewohnern erstmals eine medizinische Grundversorgung vor Ort. Die Missionen “Ribas und “Sucre” ermöglichten es Hunderttausenden, eine (Fach-)Hochschule zu besuchen. Und schließlich war zwar die Analphabetenrate in Venezuela schon vor der großen Alphabetisierungskampagne “Robinson” vergleichsweise niedrig. Doch auch diese Mission erreichte Hunderttausende und implizierte eine Anerkennung gerade der am meisten marginalisierten Bevölkerungsgruppen, also der alten, aus ländlichen Regionen stammenden, meist farbigen und weiblichen Barrio-Bewohner. Eine Politik, die sich auf solche Weise ausgegrenzten und entrechteten Bevölkerungsgruppen zuwendet, kann nicht einfach als wahltaktisch denunziert werden.

Ein zweiter, nicht minder interessanter Aspekt der Missionen bestand in der gesellschaftlichen Mobilisierung, mit der diese einhergingen. Bis Ende 2003 hatte sich die Chávez-Regierung in der eigentümlichen Situation be­funden, dass sie zwar die Regierung stellte, nicht aber den Staatsapparat kontrollierte – eine Situation, die Rossana Rossanda (1974) am Beispiel Chiles unter Salvador Allende aufschlussreich diskutiert hat. Diese Krisen­situation führte im venezolanischen Fall allerdings zu bemerkenswerten Provisorien: 2003 sah sich die Regierung Chávez gezwungen, am eigenen Verwaltungsapparat vorbei zu regieren – oder wie es auch heißt: einen Bypass zu legen (eigenes Interview mit dem Vizepräsidenten José Vicente Rangel, 20.09.2005). In diesem Sinne entwickelten sich die Missionen im Konflikt mit der Opposition als improvisierte Regierungsmaßnahmen. An den staatlich verwalteten “Mercal-Läden lässt sich das – auch in seiner Widersprüchlichkeit – gut zeigen.

Der Gründung der Läden ging die Krise Ende 2002 voraus. Der im Wesentlichen von Unternehmern und Mittelschicht getragene politische “Streik”[7] gegen die Chávez-Regierung führte damals zu einem Zusammenbruch der Grundgüterversorgung, die vom Großhandel einfach eingestellt wurde. Vor allem in Caracas bildete sich vor diesem Hintergrund eine Art Notversorgung heraus: Die Regierung kaufte Lebensmittel, Kochgas und Benzin im Ausland ein, die Armee transportierte die Güter in die Armenviertel, und die Verteilung wurde von lokalen Stadtteilorganisationen übernommen (eigenes Interview mit Stadtteilorganisationen von La Vega und dem Sozialwissenschaftler Andrés Antillano, Mai 2003). Den kulturell-politi­schen Basisnetzwerken[8] wurde dabei eine offizielle Anerkennung zuteil, die ihnen bis dahin verwehrt geblieben war. Mit der Gründung der “Mercal-Läden sollte diese Erfahrung nun institutionalisiert werden. Die Läden sollten eine von Großunternehmen unabhängige Versorgung sicherstellen und gleichzeitig eine Steuerung von Konsum und Nachfrage ermöglichen, indem gezielt genossenschaftlich produzierte Güter oder Produkte aus dem lateinamerikanischen Ausland vertrieben werden sollten (Wagner 2005; Twickel 2006: 272f.). In der Praxis wurde diese strategische Ausrichtung in der Folgezeit je­doch kaum umgesetzt: Zwar fanden Aktivisten aus Basisgruppen Anstellung in den staatlichen Läden, doch die Verschränkung mit bestehenden Organi­sationen verhinderte nicht, dass sich erneut korrupte und ineffiziente Struk­turen herausbildeten. So berichteten bei “Mercal angestellte Stadtteilakti­visten in Caracas von massiver Veruntreuung im Unternehmen (eigene In­terviews mit “Mercal”-Mitarbeitern: 10.09. 2005). Auch das staatliche Programm Producción y Distribución Venezolana de Alimentos (PDVAL), das 2008 als Weiterentwicklung von MERCAL geschaffen wurde, ist von schwerer Korruption geprägt. Das vom Ölkonzern PDVSA finanzierte System zur Lebensmittelversorgung wurde 2010 von einem Skandal erschüttert. Die PDVAL-Leitung  hatte 1300 Container mit Nahrungsmitteln in einem Lager im Bundesstaat Carabobo gehortet. Weiter 800 Container mit verfallenen Lebensmitteln wurden im Nachbarstaat Cojedes entdeckt. Es scheint, dass der Ex-Direktor des Programms Luis Pulido mit den Nahrungsmitteln spekuliert hatte – was schließlich zu seiner Verhaftung führte (El Universal, 1.6.2010; Venezuelanalysis Online 2.6.2010). Vorstellbar ist aber auch, dass es sich einfach um Gleichgültigkeit handelte, wie sie für die venezolanischen Staatsbürokratien der IV. wie V. Republik alles andere als untypisch ist.

Aus diesen Korruptionsfällen lässt sich allerdings nicht ableiten, dass die Nahrungsmittelprogramme völlig misslungen sind. Die Versorgung der Barrio-Bewohner und besonders der (im Rahmen von Gesundheitsprogrammen betriebenen) Armenküchen beruht wesentlich auf den staatlichen Ernährungsprogrammen..

Zu einer interessanten Verschränkung staatlicher Sozialpolitik und Selbstorganisation kam es, zumindest anfangs, auch bei den Bildungs- und Gesundheitsmissionen “Robinson, Ribas und Barrio Adentro. Die Sozialprogramme wurden initiiert, weil Venezuelas Akademiker in der Regel nicht bereit waren, in den als gefährlich geltenden Armenvierteln zu arbeiten (Wilpert 2007). Vor diesem Hintergrund griff man bei den Bildungsprogrammen “Robinson und “Ribas” auf provisorische Lösungen zurück. Die Stadtteilorganisationen stellten Klassenräume und Übungsleiter (facilitadores), der Staat lieferte Bücher, Fernseher und didaktisch aufbereitete Unterrichtsvideos, die von kubanischen Pädagogen erstellt worden waren. Es war augenscheinlich, dass sich das Fehlen ausgebildeter Lehrer auf die Nachhaltigkeit der Programme negativ auswirkte (Zelik 2005). Andererseits lösten die beiden Misiones eine regelrechte Bildungsbegeisterung in der armen Bevölkerung aus – wahrlich kein geringer Erfolg. In einer bis dahin räumlich, politisch und sozial marginalisierten Bevölkerungsgruppe setzte sich die Überzeugung durch, dass Ausgrenzung nicht naturgegeben ist. Auch wenn zahlreiche Teilnehmer der Mission “Ribas ihre Ausbildung vor dem Erreichen der Hochschulreife abbrachen – in den Barrios von Caracas wurde die mangelhafte Disziplin von Betreuern und Schülern häufig kritisiert –, ist die Zahl derjenigen, denen sich durch die Programme neue Perspektiven eröffneten, nicht zu unterschätzen.

