Das Beste an der Regierung Chávez sei, behaupten Linke in Venezuela, dass jetzt wieder über Politik diskutiert werde. Ob nun in einem kleinen Friseurgeschäft namens Barberia Palermo, den Taxis von Caracas oder dem Lift des Hochhauskomplexes Parque Central - überall bekommt man die Meinung der Leute zu hören. So auch in San Cristóbal, nahe der kolumbianischen Grenze.

Federico Gómez vom Spirituosen-Laden Gómez & Gómez gehört zu jener Bevölkerungsminderheit, die für den Präsidenten aus den Reihen der Armee nichts übrig hat. "Das hier ist wie in der Diktatur. Nein schlimmer, das ist eine Diktatur." Der Mann verzieht das Gesicht. "Der reinste Kommunismus." Als ich nachfrage, erklärt mir Gómez den Grund seiner Empörung: Seit 1999 ist es auf den Straßen San Cristóbals verboten, Alkohol zu trinken, und das beschädigt nicht nur die angekratzte Nationalidentität - wenn venezolanische Männer etwas unter Kultur verstehen, dann ist es das Saufen -, sondern stellt auch einen Angriff auf die Kleinhändler dar. "Die wollen uns fertig machen ..." Den Einwand seines Kunden, dass das Trinkverbot von der Regionalverwaltung und nicht von Chávez verhängt worden sei, lässt Gómez nicht gelten. "Trotzdem." Ich verstehe, was er meint: Was ist das für ein Land, wo Regionalverwaltungen Trinkverbote verhängen dürfen, ohne von der Zentralregierung zur Rechenschaft gezogen zu werden? Zumal jene doch über ausreichend Waffen verfügt.

Man muss also von der Straße zurück in Gómez' Laden und dort das Bier trinken, das Polar heißt und auch genauso schmeckt: eiskalt, genau so, wie es die Amöben am Liebsten mögen. An der Decke brummt ein Ventilator, außerhalb der Flasche hat es 36 Grad. Nach 0,25 Liter ist man angetrunken. "Chávez ist gar nicht so schlecht", tuschelt der Kunde neben mir. "Er unternimmt was." Ich nicke. Wir machen eine verschwörerische Geste, aber streiten nicht weiter mit Gómez.

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San Cristóbal ist die Stadt Venezuelas mit dem größten Migrantenanteil. Fast die Hälfte der Bevölkerung hier stammt aus Kolumbien, was natürlich niemand zugibt, denn die Nachbarn aus dem Westen gelten als blutrünstig, hinterlistig, verlogen, arm, kriminell - kurzum eben als 'kolumbianisch'.

Die Lage in der Region ist nicht einfach. Die Dörfer an der Grenze sind seit Jahren vom herüber schwappenden Krieg betroffen, den zu verstehen, sich hier allerdings kaum jemand die Mühe macht. In den Jahren vor Chávez' Machtübernahme war es v. a. die kolumbianische Guerilla, die mit Schutzgelderpressungen unter venezolanischen Viehzüchtern für Unruhe sorgte. Inzwischen gibt es ein Abkommen zwischen der Regierung in Caracas und den kolumbianischen Guerillas. FARC und ELN respektieren die Grenze, und die Regierung Chávez engagiert sich gegen die schleichende US-Militärintervention in Nachbarland. Außenminister Rangel hat der US-Luftwaffe sogar verboten, bei ihren Einsätzen gegen die kolumbianischen Rebellen venezolanisches Territorium zu überqueren. Als Reaktion auf diese Politik macht sich nun die Gegenseite bemerkbar. Seit 1998 versuchen kolumbianische Paramilitärs mit Straßensperren und Flugzeugentführungen die Grenze zu destabilisieren. Immer wieder wurden Morddrohungen gegen den Präsidenten ausgesprochen. Doch so genau will man das in San Cristóbal gar nicht wissen. Die Sache ist erstens beunruhigend und zweitens zu komplex.

Nach den vielen Bananen bei Enrique Urdiola gönne ich mir italienisches Essen in einer Pizzeria, in der man ciao und buona sera sagt fast wie zu Hause. Dass in Venezuela auch andere Sprachen als Spanisch zu hören sind, ist nichts Besonderes. Venezuela gehört zu den Einwanderungsländern par excellence, und interessanterweise haben alle Communities ihr Steckenpferd. Die Portugiesen scheinen das Bäckerei-Monopol zu besitzen, Palästinenser treiben Kleinhandel, die Nachkommen verschleppter Afrikaner sind für Sport, Musik und Fischen zuständig, die schon erwähnten Kolumbianer beschäftigen sich angeblich grundsätzlich nur mit Klauen, und die Italiener schließlich sind Eigentümer von Hotels, Pizzerien und Wechselstuben.

