In Caracas repräsentieren auch die beiden großen Hochschulen den gesellschaftlichen Riss zwischen Regierung und Opposition
Caracas, Ciudad Universitaria
In keinem anderen Bereich unternimmt die Regierung Chávez so große Anstrengungen wie im Bildungssektor. Neben der Alphabetisierungskampagne Robinson und der Misión Ribas zur Weiterbildung von Schulabbrechern hat man auch die Universitäten grundlegenden Reformen unterworfen. Doch die Veränderungen verlaufen alles andere als konfliktfrei.
Wer sich ein Bild von den Widersprüchen zwischen den unterschiedlichen Bildungskonzepten machen möchte, fährt mit der Metro Richtung El Valle bis zur U-Bahnhaltestelle Ciudad Universitaria. Nur wenige Hundert Meter voneinander entfernt, liegen hier die zwei Hochschulen, die den politischen Bruch manifestieren.
Die Universidad Central de Venezuela (UCV) gehört, rein gestalterisch, zu den interessantesten und angenehmsten Orten in der Fünfmillionenstadt Caracas. Der offene, von Rasenflächen und Skulpturen geprägte Campus ist ein Werk des venezolanischen Architekten Carlos R. Villanueva, einer der großen Vertreter der lateinamerikanischen Architektur-Moderne. Während Caracas ansonsten eine hektische, laute Stadt ohne soziale Orte ist, herrscht an der UCV eine Atmosphäre der Kommunikation. Auf architektonisch immer noch hochaktuelle Weise werden Innen- und Außenräume, feste Strukturen und tropische Natur, Funktionalität und Kunst miteinander versöhnt.
Doch das soziale Programm, dem der ästhetische Entwurf einst entsprang, scheint auf die konkrete gesellschaftliche Praxis keinen Einfluss zu haben. Die Zentraluniversität von Caracas war Ende 2001 Schauplatz der ersten großen Mobilisierung der bürgerlichen Opposition gegen den Reformprozess im Land. Linke Studentengruppen hatten damals das Rektorat besetzt und Quoten für Schulabgänger aus armen Familien gefordert. 80 Prozent der insgesamt 80.000 Studierenden an der UCV stammen aus Ober- und Mittelschichtsverhältnissen. Die venezolanischen Universitäten sind zwar kostenlos, doch die Aufnahmeprüfung bestehen in der Regel nur Absolventen von Privatschulen und speziellen Vorbereitungskursen. Auf diese Weise finanziert der venezolanische Staat ausgerechnet jenen die Ausbildung, die diese Unterstützung gar nicht nötig haben. Als die Regierung mit einer Hochschulreform diesen Zustand ändern wollte, wehrten sich Professoren, Universitätsleitung und ein Großteil der Studierenden gegen den Eingriff in die Hochschulautonomie und schmetterten die Reform ab.
Humberto Luque vom Pressereferat der Universidad Central ist sich des Problems durchaus bewusst. Überhaupt macht der Referent den Eindruck, als würde er sich für seine Hochschule durchaus einige Sozialreformen wünschen. Dass der Anteil sozial schwach gestellter Studierender niedrig ist, sei eine häufig zu hörende Kritik, so Luque. Über genaue Daten verfüge sein Büro zwar nicht, aber an dem Hinweis sei offensichtlich etwas dran. „Allerdings ignoriert auch unsere Universitätsleitung das Problem nicht. Wir haben ein Programm zur Integration von Studierenden aus öffentlichen Schulen eingerichtet. Es ist ja nicht damit getan, ihnen mit Quoten und Stipendien einen Studienplatz zu garantieren. Man muss auch dafür sorgen, dass jemand, der möglicherweise eine schlechtere Schulbildung genossen hat, im Unterricht mitkommt. Und dafür haben wir dieses Integrationsprogramm geschaffen. D.h. die benachteiligten Schulabgänger werden erst einmal auf die Studiengänge vorbereitet.“ Auch mit einigen staatlichen Programmen arbeite die Universität zusammen. So halte man die Misión Ribas, in deren Rahmen zur Zeit Hunderttausende von Venezolanern ihren Schulabschluss und damit die Universitätsreife nachholten, für einen vernünftigen Ansatzpunkt zur Hebung des allgemeinen Bildungsstands.