Ganz ähnlich liegt der Fall bei der Gesundheitsmission “Barrio Aden­tro. Der umstrittene Rückgriff auf kubanische Ärzte hatte damit zu tun, dass venezolanisches Fachpersonal – das mehrheitlich aus der Mittelschicht stammt – selten bereit war, in Armenvierteln und abgelegenen Dörfern zu arbeiten. In Anbetracht dieses Fachkräftemangels schloss die Regierung Chávez das mittlerweile allgemein anerkannte Abkommen mit der kubanischen Regierung, in dessen Rahmen Öl gegen medizinisches und technisches Know-how getauscht wird. Zwar kritisierte die venezolanische Ärzteschaft die Einreise der 10.000 kubanischen Mediziner nicht ganz zu Unrecht als Lohndumping,[9] doch auch dieses Programm war zunächst von einer bemerkenswerten Bürgerpartizipation geprägt. In der Anlaufphase der Misión wurden von den Nachbarschaften nämlich verlangt, Gesundheitskomitees zu gründen, die die kubanischen Ärzte bei der täglichen Arbeit unterstützten. Auf diese Weise engagierten sich allein in Caracas Tausende Personen im Rahmen von “Barrio Adentro.

Der vielfach kritisierte Bypass, also die Improvisation einer alternativen Staatlichkeit, bei der sich Regierungsinstanzen direkt mit Stadtteilgruppen kurzschlossen, brachte dabei hochinteressante Aspekte hervor. Klassisch-assistenzialistische Strukturen wurden aufgebrochen, weil die Bevölkerung nicht einfach versorgt wurde, sondern sich aktiv an den Kampagnen beteiligen musste. Die politische Mobilisierung wirkte dabei in eine doppelte Richtung: Sie ermöglichte den Betroffenen eine Partizipation am Veränderungsprozess, garantierte der Regierung aber auch eine politische Massenbasis.

Seit 2005 hat diese Verschränkung von Basismobilisierung und Regierungsprogrammen allerdings stark an Bedeutung verloren. Dafür verantwortlich dürften zwei Faktoren gewesen sein. Zum einen ist ein beträchtlicher Teil des Regierungslagers ganz konkret daran interessiert, sich als Staatsbürokratie festzusetzen. Das, was häufig als Korruption kritisiert wird, lässt sich nämlich auch einfach als Professionalisierungs- und Spezialisierungsstrategie eines (neuen oder alten) Staatspersonals beschreiben. Da ein Posten im Staatsapparat gleichbedeutend mit ökonomischer Sicherheit ist und informelle Bereicherungsstrategien ermöglicht, muss die Bürokratie darauf bedacht sein, nicht durch Basisprozesse überflüssig gemacht zu werden.

Zum anderen dürfte aber auch der Einfluss staatssozialistischer Ideologien bei der Entwicklung eine wichtige Rolle spielen. Chávez’ strategische Allianz mit Kuba impliziert eine Orientierung an solchen (spätleninistischen und staatszentrierten) Modellen, in denen sozialistische Umgestaltung in erster Linie über einen Regierungs- und Verwaltungsapparat erfolgt.

Beide Momente – das Interesse, Tätigkeiten im Rahmen der Sozialprogramme als feste Posten zu institutionalisieren, und die politische Überzeugung, dass Gesellschaftsalternativen über den Staatsapparat aufgebaut werden müssen – dürften dazu beigetragen haben, dass die Sozialprogramme ihren offenen und mobilisierenden Charakter teilweise wieder verloren haben. Dabei steht zu befürchten, dass die im Zusammenhang institutionalisierter Sozialpolitik neuen ‘bolivarianischen’ Verwaltungsapparate ebenso undurchsichtig, bürokratisch und ineffizient sein werden wie die berüchtigten Strukturen des Puntofijismo.

 

2.      “Endogene Entwicklung” und “Sozialismus des 21. Jahrhunderts”

Mit den Begriffen “endogene Entwicklung und Sozialismus des 21. Jahrhunderts brachte Präsident Chávez dann 2004 bzw. 2005 auch Eckpunkte eines alternativen Wirtschafts- und Entwicklungsprojekts ins Gespräch. Obwohl vor allem der “Sozialismus des 21. Jahrhunderts” mittlerweile in aller Munde ist, sind beide Konzepte bis heute nur in Umrissen skizziert.

Unter “endogener Entwicklung versteht man in Venezuela eine Politik dezentraler und nachhaltiger Entwicklung, die lokale Fähigkeiten und Strukturen als Potenzial zu nutzen versucht (Gobierno de Venezuela 2004). Im Unterschied zu den fordistischen Strategien der Importsubstituierung, die in Lateinamerika in den 1950er und 1960er Jahren vorherrschend waren, soll eine kleinteiligere Entwicklung betrieben werden, die lokale Selbstversorgungskreisläufe in ländlichen Regionen, aber auch im informellen Sektor integriert und fördert. Außerdem wird Entwicklung nicht nur als wirtschaftliches und politisches, sondern auch als ökologisches und soziokulturelles Vorhaben begriffen.

Wir wollen die Wirtschaftsdemokratie erweitern und vertiefen, eine Arbeits- und Produktionskultur stärken; unsere Abhängigkeit von den Öleinnahmen schrittweise verringern. Wir wollen die Ökonomie jenseits des Öls diversifizieren und lokale Produktion ankurbeln, indem wir die Selbstverwaltung und unterschiedliche Eigentumsformen stärken sowie alternative Produktions- und städtisch-ländliche Konsumbeziehungen fördern (Gobierno de Venezuela 2004).

Das Konzept des “Sozialismus des 21. Jahrhunderts” zielt in eine ähnliche Richtung. Der deutsch-mexikanische Soziologe Heinz Dieterich (2006), von dem der Begriff ursprünglich stammt, hat damit ein Modell bezeichnet, in dem ein nicht kapitalistischer Äquivalententausch, demokratische Strukturen und ein lateinamerikanisches Integrationsprojekt kombiniert werden. Die venezolanischen Regierungsveröffentlichungen orientieren sich aber nur teilweise an Dieterichs (nicht wirklich neuem) Modell und sprechen allgemein von folgenden Merkmalen eines alternativen Sozialismus: a) Errichtung einer sozialen, aber nicht vollständig verstaatlichen Ökonomie, in der die Grundversorgung öffentlich gewährleistet und solidarische, genossenschaftliche und kollektive Eigentums- und Produktionsformen gefördert werden; b) Aufrechterhaltung und Vertiefung der Demokratie durch Plebiszite, Referenden, Partizipationshaushalte etc.; c) eine inhaltliche Anpassung des Begriffs Sozialismus an die lateinamerikanische Wirklichkeit, indem indigene Kollektivtraditionen, christliche Prinzipien und Gerechtigkeitskonzepte der Unabhängigkeitskriege aufgegriffen werden und d) die Verfolgung eines kontinentalen Integrationsprojekts, wie es von Chávez unter dem Namen ALBA (Alianza Bolivariana para los Pueblos de Nuestra América) propagiert wird.[10]

Gegen die Konzepte lässt sich auf einer allgemeinen Ebene nicht allzu viel einwenden. Endogene Entwicklungskonzepte werden auch von der UNO propagiert, nachdem die nachholende fordistische Entwicklung – wie sie bis in die 1970er Jahre in weiten Teilen der sogenannten Dritten Welt verfolgt wurde – schwere ökologische Zerstörungen nach sich zog und in den meisten Staaten auch ökonomisch scheiterte. Dazu kommt, dass sich die nachholende fordistische Modernisierung als ungeeignet für eine emanzipatorische Transformation von Gesellschaften erwiesen hat.[11]

Dass Sozialismus im 21. Jahrhundert eine Stärkung solidarischer (nicht-staatlicher) Eigentumsformen, die Förderung partizipativer Demokratie und die Berücksichtigung lokaler/regionaler Traditionen beinhalten sollte, erscheint nach den Erfahrungen mit den staats- und eurozentrierten autoritären Ideologien des 20. Jahrhunderts ebenfalls reichlich plausibel.