Im Fernsehen des kleinen Restaurants läuft Hola Presidente, die nach Big Brother langweiligste Fernsehsendung der Welt. Ein durchaus sympathischer, aber etwas unorganisiert wirkender Präsident erzählt, was ihm an persönlichen und politischen Dingen durch den Kopf geht. Heute spricht er über den Backenzahn, der ihm am Vormittag gezogen wurde. Sehr schmerzhaft. Interessanterweise lieben ihn viele Venezolaner genau für diese Schlichtheit. Sie halten el presidente Chávez gar für "charismatisch". Wenn man seine Reden so hört, muss kommt zu der Überzeugung, dass die ganze Aufregung der internationalen Medien reichlich übertrieben ist. Zwar betont Chávez immer wieder seinen Respekt für den kubanischen Revolutionsführer, aber ansonsten sind Parallelen zwischen den beiden nicht einmal im Ansatz zu erkennen. In den meisten sozialen und ökonomischen Fragen wirkt Chávez ziemlich unentschlossen. Dabei sagt er immer wieder Dinge, die sich in Lateinamerika kein Staatschef auszusprechen traut: Dass man sich von Washington nicht vorschreiben lasse, mit wem man befreundet ist, dass er die Solidarität Kubas nach der Flutkatastrophe im Dezember besonders hoch geschätzt habe, weil die Inselrepublik selbst nicht viel besitze, dass es an der Zeit war, eine Revolution gegen die traditionellen venezolanischen Parteien AD und COPEI zu machen. Er betont, dass alles mucho mas popular sein müsse, was nicht 'viel völkischer' bedeutet, sondern 'mehr von unten'. Und erzählt dann doch wieder Geschichten wie die Gleichung vom Backenzahn, der auch schon ganz mürbe war und deswegen raus musste.

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Chávez ist zwar ein Offizier, aber die Veränderungen in Venezuela haben trotzdem viel weniger mit der Armee zu tun, als gemeinhin angenommen wird. Ohne die vorher gehenden Sozialrevolten kann man den Aufstieg der Militärs um Chávez nicht verstehen.

Venezuela war Mitte der 80er Jahre nach 20 Jahren Erdöl-Bonanza in die Verschuldungskrise geraten, was v. a. mit der Raubpolitik der traditionellen Eliten zu tun hatte. Der langjährige Vize-Präsident der Sozialistischen Internationalen Carlos Andrés Pérez beispielsweise hatte während seiner Amtszeiten Milliardenbeträge auf Privatkonten verschwinden lassen. Der Staatsapparat, der größte Lateinamerikas, galt als Selbstbedienungsladen der Herrschenden. 1989 dann wurde auf dem ganzen Kontinent das IWF-Programm abgespult: Privatsierungen, Abbau von Sozialmaßnahmen, Aufrüstung des Sicherheitsapparates. Die Bevölkerung antworte darauf mit einem spontanen Aufstand, dem so genannten Caracazo, der sich über zwei Wochen hinzog. Erst diese Revolte bildete die Grundlage für die Militärkonspiration der Gruppe um Chávez. Die folgenden Aufstände '89 und '92 waren deshalb nicht einfach klassische Putschversuche', wie hier in der Presse zu lesen war. Vor allem am zweiten Militär-Aufstand beteiligten sich eine Reihe basislinker Gruppen, die ebenso wie Chávez' Revolutionär-Bolivarianische Bewegung die neoliberale Kürzungspolitik ablehnten. Diese gesellschaftliche Unterstützung war es auch, die die Offiziere nach ihrer Festnahme vor der Hinrichtung bewahrte und den Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 1998 ermöglichte.

Die weit verbreitete Sympathie der Linken für den Offizier könnte jedoch bald verschwinden. Zu der drängendsten Fragen, nämlich wie das für Lateinamerika erstaunliche, venezolanische Sozialwesen gerettet werden kann, hat el presidente bisher wenig zu sagen gehabt. Die Regierung macht weiter wie gehabt. Chávez selbst bekundet, dass er den Kapitalismus nicht abschaffen wolle, aber auch kein Gegner des Sozialismus sei. Das Motto heißt: Die Allmacht des Marktes durchbrechen, aber dabei niemanden verprellen. Ein klassisches Verliererprogramm.