Doch auch der versöhnlich auftretende Pressesprecher muss zugeben, dass der Konflikt zwischen Regierungs- und Oppositionslager an der Zentraluniversität keineswegs als überwunden gelten kann. Bei den letzten Rektoratswahlen hat eine Liste gewonnen, die sich offen zur bürgerlichen Opposition bekennt. Das Ergebnis hätte kaum eindeutiger ausfallen können. Erstmals in der Geschichte der Universität werden nun alle vier Rektoratsposten von einer einzigen Liste gestellt.
Für Andrés Antillano, einem an der Rechtsfakultät dozierenden Stadtteilaktivisten, verweist das Ergebnis auf die Sozialstruktur der Universität. Zwar habe die Eindeutigkeit des Wahlergebnisses mit der Tatsache zu tun gehabt, dass die Stimmen eines Professoren ungefähr 40 Mal stärker gewichtet wird als wie die seines Schülers, doch auch in der Studierendenschaft ist das Klima aus Antillanos Sicht nicht besonders berauschend. „Die Linke hat zwar unter den Studenten die Nase leicht vorn gehabt, aber verglichen mit dem, was sonst im Land los ist, wirkt die Universität wie gelähmt.“
Der Hinweis überrascht, wenn man weiß, dass die UCV lange Jahrzehnte das wichtigste Zentrum der venezolanischen Linken war. 1970 schloss die Regierung die Universität sogar komplett für fast zwei Jahre, um den revolutionären Gruppen den Boden zu entziehen.
Die im Sommer 2003 neu eingerichtete Universidad Bolivariana bietet in dieser Hinischt ein ganz anderes Bild. Das Gebäude, das der Hochschule nach der Umstrukturierung des staatlichen Staatsunternehmens Petróleo de Venezuela S.A. (PDVSA) von dem Ölkonzern überlassen worden ist, liegt nur wenige Minuten Fußweg von der Universidad Central entfernt. Rein äußerlich gibt es eine bemerkenswerte Parallele. Wie der Campus der Zentraluniversität ist auch das ehemalige PDVSA-Gebäude ein Monument des venezolanischen Booms der 1950er Jahre. Zwar handelt es sich verglichen mit dem avantgardistischen, künstlerisch facettenreichen Projekt Villanuevas bei dem Sitz der Universidad Bolivariana nur um ein eher schlichtes Bürogebäude, doch auch dieser strahlt jenen Optimismus aus, der für die Jahrzehnte der venezolanischen Erdöl-’Bonanza’ 1940-79 kennzeichnend war.