Wie kaum überraschen dürfte, besteht das grundlegende Problem jedoch darin, dass zwischen den allgemeinen Zielen und der konkreten Umsetzung eine gewaltige Lücke klafft. Dabei kann der Einwand kaum lauten, dass die Chávez-Regierung keine Lösungsmodelle für eine alternative soziale, ökonomische und ökologische Entwicklung parat hat. Klimawandel, das ungelöste globale Armutsproblem, Finanz- und Überproduktionskrise zeigen heute deutlich, dass auch die bürgerlichen Gesellschaften und die freie Marktwirtschaft keine Lösungen auf die großen Menschheitsfragen zu bieten haben. Kritisch einzuwenden ist also nicht, dass die Alternativkonzepte in Venezuela bislang nicht stimmig sind, sondern vielmehr, dass die Regierung wenig dafür tut, die Komplexität des Transformationsprojekts sichtbar zu machen und zu diskutieren.

Edgardo Lander (2006), regierungsnaher und doch kritischer Intellektueller in Venezuela, hat mehrfach auf diesen Aspekt hingewiesen: Die Regierung Chávez propagiere den Sozialismus des 21. Jahrhunderts, ohne zu untersuchen, warum sich der real existierende Sozialismus zu einem autoritären, ökonomisch völlig ineffizienten System entwickelte. Tatsächlich liefert der Regierungsdiskurs in dieser Hinsicht wenig Reflexionen. Die Beibehal­tung einer gemischten Wirtschaft, die Bewahrung unterschiedlicher Eigen­tumsformen, demokratische Garantien und die Entwicklung spezifisch natio­naler oder regionaler Projekte ist alles andere als ein Novum in der sozialistischen Debatte. In Jugoslawien versuchte man sich ab den 1960er Jahren an Arbeiterselbstverwaltung und Genossenschaftssozialismus. In Peru übergab die Regierung des linken Militärs Juan Velasco Alvarado zwischen 1968 und 1975 Schlüsselbranchen an die Belegschaften, berief sich auf indigene Traditionen und stärkte Dorfversammlungen, also genau jenes Poder Popular, von dem auch in Venezuela heute wieder die Rede ist. Demokratische Partizipation, lateinamerikanische Identität, Meinungsfreiheit und gemischte Wirtschaft waren auch Eckpunkte des sandinistischen Programms in Nicaragua. All diesen Ansätzen ist gemein, dass sie – ebenso wie der Staatssozialismus sowjetischer Prägung – letztlich scheiterten. Das bedeutet nicht unbedingt, dass eine derartige Politik prinzipiell falsch gewesen sein muss. Zu beantworten wäre jedoch, warum sich auch diese Ansätze nicht auf die gewünschte Weise entwickelten.

Genau diese (entscheidende) Debatte wird von der Regierung in Venezuela vermieden. Und nicht nur das: In offensichtlichem Widerspruch zum eigenen Diskurs verteidigt die Regierung Chávez Kuba immer wieder als gesellschaftliches Modell. Dabei kann auch ein wohlgesinnter Beobachter, der die kubanischen Leistungen bei der Grundversorgung der Bevölkerung anerkennt, nicht übersehen, dass der Konsumsektor und die meisten Produktionsbereiche auf Kuba leidlich oder gar nicht funktionieren und das politische System durch und durch autoritär organisiert ist.

Die chavistische Haltung zu Kuba ist dabei durchaus charakteristisch für das venezolanische Regierungsprojekt. Plausible Grundprinzipien werden oft von der politischen Alltagspraxis konterkariert. Man spricht von einer alternativen, umweltverträglichen Entwicklung, vergibt im Zweifelsfall aber doch Schürflizenzen in indigenen Gebieten an transnationale Unternehmen (Radio Nacional de Venezuela, 24.04.2009). Man formuliert eine inhaltlich richtige Staatskritik, baut aber Institutionen auf, die den alten ausgesprochen ähnlich sind. Intransparent, ineffizient und demokratisch unkontrollierbar dienen sie den neuen Funktionären zur persönlichen Bereicherung.[12] Dabei ist nicht überraschend, dass die neuen Institutionen den alten ähneln. Der Klientelcharakter des venezolanischen Staates hat ja nicht in erster Linie damit zu tun, dass er mit schlechtem, korrumpiertem Personal besetzt wäre. Sein Problem war und ist struktureller Natur: Die Tatsache, dass innerhalb des Staates die Erdölrente verteilt wird, formt diesen klientelistisch. Strategien zur privaten Bereicherung im Staat ließen sich nur unterbinden, wenn es zu einer radikalen Demokratisierung käme, also wenn die aktive Bürgerbeteiligung eine Transparenz des Apparates erzwänge. Von einer solchen Contraloría Social ist in Venezuela zwar die Rede – sie gehört zu den Stützpfeilern der Verwaltungsreform, doch in der Praxis erweist sich der Staatsapparat als kontrollresistent. Und zwar nicht zuletzt deshalb, weil der politische Apparat von Führungsstrukturen und informellen Machtnetzwerken beherrscht wird, zu deren Entstehen der personalistische Stil des Präsidenten beiträgt. Chávez spielt also eine widersprüchliche Rolle: Einerseits kommt ihm das Verdienst zu, eine Partizipationsbewegung ausgelöst zu haben, andererseits steht er als überhöhte Führerfigur einer radikalen Demokratisierung im Wege, die wiederum das einzig wirksame Mittel gegen den Klientelismus zu sein scheint.

 

3.      “Entwicklungskerne”, Genossenschaften, Arbeiterselbstverwaltung

Doch auch wenn die konkreten Transformationen von Ökonomie und Gesellschaft weit hinter der Regierungsrhetorik zurückbleiben, lohnt es sich, einige Pilotprojekte und -programme genauer zu betrachten: 2004/2005 begann die Regierung mit der Einrichtung von entwicklungspolitischen Musteranlagen, den sogenannten Núcleos de Desarrollo Endógeno. Die wohl bekannteste dieser Anlagen befindet sich im Armenviertel “Catia” im Westen der Hauptstadt Caracas. Auf einem stillgelegten Gelände des Staatskonzerns PDVSA versucht man dort im Núcleo de Desarrollo Endógeno Fabricio Ojeda, die Verbindung von Wirtschafts-, Sozial- und Entwicklungspolitik sichtbar zu machen: Versorgungseinrichtungen und Produktionsanlagen liegen direkt nebeneinander. Neben einer Klinik, Sportplätzen und einigen Nachbarschaftseinrichtungen gibt es eine Schuhfabrik, eine Schneiderei sowie genossenschaftlich betriebene Gemüsegärten. Die Gesundheitseinrichtungen, darunter auch eine Apotheke, die Medikamente zu Niedrigpreisen zur Verfügung stellt, werden vom Staat unterhalten und sind kostenlos. Auch die Investitionen in den Fertigungsanlagen wurden mit staatlichen Mitteln finanziert. Die Anlage macht deutlich, dass es der venezolanischen Regierung nicht in erster Linie um eine Steigerung weltmarktorientierter Produk­tion geht. Unter Entwicklung versteht sie vielmehr einen umfassenden sozioökonomischen Prozess, der der Bevölkerungsmehrheit zugute kommen muss (vgl. die Selbstdarstellung unter PDVSA 2005, eigene Interviews mit Mitarbeitern des Núcleo September 2005).