Chávez unentschlossenes Manövrieren hat ihm schon erste große Schwierigkeiten beschert. Zum Regieren stützt sich der Präsident ebenso sehr auf die Unterstützung in Bevölkerung, Armee und Partei wie auch auf die Wahlallianz Polo Patriótico, der neben seinem eigenen Movimiento Quinta República auch die Mitte-Links-Parteien PPT und MAS angehören. Die Offiziere fordern einen radikalen Bruch mit dem klassischen Parteiensystem, PPT und MAS scheinen in der Sozialpolitik etwas klarer zu sein. Um die Vorwürfe zu entkräften, er plane die Errichtung eines Militärregimes, hat sich Chávez bei Konflikten innerhalb seiner Regierung zuletzt mehrfach auf die Seite der Zivilisten geschlagen. Das hat nun dazu geführt, dass sich mehrere Offiziere, darunter auch die langjährigen Kampfgefährten Chávez' Jesús Urdaneta und X vom Präsidenten losgesagt haben und bei den anstehenden Wahlen sogar gegen ihn kandidieren wollen.

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Dass Chávez dennoch an der Macht bleiben solle, findet neben der Bevölkerungsmehrheit auch der "Präsident" des Studenwohnheims von Mérida, der den schönen Namen Nixon trägt. Die Stadt gilt als venezolanisches"Anden-Juwel" und beherbergt dementsprechend viele Gringos. Als man in Venezuela noch nicht wusste, wohin mit den vielen Petrodollars, ließ die Regierung hier die längste Seilbahn der Welt bauen, eine Trasse, die von 1500 auf 5000 Meter hinauf reicht. Wer oben ankommt, spürt sofort die bewusstseinsverändernde Wirkung mangelnder Sauerstoffversorgung. Am Abfahrtsort der Seilbahn jedoch herrscht das eher sachliche Ambiente der Sportabteilung von Karstadt. An den anliegenden Häusern stehen Sätze wie "Here lives a para-glider" oder "Tours to Llanos, credit cards accepted", und die Ausländer sehen aus, wie man heutzutage aussehen sollte: muskulös, braun gebrannt und irgendwie locker, also NIKE oder adidas. Wer nicht para-glided oder Adventure Tours organisiert, unterrichtet Englisch, lernt Spanisch oder besitzt ein Internet-Cafe.

Studentenvertreter Nixon jedoch weist darauf hin, dass Mérida nicht nur ein Touristenort, sondern eine echte Hochburg der Linken sei. Noch unter der Regierung Caldera, die 1998 abgewählt wurde, gab es hier fast jede Woche Straßenschlachten mit der Polizei. Das Klima hat sich jedoch merklich geändert. In den Büros des Studentenausschusses hängen Fotos, auf denen el presidente beim Baseballspielen mit Studenten zu sehen ist. Das erinnert an die berühmte Golfpartien des Che und wirkt schon allein deshalb ziemlich sympathisch. "Chávez hat ein irres Charisma"¸meint Nixon. "Und er hat Venezuela vor dem Ausbruch des offenen Klassenkriegs bewahrt." Auf meine Frage, ob Nixon das als "Revolutionär" -wie er sich selber bezeichnet - eine solche Versöhnungspolitik denn begrüße, verweist der Student auf Kolumbien. "Es ist kein Spaß, wenn Klassenkampf bewaffnet ausgetragen wird. In den Zeiten von heute schon gar nicht." Ich bin überrascht. Nixon ist der erste Venezolaner, den ich spreche, der eine Meinung zu den Ereignissen im Nachbarland hat. "Natürlich wissen wir nicht, ob es unter Chávez zu den nötigen Änderungen kommen wird. Immer haben wir die USA und die großen Unternehmen gegen uns haben." Nixon ist vom Präsidenten dennoch überzeugt. "Chávez ist zwar kein richtiger Linker, aber er ist der erste Präsident seit langem, der nicht von Apparaten, sondern von der Bevölkerung an die Macht gebracht worden ist."

