le mondeDer Staatsozialismus des 20. Jahrhunderts hat den Begriff ‚Alternative‘ gründlich diskreditiert.[1] In Sachen Demokratie, Umweltschutz und Selbstbestimmung stellte er keinen erkennbaren Fortschritt dar. In Venezuela, Bolivien und Ecuador jedoch reden Linksregierungen heute wieder davon, den Kapitalismus überwinden zu wollen. Der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ soll eine Revolution ermöglichen, die sich in Wahlen demokratisch immer wieder neu legitimiert. Mit „endogener Entwicklung“ und dem indigenen Konzept des „guten Lebens“ (sumak kawsay)[2] will man sich kapitalistischen Wachstums- und Konsumvorstellungen entziehen. Und auf den Kollaps der zentralstaatlichen Planung antwortet man mit der – sicher nicht neuen, aber auch nicht ganz falschen – Verbindung von staatlicher Intervention, dezentralen Märkten und Genossenschaftswesen.

So weit, so gut. Doch was wird von diesen Versprechen in der Praxis auch tatsächlich eingelöst?

Die Bürgerrevolution in Ecuador

Von den drei genannten Ländern kam Ecuador als letztes, nämlich im Januar 2007, zu seiner Linksregierung. Dem Wahlsieg Rafael Correas, der im Wesentlichen von seiner eigenen, linkspopulistischen Partei ALIANZA PAÍS und der Sozialistischen Partei Ecuadors (PSE), unterstützt wurde, war eine lang anhaltende politische und soziale Krise vorausgegangen. Als Reaktion auf die Spardiktate des Internationalen Währungsfonds hatten sich soziale Bewegungen zwischen 1990 und 2001 fünf Mal gegen die Regierung in Quito erhoben – in den meisten Fällen unter Führung des Indígena-Verbandes CONAIE. Insofern müsste man richtigerweise also davon sprechen, dass die Gesellschaft den Bruch mit dem Neoliberalismus lange vor Correas Amtsantritt vollzog.

Bemerkenswert an der neuen Regierung war jedoch, dass sie unmittelbar nach ihrem Amtsantritt begann, zentrale Forderungen der Bewegungen umzusetzen. Emblematisch für diesen Politikwechsel steht die 2007 einberufene Verfassunggebende Versammlung. Unter Leitung des ökosozialistischen Intellektuellen Alberto Acosta führte sie Dutzende von Diskussionsforen im ganzen Land durch, auf denen Basisorganisationen und Bürger eigene Verfassungsvorschläge unterbreiten und diskutieren konnten. Diese offene Vorgehensweise wurde explizit als Kritik an der Begrenztheit bürgerlich-repräsentativer Demokratie verstanden.

Aber auch inhaltlich markierte die neue Verfassung einen Bruch: Ecuador wurde als „plurinationaler Staat“ definiert und damit indigene Identitäten endlich als Teil der politischen Realität anerkannt. Man stärkte die Interventionsmacht des Staates, entzog öffentliche Dienstleistungen wie die Wasserversorgung den Märkten und schrieb das indigene Konzept des „Guten Lebens“ („sumak kawsay“) als Grundprinzip der Wirtschaftsordnung fest. Nicht „Wohlstand“, sondern ein harmonischer Zustand der Gemeinschaft mit sich selbst und der Natur soll Maßstab der ökonomischen Tätigkeit sein. In diesem Sinne ist die ecuadorianische Verfassung zwar sicher nicht sozialistisch, aber eröffnet doch wichtige Perspektiven für eine weiter reichende Transformation.

In den letzten Jahren ist die Kluft zwischen diesen Prinzipien und der Politik der Correa-Regierung allerdings immer sichtbarer geworden . Die im Verfassungsprozess angestoßene Demokratisierung ist beendet, bevor sie richtig angefangen hat. Präsident Correa verhandelt jede Kritik an seiner Person als Landesverrat und beschwört die politische Geschlossenheit gegenüber der alten Oligarchie und ihren mächtigen Verbündeten in den USA. Das führt nicht nur zu absurden Prozessen gegen bürgerliche Medien: So wurde 2011 der Meinungskolumnist der Tageszeitung El Universo Emilio Palacio zu einer Haftstrafe verurteilt, weil er Correa in einem Kommentar als „Diktator“ bezeichnet hatte.[3] Noch weitaus dramatischer ist die Verfolgung der sozialen Bewegungen. Zwischen 2008 und 2010 wurden siebzehn Anti-Terror-Verfahren gegen Mitglieder von Gewerkschaften, Studierenden- und Indigenen-Organisationen eröffnet[4]. Als „Terrorismus“ wurden dabei einfache Protestaktionen wie die Blockade von Straßen bewertet.