Gleichzeitig wird auf der Anlage produziert. Die Schuh- und Textilgenossenschaften wurden im Rahmen der Mission “Vuelvan Caras gegründet, einem Ausbildungsprogramm, das Erwachsenen die Berufsausbildung ermöglicht. Die Genossenschafter wurden 2005 in der Schuh- und Textilfabrik ausgebildet, um die Anlage selbstständig weiterführen zu können. Die vom Staat getätigten Investitionen müssen dabei, zumindest perspektivisch, von den Genossenschaften abgezahlt werden (Zelik 2005).

Offensichtlich will man vermeiden, erneut paternalistische Beziehungen zwischen Staat (bzw. Staatseliten) und Bürgern herzustellen, wie sie für den Populismus unter Carlos Andrés Pérez so charakteristisch waren. Staatsmittel sollen nicht einfach konsumiert werden, sondern in Produktionsanlagen und Ausbildung fließen. Die Genossenschafter werden, zumindest theoretisch, vom Staat nicht alimentiert. Sie müssen ihre Anlagen abbezahlen und auf diese Weise Mittel für andere Förderprojekte zur Verfügung stellen. Außerdem wird das Projekt als Ausdruck einer “Wirtschaftsdemokratie” verstanden – ganz der in Europa in den 1920er Jahren vor allem von Linkssozialisten verteidigten Idee verpflichtet, dass Demokratie auch das Arbeits- und Produktionsleben erfassen muss. ‘Politisch’ ist weiterhin, dass man sich – dem “endogenen” Prinzip folgend – bemüht, auf lokales Wissen zurückzugreifen: “Catia” gilt als Viertel, in dem traditionell zahlreiche Schuh- und Textilwerkstätten existieren.

Das grundlegende Problem des Projekts wird jedoch auch in diesem Fall wenig reflektiert: In kaum einem Bereich ist die Weltmarktkonkurrenz so brutal wie in der Schuh- und Textilbranche. Wenn die venezolanischen Genossenschaften nicht mit südostasiatischen Sweat Shops um die schlechtesten Arbeitsbedingungen konkurrieren sollen, werden sie dauerhaft auf die Unterstützung oder zumindest Protektion des Staates angewiesen sein. Auf diese Weise erlebt das paternale Prinzip, das dem Klientel-Populismus zugrunde liegt, dann aber doch eine stille Renaissance. Der Staat – und noch drastischer: Präsident Chávez – wird auch weiterhin für die Kooperativen sorgen. Dabei ist wenig dagegen zu sagen, dass die lokale Produktion vor einer Niedriglohnkonkurrenz geschützt werden soll. Doch umso direkter diese Unterstützung in Form von Subventionen erfolgt, desto ausgeprägter werden die Alimentierungserwartungen sein, die für Venezuela so typisch sind: Der Staat ist der Versorger (tendenziell passiver) Bürger.

Auch größer angelegte Projekte in der Automobil- und IT-Branche sind mit diesem Phänomen konfrontiert: Das 2006 gegründete iranisch-vene­zo­lanische Joint Venture “Venirauto“” produziert seit mittlerweile zwei Jahren und will 2009 nach eigenen Angaben 10.000 Kleinwagen auf den Markt bringen (Selbstdarstellung “Venirautos, <http://www.venirauto.com>, 30.04.2009). Auch wenn der Aufbau einer eigenen Pkw-Produktion wohl nicht zu den brennendsten Prioritäten in Venezuela gehört, gibt es nachvollziehbare Argumente für das Projekt. Der Fuhrpark der Venezolaner ist völlig überaltert, gerade die Mittelschicht fährt – auch wegen des extrem niedrigen Benzinpreises[13] – große, umweltschädliche US-Modelle aus den 1970er Jahren. Eine Modernisierung durch Pkws aus eigener Produktion würde also tatsächlich wichtige Probleme lindern. Doch bisher ist völlig unklar, ob das Vorhaben realisierbar ist. “Venirauto lässt kaum etwas über die ersten zwei Produktionsjahre verlautbaren. Auf dem Markt sind die Pkws bislang nicht erhältlich. Die ersten Fahrzeuge wurden an Militärs verteilt und es ist von jahrelangen Wartezeiten für potenzielle Käufer die Rede (Presseagentur Xinhua/spanische Ausgabe des People’s Daily, 10.07.2007; Venezuela de Televisión 20.10.2008). Offensichtlich ist die Produktivität extrem niedrig, was aber auch mit der mangelhaften Arbeitsorganisation der iranischen Part­ner zusammenhängen soll. Unter Regierungsanhängern wird in Internetforen auf jeden Fall ausgiebig über “Venirauto” debattiert,[14] wobei das Schweigen des Unternehmens einigermaßen verdächtig wirkt. Die pro-chavistische Ge­werkschaft Sindicato de Trabajadores y Trabajadoras de Venirauto Indus­trias SINTRAVIN machte in einer Pressemitteilung vom 01.12.2008 zudem auch öffentlich, dass man bei dem iranisch-venezolanischen Konsortium seit Längerem einen Arbeitskampf mit der Unternehmensleitung führe (das Dokument ist einsehbar unter <http://www.aporrea.org/trabajadores/a67978. html>; 05.05.2009).

Andere Pilotprojekte im Joint-Venture-Bereich sind die chinesisch-venezolanischen Kooperationen zur Herstellung von Billig-Handys und ‑Laptops für den venezolanischen Binnenmarkt. Auch hier dürfte sich bald das Problem stellen, dass die Betriebe sich entweder internationalen Produktionsbedingungen anpassen oder aber vom Staat alimentiert werden müssen.

Dass eine Anbindung an den Staat ein prinzipielles Problem darstellt, wird bei den Agrarkooperativen schon heute deutlich. Fox (2007) berichtet im regierungsnahen, aber nicht unkritischen Online-Magazin Venezuelana­ly­sis.com von 181.000 Kooperativen, die 2007 in Venezuela registriert gewesen seien. Von diesen Genossenschaften funktionierten selbst nach offiziellen Statistiken weniger als 40%. Das hat unter anderem damit zu tun, dass der Genossenschaftsboom ein Ergebnis von Chávez’ politischer Mobilisierung ist. Dem Präsidenten gelingt es zwar immer wieder, gesellschaftliche Bewegungen zur Veränderung der sozioökonomischen Beziehungen auszulösen, doch häufig reicht der Impuls nicht aus, um eigenständig arbeitende Projekte zu konsolidieren. Auf einer landwirtschaftlichen Kooperative im südvenezolanischen Barinas berichteten Kleinbauern beispielsweise, dass von ursprünglich 100 Familien noch ganze zehn übrig geblieben waren (eigene Interviews mit Genossenschaftern, März 2005). Dabei hatte die Regierung viele ihrer Zusagen eingehalten und der abgelegenen Kooperative Einiges an Infra­struktur – Straßenanbindung, Häuser, Schulen etc. – zur Verfügung gestellt. Die geographische Lage und Konflikte innerhalb der Kooperative brachten jedoch viele Gründungsmitglieder dazu, innerhalb kurzer Zeit wieder aufzugeben. Erschwerend kam außerdem hinzu, dass viele Genossenschafter keine oder wenig Erfahrung im landwirtschaftlichen Bereich besaßen. Mit dem Ausbildungsprogramm “Vuelvan Caras und der Unterstützung durch Techniker versucht man diese Lücken zwar zu schließen, doch die Ergebnisse sind bisher ausgesprochen ernüchternd.