Dass man Nixon, der Politologie studiert, fließend Marxismus spricht und immer wieder mit historischen Vergleichen kommt, als Gesprächspartner nicht ganz so ernst nehmen kann, wie es zunächst scheint, merke ich am nächsten Vormittag. Auf dem Weg ins Studentenwohnheim erzählt er mir von der Liste, zu der er gehört und die zur Zeit den ASTA-Präsidenten in Mérida stellt, der "Bewegung 13. Oktober". Der Chef der Konkurrenzorganisation "Bewegung 25. September", Alonso, begegnet uns im Treppenhaus. "Wir verstehen uns eigentlich ganz gut", sagt Nixon, "außer im Wahlkampf." Im Wahlkampf lassen die beiden Studentenorganisationen nämlich ihre "bewaffneten Arme" aufeinander los: 13. Oktober gegen 25. September. "Das gehört dazu", meint Nixon, "zu einer richtigen Orgnisation". Normalerweise seien "die bewaffneten Arme" zwar dazu da, sich mit der Polizei auseinanderzusetzen, aber manchmal verschieben sich diese Prioritäten.

Als Nixon mir schließlich einige Fotos zeigen will, fällt auch ein handbeschriebener Zettel auf den Boden, der einem die ganze Undurchschaubarkeit der venezolanischen Verhältnisse vor Augen führt. Darauf steht"Achtung! Dies hier ist Männer- und kein Schwulen-Wohnheim. Maricas, verpisst euch"

'Maricas' ist ein Schimpfwort. Links zu sein in Venezuela ist ein recht diffuser Begriff.

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Das einzige klar definierte, linke Projekt, das mir während drei Wochen Venezuela begegnet, ist die so genannte Kulturkoordination Simón Bolívar im Stadtteil 23 de enero, einem vollgemüllten Wohnsilo im Westen Caracas'. Das in den 50er Jahren unter dem Militärpopulisten Jimenez gebaute Viertel mit seinen 500.000 Einwohnern zeigt, dass sozialer Wohnungsbau etwas für sich hat. Die Wohnblocks sind zwar heruntergekommen, aber anders als in den diffus gewachsenen Pappkartonstädten an den Berghängen existiert hier so etwas wie eine Gemeinschaft. Auf den Sportplätzen trifft man Skater-Kids, die zusammen trainieren, an den Wänden sind Bilder vom Che und anderen Linken, die Stadtteilorganisationen besitzen ein Lokal, das von der Nachbarschaft häufig frequentiert wird. Juan Contreras, einer der Sprecher der Kulturkoordination, lächelt über meine Überraschung. "Hier gab es immer schon politische Arbeit. Fast ausschließlich von radikalen Gruppen. Deswegen war auch die Repression hier immer am Schlimmsten." Contreras selbst war in den letzten zehn Jahren ungefähr 30 Mal in Haft. Aber noch schlimmer als der Ärger mit der Polizei ist in der letzten Zeit das Problem mit den Drogen-Gangs, die ganze Straßenzüge kontrollieren. Drei Stadtteilaktivisten haben die Mafias erschossen, weil die Coordinadora versucht, den Coca-Konsum zurück zu drängen. An diesem Nachmittag veranstaltet sie ein Konzert "Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker". Ich bin ergriffen. Was sie denn von Chávez halten würden, frage ich. Die Leute hier sind die ersten, auf deren Antwort man etwas geben würde. "Eine Revolution ist das nicht. Überhaupt nicht. Und es würde mich auch nicht wundern, wenn wir in einem Jahr wieder mit Haftbefehl gesucht werden. Aber eine Chance sollten wir dem Präsidenten trotzdem geben. Die Dinge brauchen eben Zeit." Vor allem in Venezuela, denke ich, wo das mit dem Warten sowieso so eine Sache ist. Nirgends dauert es in einer Kneipe so lange wie in Venezuela. Nicht mal in Kuba, dem Land der Ewigkeit. Was er denn als Erfolg der Regierung sehen würde, frage ich. "Vier sehr wichtige Dinge: die Zerschlagung des korrupten Zweiparteiensystems, die Politisierung der Öffentlichkeit, die autonome Außenpolitik gegenüber den USA und die Verabschiedung einer sehr fortschrittlichen Verfassung." Tatsächlich hat die neue Konstitution die Rechte der Indígenas gewaltig ausgebaut, den Schutz der Menschenrechte erweitert und plebiszitäre Elemente in die Demokratie eingeschrieben.

Und was passiert, wenn Chávez keine sozialen Veränderungen einleitet? "Dann ist alles möglich", antwortet Contreras, "bewaffnete Konflikte in der Armee, Aufstände, die Rückkehr der Guerillas." Ich nicke. "Wäre aber besser, wenn es nicht dazu kommt ..." Contreras verzieht das Gesicht. Er hat einige Zeit in Kolumbien gelebt und kann auf eine Eskalation gut verzichten.

Raul Zelik

 

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Kopfbild Freddy Sanchez Caballero / Kolumbien