An der ‘Bolivarianischen Universität’ ist der Name Programm. Der kleine Campus und die Eingangsräume der Universität sind von politischer Propaganda für die Chávez-Regierung und einer verkitschten Mythologisierung des Unabhängigkeitsgenerals Simón Bolívar bedeckt. An was es an der Universidad Central zu mangeln scheint - an Bereitschaft, die Chancen des venezolanischen Transformationsprozesses wahrzunehmen-, wird hier auf recht penetrante Weise inszeniert. In den Eingangshallen wird mit eher einfältigen Parolen für den Wahlkampf mobilisiert. „Verteidigen wir unseren Präsidenten, der uns unsere Universität gegeben hat!“
Ana Karina Silva, junge Mitarbeiterin der Universitätsleitung, will die Universidad Bolivariana dennoch nicht als politische Einrichtung verstanden wissen. „Natürlich steht man als Hochschule immer auch innerhalb des gesellschaftlichen Konflikts und muss sich darin positionieren. Aber die Medien tun so, als wären wir keine richtige Hochschule. Als würden hier nur die Aktivisten des Chavismus ausgebildet. Doch so einfach ist das nicht. Diese Universität steht allen offen und bietet vollwertige Ausbildungen.“
Tatsächlich unterscheidet sich das Bildungsprojekt der UBV allerdings in einigen Punkten radikal von normalen Hochschulen, in denen sich die Lehre an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes orientiert. Die bisher etwa 10.000 Studenten der neu eingerichteten Universität - in den kommenden zwei Jahren ist eine Erweiterung um 30.000 Plätze im ganzen Land geplant - werden bisher in vier Einheiten unterrichtet. Angeboten wird eine mehrmonatige Orientierungsstufe für Schulabgänger sowie drei Fachbereiche: soziale Kommunikation, Umwelttechnik und Sozialarbeit / lokale Entwicklung. In Vorbereitung sind u.a. außerdem Medizin, Agrarökologie, „bioharmonische Architektur“ und Rechtswissenschaften. Die Ausbildung der UBV, die sich an den dezentralisierten kubanischen und brasilianischen Modellen orientiert, zielt auf ein praxisnahes Studium ab, wie es in Deutschland am ehesten in Fachhochschulen zu finden ist. Die Studierenden sollen schon während des Studiums zahlreiche Praktika absolvieren. Besonderes Gewicht hat man dabei auf die Zusammenarbeit mit Community-Organisationen gelegt. Der Fachbereich Sozialarbeit / lokale Entwicklung etwa wurde in enger Abstimmung mit Stadtteilgruppen und den so genannten Consejos de Planificación Local , basisdemokratischen Gremien zur Verwaltung der Kommunalhaushalte, entwickelt. „Wir wollen“, so Ana Karina Silva, „die Studierenden nicht nur auf eine Berufskarriere vorbereiten, sondern ihre integrale Entwicklung fördern. Unsere Rektorin María Egilda Castellano spricht viel von Erziehung zum Humanismus, zu einem nicht vom Egoismus bestimmten Handeln. Das unterscheidet uns von den anderen Universitäten.“ Trotzdem will Silva die Gründung der UBV nicht als Gegenentwurf zur UCV verstanden wissen. „Es wäre etwas vermessen, wenn ich das Modell der UCV kritisieren würde, obwohl doch ein Großteil unserer Hochschullehrer von dort stammt.“ Auch bei der Frage, ob die Einrichtung der ‘Bolivarianischen Universität’ nicht als Eingeständnis der Niederlage bei den Reformbestrebungen an den älteren Hochschulen interpretiert werden müsse, vermeidet Silva eine polarisierende Antwort. „Sicher hatte die Gründung der UBV damit zu tun, dass man im Hochschulbereich etwas in Bewegung bringen wollte und das innerhalb der bestehenden Strukturen nicht möglich war.“
Silva lädt mich zu einer an diesem Vormittag stattfindenden Konferenz über die „Lateinamerikanischen Giganten José Martí und Simón Bolívar“ ein. Ich lehne ab. Der emphatische Ton, mit dem an der Universidad Bolivariana für Alternativen zum Neoliberalismus geworben wird, wirkt auf Außenstehende eher abschreckend. Doch die Tatsache, dass Zehntausenden von Schulabgängern aus armen Familien ein Studium ermöglicht worden ist und dass man dabei nicht nur individuelle Lösungen, sondern die Entwicklung ganzer Nachbarschaften zu fördern versucht, ist zweifelsohne ein bemerkenswerter Schritt. In dieser Hinsicht legt der Besuch in den Universitäten von Caracas eine Schlussfolgerung nahe, die sich durchaus auf die Situation im Land verallgemeinern lässt: Der Emanzipationsprozess in Venezuelas besitzt ein widersprüchliches Gesicht.
Raul Zelik