Aus dem Landwirtschaftsministerium wird weiterhin berichtet, dass es aufgrund der staatlichen Förderung immer wieder zu betrügerischen Genossenschaftsgründungen kommt. In einem Fall seien Landarbeiter von einem Großgrundbesitzer aufgefordert worden, eine Kooperative zu gründen und einen Antrag auf Landmaschinen zu stellen. Der staatlich finanzierte Traktor sei schließlich für einige Dutzend Kästen Bier an den Großgrundbesitzer abgetreten worden (eigene Interviews mit Mitarbeitern des Landwirtschaftsministeriums, September 2005).

Ein grundlegendes Problem des venezolanischen Transformationsprozesses scheint zu sein, dass das qualitative Wachstum nicht mit dem quantitativen Schritt halten kann. Dieses Problem wird von der Politik Chávez’ verstärkt. Der Präsident setzt auf die permanente politische Mobilisierung der Unterschichten. Das ist zum einen positiv: Chávez hat eine nicht repräsentierte, medial unsichtbar gemachte Bevölkerungsmehrheit zur Beteiligung ermuntert. Andererseits lösen seine Kommunikations- und Mobilisierungsstrategien aber auch kontraproduktive Eigendynamiken aus. Um den ihn tragenden Prozess in Gang zu halten, muss Chávez die Bevölkerung immer wieder von Neuem begeistern. Das heißt, er ist gezwungen, bei seinen Medienauftritten Erfolge vorzuweisen und die Skepsis zu bannen.

In diesem Zusammenhang könnte man von einer venezolanischen Va­riante der “Tonnenideologie”[15] sprechen: Das vorweisbare quantitative Wachstum wird höher bewertet als schlecht sichtbares qualitatives. Als ein Opfer dieser Politik könnte man den 2005 zurückgetretenen Wohnungsbauminister Julio Montes bezeichnen. Montes, der gute Beziehungen zu Stadtteilorganisationen besaß, hatte nach seinem Amtsantritt eine radikale Kehrtwende der öffentlichen Baupolitik vorgeschlagen. Er fror undurchsichtige Verträge mit privaten Bauunternehmern ein und suchte eine enge Koopera­tion mit den basisdemokratischen Comités de Tierra Urbana (CTU) (eigenes Interview mit dem Stadtteilaktivisten und Sozialwissenschaftler Andrés Antillano, 10.09.2005). Die CTU’s, die im Rahmen der Legalisierung städtischer Armenviertel 2002 entstanden, können – zumindest in Caracas – als horizontale Form der Nachbarschaftsorganisation gelten. Die kritische Stadtplanung verweist seit Langem darauf, dass Stadtentwicklung mit demokratischer Partizipation einhergehen muss – und zwar nicht nur, weil der urbane Raum ansonsten nur nach Verwertungsinteressen gestaltet wird. Demokratische Partizipation ist auch eine zentrale Voraussetzung für das Gelingen von Infrastrukturvorhaben. So hat man in Venezuela immer wieder die Erfahrung gemacht, dass staatliche Sozialsiedlungen nicht angenommen wurden und ungenutzt verfielen. Außerdem fungiert Partizipation als Kontrollmechanismus gegen die im Bauwesen verbreitete Korruption. Wenn zukünftige Bewohner direkt an Bauprojekten beteiligt sind, ist es viel schwieriger, Geld zweckzuentfremden oder mangelhaftes Material einzusetzen.

Vor diesem Hintergrund waren die Vorschläge von Minister Montes, staatliche Finanzmittel in einer Form von Co-Regierung gemeinsam mit Basisorganisationen zu verwalten, sehr sinnvoll. Dadurch jedoch, dass Partizipation und Transparenz in den Mittelpunkt gestellt wurden, konnte spürbar weniger gebaut werden als ursprünglich geplant. Präsident Chávez nahm dies schließlich zum Anlass, um den Minister in seiner Fernsehsendung “Alo Presidente öffentlich zu rügen. Montes reichte daraufhin im August 2005 den Rücktritt ein.

Dass formale und quantifizierbare Aspekte im Vordergrund stehen, ist ein Eindruck, der sich auch in anderen Bereichen einstellt. Die Demokratisierung des Wirtschaftslebens – also die Mitbestimmung in Großbetrieben oder die Selbstverwaltung von in Konkurs gegangenen, durch Belegschaften besetzten Fabriken –, zeigt in der Praxis nur begrenzte Wirkung. Oft beschränkt sich die Mitbestimmung auf eine Aufwertung der chavistischen Gewerkschaften innerhalb der Betriebe und auf eine revolutionäre Rhetorik, die an Arbeitsbedingungen und Entscheidungsprozessen wenig ändert. Die staatlichen Aluminiumanlagen von Alcasa zum Beispiel werden zwar seit 2005 in Mitbestimmung verwaltet, die Produktion gilt jedoch als so gesundheitsschädlich, dass sie eigentlich stillgelegt werden müsste. Selbst in diesem Ausnahmeprojekt stellt sich somit die Frage, was real unter Selbstverwaltung und Demokratie zu verstehen ist.

 

4.      Ökonomische Bilanz des Chavismus

Auch wenn man von diesen Fallbeispielen auf die Makroebene zurückkehrt, bleibt das Ergebnis uneindeutig. Venezuelas Wirtschaftspolitik ist keineswegs erfolglos. Das Land hat nach der politischen Krise 2002 stets eine der höchsten Wachstumsraten Lateinamerikas vorweisen können. Dabei handelte es sich nicht immer um ein Wachstum des Ölsektors.[16] Allerdings speiste sich das Wachstum auch nicht aus einer Entwicklung alternativer produk­tiver Sektoren. Vor allem hohe – und letztlich dann doch wieder ölfinanzierte – Zuwächse der Binnennachfrage und des Importhandels waren für den Boom verantwortlich und ließen die Inflationsrate auf 30% ansteigen. 2008 knickte die Wachstumskurve aufgrund des verfallenden Ölpreises deutlich ein, lag aber immer noch bei etwa 5% (CEPAL 2009: 103).

Die von den meisten Beobachtern vorhergesagte Krise ist bislang nicht eingetreten. Es steht aber außer Frage, dass der Verfall des Ölpreises von mehr als 140 US$ pro Barrel Mitte 2008 auf 40 US$ Anfang 2009 die venezolanische Wirtschaft hart treffen wird. Der Staatshaushalt war bis Ende 2008 auf der Grundlage eines Weltmarktpreises von 60 US$ kalkuliert. Dennoch ist fraglich, ob die Krise existenzielle Ausmaße erlangen wird. Immerhin liegt der Ölpreis heute immer noch auf dem Niveau von 2005, als die Chávez-Regierung bereits umfangreiche Sozial- und Entwicklungsprogramme finanzierte. Zudem verfügt man über beträchtliche Reserven. Mit 33 Mrd. US$ (CEPAL 2008a: 177) besaß Venezuela vor der Krise die höchsten Pro-Kopf-Devisenreserven Lateinamerikas. Die Binnensparquote ist, auch wegen der Finanzpolitik der Regierung, relativ hoch. Und schließlich kann die Chávez-Regierung aufgrund neuer Steuergesetze auf eine solidere Einnahmebasis zählen als in der Vergangenheit.[17]

Als makroökonomischer Erfolg muss außerdem gelten, dass die Öleinnahmen sichtlich besser verteilt werden. Die Arbeitslosigkeit ist von 12% im Jahr 2006 auf 7,4% im Jahr 2008 zurückgegangen (CEPAL 2009). Dabei wurden, anders als in Westeuropa, vor allem reguläre Beschäftigungsverhältnisse geschaffen. Neuere Berechnungen der Einkommensverteilung durch die staatliche Statistikbehörde INE (<http://www.venezuelanalysis. com/news/4064>, 25.03.2009) gehen zudem von einem deutlich niedrigeren GINI-Koeffizienten aus. Der GINI-Wert von 0,42 ist zwar nach wie vor höher als etwa der deutsche Vergleichswert (0,28), doch innerhalb Lateinamerikas weist Venezuela eine der geringsten Einkommensspreizungen auf.

Umgekehrt kann man die Wirtschaftspolitik, zumindest gemessen an den Ansprüchen der Regierung, auch nicht wirklich als Erfolg bezeichnen. Die Außenhandelskennziffern legen nahe, dass sich die Strukturen bislang kaum geändert haben. Einer CEPAL-Studie zur lateinamerikanischen Weltmarktintegration (2008b) zufolge konnte Venezuela Außenhandel und Produk­tionsstrukturen in den vergangenen Jahren nicht wesentlich diversifizieren. Unter Chávez ist zwar viel von der lateinamerikanischen Integration die Rede, doch der Anteil Lateinamerikas am venezolanischen Außenhandel ist zwischen 2000 und 2007 sogar von 20 auf 15% gefallen, während der Anteil der USA nach wie vor bei über 50% liegt. Auch die großen Anstrengungen Venezuelas, strategische Beziehungen mit China und anderen asiatischen Ländern aufzubauen, schlagen sich in den Statistiken bislang kaum nieder. Venezuelas Exporte in den Pazifikraum machen nur 5% des Exportvolumens aus. Die Vergleichswerte Chiles und Kubas liegen bei 37% bzw. 30%. Neben Ecuador und Uruguay ist Venezuela somit eines der wenigen lateinamerikanischen Länder, das seine Handelsabhängigkeit von den USA bislang nicht reduzieren konnte (CEPAL 2008b).

Das bedeutet, dass sich die großen Integrationsprojekte der Regierung Chávez ökonomisch bisher kaum niederschlagen. Das ALBA-Bündnis, dem neben Kuba und Venezuela mittlerweile auch Bolivien, Nicaragua, die Karibikinsel Dominica und bemerkenswerter Weise auch das liberal regierte Honduras angehören, charakterisiert sich vor allem durch Willensbekundungen. Mit Ausnahme Kubas profitieren die anderen ALBA-Mitglieder einseitig von venezolanischer Unterstützung. Nur die venezolanisch-kubanischen Beziehungen können als Matrix alternativer Wirtschaftskooperation erörtert werden. Die Bereitstellung von kubanischen Ärzten, technischem Personal und Know-how gegen venezolanisches Öl ist das einzige – allerdings durchaus überzeugende – konkrete Beispiel dafür, wie eine alternative ökonomische Zusammenarbeit aussehen könnte. Wie sehr ALBA ein politisches Mobilisierungsprojekt ist, zeigt sich zudem auch in der Ankündigung, dass nun auch der Iran und Russland Mitglied des lateinamerikanischen Integrationsverbandes werden sollen.

Über das Ölbündnis Petrocaribe muss man Ähnliches sagen. In Petrocaribe sind 18 Staaten Mittelamerikas und der Karibik zusammengeschlossen, die von Venezuela Öl zu einem Vorzugspreis beziehen. Innerhalb der üblichen Frist von 90 Tagen müssen nur 50% der Forderungen bezahlt werden. Der Rest kann bei 1% Zinsen auf bis zu 25 Jahre gestreckt werden. 50 Cent pro Barrel sollen außerdem in einen gemeinsamen Agrarfonds fließen, mit dem die Nahrungsmittelsouveränität der Staaten gesichert werden soll (Telesur, 31.07.2008).

Die häufig zu hörende scharfe Kritik an Petrocaribe ist dabei nicht wirklich überzeugend. Dagegen, dass Venezuela gerade den ärmsten Staaten der Region Öl zu Vorzugskonditionen – aber immer noch oberhalb kostendeckender Preise – abgibt und damit Spielräume zur Armutsbekämpfung eröffnet, lässt sich nichts vorbringen. Und auch darüber, dass Venezuela mit dem Öl offensichtlich Außenpolitik macht und Sympathien ‘einkauft’, kann man in Anbetracht der US-amerikanischen und europäischen Handelspolitiken kaum verwerflich finden. Immerhin knüpfen die USA Handelserleichterungen systematisch an eine Kooperationsbereitschaft der lateinamerikanischen Länder in strategischen Bereichen der Sicherheitspolitik und Energieversorgung. Mit der sogenannten certificación der Drogenpolitik zwingt Washington den Ländern seit Langem nicht nur eine – ökologisch fatale – Drogenbekämpfung, sondern auch repressive Sicherheitsstrategien nach innen auf. Der einzige wirklich überzeugende Einwand gegen Petrocaribe wäre deshalb, dass die Öllieferungen untransparent von kleinen Führungsgruppen in den Mitgliedsstaaten verwaltet werden und dort, beispielsweise in Nicaragua, autoritäre und klientelistische Strukturen stärken.[18]

Aus einer politischen Perspektive betrachtet können Petrocaribe oder die als Gegenentwurf zum Internationalen Währungsfonds (IWF) konzipierte Banco del Sur also als gelungene Initiativen gelten. Venezuela zeigt mit ihnen auf, dass alternative politische Beziehungen und Handelsstrukturen denkbar sind. Das Land knüpft geschickt Allianzen mit anderen lateinamerikanischen Staaten und verschiebt dadurch das Kräfteverhältnis in der Region radikal. Dabei kommt der Chávez-Regierung das Interesse Brasiliens entgegen, sich selbst als Hegemonialmacht und Gegenpol zu den USA zu positionieren. Doch diese neuen Kräftekonstellationen bringen noch kein alternatives Wirtschafts- und Entwicklungsmodell hervor. Im Gegenteil: Wenn es konkrete Vereinbarungen mit den lateinamerikanischen Nachbarn im Süden gibt, dann handelt es sich meist um Pipeline-, Raffinerie- oder Ölfördervereinbarungen, die die ökonomische Struktur Venezuelas verfestigen und die auf fossilen Brennstoffen beruhende Entwicklung weiter fortschreiben.

 

5.      Zusammenfassung

Ein abschließendes Urteil über die Sozial-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik der Regierung Chávez muss also uneinheitlich ausfallen. Der häufig zu hörende Vorwurf, die Regierung verteile das Öleinkommen allein aufgrund machtpolitischer Kalküle, ist offensichtlich falsch. Das ‘bolivari­ani­sche’ Venezuela ist bislang keine Neuauflage des populist system of conciliation. Wenn es der Regierung Chávez nur um den eigenen Machterhalt ginge, wäre es für sie in der Vergangenheit sehr viel einfacher gewesen, die traditionellen Eliten zu bedienen. Mit ihrer Sozialpolitik hat die Chávez-Regierung jedoch soziale Konflikte sichtbar gemacht und Alternativen zum herrschenden neoliberalen Modell aufgezeigt, die in Anbetracht der globalen Krise heute international wahrgenommen und diskutiert werden. Ausgerechnet ein ineffizient organisierter, klientelistischer Staat in Lateinamerika beweist, dass alternative Fiskal- und Sozialpolitiken möglich sind und mit solidem Wachstum einhergehen können.

Auch der Einwand, die venezolanische Regierung unternehme keine Anstrengungen, um die Öl- und Staatszentriertheit von Ökonomie und Gesellschaft zu überwinden, ist in dieser Form falsch. Die Regierung Venezuelas hat sich in den vergangenen Jahren durchaus darum bemüht, Finanzmittel nicht einfach zu konsumieren, sondern zu investieren und produktive Sektoren zu fördern. Groß angelegte Ausbildungs- und Gesundheitsprogramme, die Ankurbelung der Landwirtschaft und der Aufbau einheimischer Produktionsanlagen, darunter auch von Automobil- und IT-Unternehmen, belegen die Anstrengungen, sich produktiver und integraler zu entwickeln. Allerdings spricht einiges dafür, dass viele dieser Aktivitäten auf mittlere Sicht ähnlich versanden werden, wie dies in der Vergangenheit Venezuelas schon mehrfach der Fall war. Das hat unter anderem damit zu tun, dass einem qualitativen, politisch eingebetteten – also auch langsameren – Transforma­tionsprozess zu wenig Bedeutung eingeräumt wird. Die für eine gesellschaftliche Kontrolle von Staat und Verwaltung nötigen Demokratisierungsprozesse werden durch den Personenkult um Chávez blockiert. Die permanente politische Mobilisierung liefert tendenziell nur kurzfristige Impulse, es entsteht kein Klima, in dem sich eine selbstkritische Debatte über die Probleme alternativer ökonomischer Strukturen führen ließe.

Prinzipiell interessante Ansätze finden vor diesem Hintergrund zu wenig Umsetzung und bleiben formal. Dass das große alternative Projekt, das so­ziale Gerechtigkeit, Partizipation, Demokratie, Solidarität und Ökologie miteinander verbindet, in Venezuela bisher nicht zu erkennen ist, kann kein prinzipieller Einwand gegen die Regierung Chávez sein. Eine Alternative zu Markt und Konkurrenz hat mit vielen inneren Widersprüchen und nicht zuletzt auch mit massivem Widerstand von außen zu kämpfen. Zu kritisieren ist jedoch, dass in Venezuela zu wenig über strukturelle, ‘endogene’ Pro­bleme und über die desaströsen Erfahrungen des Realsozialismus diskutiert wird. Die Themen, um die es dabei gehen müsste, liegen auf der Hand. Nach den für die PSUV enttäuschend verlaufenen Parlamentswahlen von September 2010 hat Edgardo Lander (2010) acht Hauptprobleme benannt, die ich – weil er die Widersprüche m.E. sehr klar benennt – abschließend ausführlich wiedergeben möchte: 1) Das Entwicklungsmodell: „Ist das Ziel, Venezuela in eine ‚globale Energiemacht’ zu verwandeln, wie es im Sozial- und Entwicklungsplan 2007-2013 festgehalten wurde, kompatibel mit dem ‚ökologischen Sozialismus’, von dem in PDVSA-Texten die Rede ist?“ 2) Nahrungsmittelsouveränität: Wie kann diese erreicht werden, „wenn die großen Programme zur Verteilung von Land, zur Finanzierung und Unterstützung der Landwirtschaft ständig durch den Import subventionierter Lebensmittel unterlaufen werden, mit deren Preisen die heimische Produktion nicht konkurrieren kann?“ 3) Die Beziehung zwischen sozialen Organisationen, Staat und Partei: „Ist eine Demokratisierung der Gesellschaft ohne den Aufbau autonomer sozialer Organisationen möglich? Ist sie denkbar, wenn gleichzeitig Gewerkschafts- und populare Organisationen durch Staats- und Parteistrukturen kolonisiert werden? Sind die Consejos Comunales der demokratische Organisationskern der gesamten Gesellschaft beim Aufbau neuer sozialer Beziehungen, einer neuen staatlichen Institutionalität, die die bestehende ersetzt, oder sollen die roten Consejos Comunales der Ort sein, an dem sich Anhänger des Chavismus organisieren, auch wenn dadurch die Hälfte der Bevölkerung ausgeschlossen wird?“ (ebda). 4) Die Rolle von Chávez: „Sind das personifizierte Führungsmodell und das Fehlen kollektiver Debatten (...) kompatibel mit dem kollektiven Aufbau einer demokratischeren Gesellschaft? Wie wirkt sich die Tatsache, dass die Loyalität mit dem „máximo dirigente“ als Maßstab revolutionären Handelns gesehen wird, auf die aufzubauende Gesellschaft aus?“ (ebda). 5) Indigene Völker: „Ist für die Regierung die Ausbeutung der Kohlevorkommen in der Sierra de Perijá wichtiger als die Rechte der Yukpa und Bari, wichtiger als die Biodiversität in der Region (...)? Gibt es keine Grenzen der extraktiven Logik?“ (ebda) 6) Öffentliche Verwaltung: „Ist eine transparente Verwaltung und eine Beschränkung der wuchernden Korruption denkbar, wenn die Grenzen zwischen dem Öffentlichen / Staatlichen (das allen gehört) und dem (Partei-) Politischen verwischt werden?“ (ebda) 7) Unsicherheit: „Nach elf Jahren der Regierung, in denen sich die Mordrate praktische verdreifacht und Caracas zu einer der gefährlichsten Städte der Welt geworden ist“ kann man nicht „länger behaupten, dass es sich um ein von den Vorgängerregierungen geerbtes Problem (...) handelt“ (ebda). 8) Frauen: „Bis wann wird die Abtreibung ein Tabu in Venezuela sein? Wie kann es sein, dass selbst in einem Land mit so ausgeprägten Rechtsregierungen wie Kolumbien die Gesetzgebung weniger restriktiv als in Venezuela ist?“ (ebda)

Die venezolanischen Transformationsbemühungen sind in Zeiten neoliberaler Krisenverwaltung bemerkenswert – werfen sie doch jene grundlegenden Fragen zu Ökonomie, Gerechtigkeit, Ökologie und Demokratie neu auf, die sich in Anbetracht der Krise global mit großer Dringlichkeit stellen. Viele Ergebnisse sind in Venezuela beachtlich: Die Verteilungsgerechtigkeit hat zugenommen, die sozialpolitischen Programme haben das Land auf den Kopf gestellt. Mit den Consejos Comunales sind territoriale Selbstbestimmungsstrukturen entstanden, in denen viele Zehntausend Menschen zum ersten mal in ihrem Leben demokratisch aktiv geworden sind. Die Gesetze zur betrieblichen Mit- und Selbstbestimmung haben die Arbeitswelt reformiert. Vom eigenen Anspruch, einem demokratischen und ökologischen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, jedoch ist Venezuela nach wie vor weit entfernt. .

 

 

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[1]      Einige Abschnitte dieses Artikels stützen sich auf einen von mir im Juni 2008 in der Zeitschrift WeltTrends (Nr. 60) veröffentlichten Aufsatz.

[2]      Solange Reste des Ölreichtums auch in den unteren Segmenten der Gesellschaft anka­men, war dieses System einigermaßen stabil. Erst als 1983 im Rahmen der Internationa­len Schuldenkrise ein Geldentwertungskreislauf einsetzte, zerbrach dieser ‘Pakt’. Die Eliten wälzten die Krise nach unten ab, was zum Ausbruch des Caracazo, der Armuts­revolte vom Februar 1989, führte. Es kam zu einer tiefen Krise der Repräsentation, die schließlich in den 1990er Jahren den kometenhaften Aufstieg von Chávez möglich machte.

[3]      In der Landwirtschaft treibt diese Deformation – Unterentwicklung durch Reichtum – besonders absurde Blüten: Das südamerikanische Land, etwa dreimal so groß wie Deutschland, importierte zu Beginn der Chávez-Regierung etwa 60% seiner Lebensmit­tel. Die verbliebene Landwirtschaft war ist von extensiver Viehzucht geprägt, was auch politische Folgen hatte: Für die Eigentümer der Rinderfarmen ist Grundbesitz in erster Linie eine Form spekulativer Bodeninvestition. Die Zerstörung einheimischer Produktion – infolge der hohen Öleinnahmen – geht also mit einer Stärkung der politisch reaktionä­ren Landoligarchie einher.

[4]      2003 mussten Regierungsangestellte teilweise ein halbes Jahr auf ihren Lohn warten.

[5]      Diese Basisstrukturen als “spontan” zu bezeichnen, geht an der Sache vorbei, denn die Armenviertel von Caracas besitzen durchaus eigene, lange gewachsene Organisationsformen. Um bekannte, unfruchtbare Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Spontaneität, Organisation und Institutionen zu vermeiden, würde ich daher vorschlagen (Zelik 2006), den venezolanischen Prozess mit dem von Deleuze/Guattari entwickelten Konzept des Rhizoms zu diskutieren – also von sich selbst organisierenden, mannigfaltigen und sich nicht konzentrisch, nicht zwangsläufig hierarchisch verknüpfenden Verbindungen auszugehen.

[6]      Insofern ist es richtig, von drei Akteuren zu sprechen. Während die Opposition eine Umverteilung von Einkommen und Besitz zu verhindern suchte, forderte die soziale Basis des Chavismus genau diese Transformation. In vielen Konflikten, beispielsweise bei den Landkonflikten in Süd- und West-Venezuela, stand die Regierung lange zwischen diesen Positionen.

[7]      Nur im – allerdings zentralen – Erdölsektor wurde der sechswöchige “Generalstreik” von einer Mehrheit der Beschäftigten getragen. In den anderen Branchen waren es die Unternehmer, die Geschäfte schlossen und Werksanlagen stilllegten.

[8]      Das Bemerkenswerte an diesen Netzwerken ist, dass sich kulturelle, religiöse, soziale und politische Momente bei ihnen kaum voneinander trennen lassen. Viele Barrio-Organisationen haben sich jahrelang dadurch charakterisiert, dass sie kulturell-religiöse Feiern in den Armenvierteln organisierten. Die Feiern der afro-venezolanischen Communities sind jedoch oft selbst Ausdruck politischer Widerständigkeit. Die Besetzung katholischer Prozessionen durch afrikanische Kulte wird von vielen Stadtteilaktivisten als Ausdruck eines subalternen schwarzen und indigenen Widerstands verstanden. 2002 waren es vielerorts solche Gruppen, über die die Mobilisierung der Barrios gegen die Putschversuche lief (Zelik/Bitter/Weber 2004; Zelik 2006).

[9]      Problematisch ist zudem auch, dass die Bewegungs- und Kommunikationsfreiheit der Kubaner/innen eingeschränkt ist.

[10]    Wilpert (2006), der die Darstellungen Chávez’ seit Langem aufmerksam verfolgt, nennt als Eckpunkte der eher vagen Sozialismus-Definition a) Veränderungen der Besitzverhältnisse an materiellen und intellektuellen Produktionsmitteln, b) eine Abkehr von reinen Marktbeziehungen und c) eine staatliche Politik, die nicht in erster Linie Privatin­teressen verpflichtet ist.

[11]    In der Sowjetunion war die nachholende Industrialisierung unter Stalin zwar ökonomisch erfolgreich, ging jedoch mit massenhafter Zwangsarbeit und einer brutalen Autoritarisierung der Gesellschaft einher. Bemerkenswerterweise verlief die nachholende Entwicklung in den erfolgreichen Tiger-Ökonomien Südostasiens durchaus ähnlich. In Südkorea beispielsweise gelang der wirtschaftliche Anschluss zwischen 1960 und 1990 während einer sogenannten Entwicklungsdiktatur, die ebenfalls Formen von Zwangsarbeit einsetzte.

[12]    Über das Ausmaß der Korruption gibt es wenig gesicherte Daten. Man muss auch anmerken, dass die Klage über Korruption zu den Lieblingsbeschäftigungen der Venezolaner zählt. Unzweifelhaft ist jedoch, dass die gesetzlich vorgesehene Bürgerkontrolle (Contraloría Social) bislang kaum Wirkung zeigt. Der Nichtregierungsorganisation Transparency International (2006) zufolge, die ihre Berichte im Wesentlichen auf der Grundlage von Befragungen erstellt, hat Venezuela ein großes Korruptionsproblem. Allerdings muss dabei berücksichtigt werden, dass nach denselben Zahlen (Transparency International 2006: 17) die politische Korruption in den USA als noch gravierender erachtet wird als in dem südamerikanischen Land.

[13]    Der staatlich fixierte Benzinpreis, der deutlich unter dem Preis für Wasser liegt, ist um­stritten. Einerseits profitieren vor allem die Mittelschichten von dieser Quasi-Subven­tionierung. Andererseits wird der niedrige Benzinpreis auch als Symbol dafür verstanden, dass das Öl allen Venezolanern gehört und somit sozusagen frei verteilt werden sollte. Der Caracazo, der große Aufstand gegen die AD-Regierung von Carlos Andrés Pérez im Jahr 1989, kam maßgeblich dadurch zustande, dass die Regierung die Benzin- und Transportpreise anzuheben versuchte.

[14]    Eine aufschlussreiche Forumsdebatte ist unter <http://www.aporrealos.com/forum/ viewtopic.php?t=19808&sid=bfc1655678aef56408402b52a3ed7eaf>, (25.03.2009) nach­zulesen.

[15]    Als “Tonnenideologie” bezeichnete man die politische Praxis im Staatssozialismus, ökonomische Erfolge in (Gewichts-)Mengen auszudrücken. Diese Vorgehensweise trieb bizarre Blüten: Um das (in Gewicht definierte) Plansoll zu erfüllen, verlegten sich beispielsweise sowjetische Möbelfabriken darauf, unnötig schwere Metallschränke herzustellen, um auch bei geringer Stückzahl das Planziel zu erreichen.

[16]    Während das Bruttoinlandsprodukt 2007 um 8,4% stieg, schrumpfte der Erdölsektor um 4,2% (CEPAL 2008a: 175).

[17]    2007 wurden neue Direktabgaben für Erdölfirmen eingeführt, dank derer der Staat automatisch 50% aller Einnahmen bei einem Ölpreis von mehr als 50 US$ pro Barrel bzw. 60% bei einem Preis oberhalb von 100 US$ einbehält. Zurzeit liegt der Ölpreis zwar unterhalb dieser Grenze, doch mittelfristig ist von einem neuerlichen Anstieg der Preise auszugehen.

[18]    Auf die Frage, ob die sandinistische Regierung noch als links gelten könne, antwortete der peruanische Ökonom Oscar Ugarteche auf einer Konferenz des Schweizer “Solifonds” im Mai 2009 mit der Gegenfrage, ob jemand, der gegen Frauenbewegungen, Homosexuelle und das Recht auf Abtreibung eintrete, als links bezeichnet werden könne. Die Position ist insofern interessant, als Ugarteche dem Chavismus nahe steht und am Aufbau der Banco del Sur beteiligt ist.

 

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