Das repressive Vorgehen gegen die Opposition von links lässt sich auch mit den unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Projekten erklären. Zwar propagiert Correas „Bürgerrevolution“ die Abkehr von der auf Rohstoffexporten beruhenden Wirtschaftsstruktur, doch faktisch hat die Regierung die Abhängigkeit vom Öl nicht reduziert: Der Anteil der Rohstoffe am Gesamtexport nahm zwischen 2003 und 2010 von 88% auf 90,2% zu[5], allein der Erdölsektor trägt 17% zum Bruttoinlandsprodukt bei. Vor diesem Hintergrund kommt der Politikwissenschaftler Pablo Ospina in einer bilanzierenden Studie zu dem Schluss, dass Erdöl heute in Ecuador die gleiche Bedeutung wie in den Spitzenzeiten 1975 und 1985 besitzt und Schwankungen nicht auf die Regierungspolitik, sondern auf Veränderungen beim Ölpreis zurückzuführen sind.[6] Anders ausgedrückt: Es hat bislang keine Reformen gegeben, die die ökonomische Struktur des Landes verändern würden.

Damit löst sich Correa jedoch von einem der Grundanliegen der anti-neoliberalen Protestbewegung. V.a. die Indígena-Organisation CONAIE hat den Widerstand gegen die IWF-Sparprogramme in der Vergangenheit stets mit umweltpolitischen Forderungen und einer Kritik der weltmarktorientierten Entwicklung verbunden. Vermutlich reagiert Correa deshalb auf die Kritik von links auch besonders dünnhäutig. Dem Dachverband der Indigenen wirft er Umsturzvorbereitungen vor, seinen ehemaligen Bergbauminister und Ex-Präsidenten der Verfassunggebenden Versammlung Alberto Acosta bezeichnet er als „infantilen Linken“.[7]

Andererseits wäre es aber auch falsch zu behaupten, es habe sich unter Correa nichts Wesentliches verändert. Die öffentlichen Ausgaben für Sozialpolitik und Infrastrukturmaßnahmen sind beispielsweise enorm gestiegen. Betrugen die Staatsausgaben vor Correas Amtsantritt 23,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, so liegen sie heute bei 48,8 des BIP[8]. Diese Ausgabenerhöhung ist nicht allein schuldenfinanziert, sondern hat auch mit der Erhöhung von Steuereinnahmen und Öl-Royalties zu tun. Die Regierung Correa hat die Steuereinnahmen seit 2006 auf über 9 Milliarden US-Dollar verdoppeln können und eine Re-Nationalisierung der Erdölpolitik durchgesetzt. So stieg die Förderung staatlicher Firmen von 90 auf 131 Millionen Barrels jährlich, während die der Privatkonzerne von 105 auf 52 Millionen Barrels fiel.[9]. Obwohl Ecuador heute etwas weniger Öl fördert als vor sechs Jahren, kommen die Einnahmen dem Land stärker zugute. Das erklärt, warum die Gesundheits- und Erziehungsausgaben wiederum von 3,8% auf 7,6% des Bruttoinlandsprodukts gewachsen sind[10].

Die Bevölkerungsmehrheit hat von dieser Politik zweifellos profitiert. Doch vom „Bio-Sozialismus“, den die staatliche Planungsbehörde SENPLADES propagiert[11], ist das Land so weit entfernt wie eh und je. Man setzt weiterhin bedingungslos auf Rohstoffausbeutung – und damit nicht genug: Auch die strukturelle Ungleichheit wird nicht in Frage gestellt. Pablo Ospina zeichnet in seiner Studie nach, dass die progressiven Gewinn- und Einkommenssteuern, die eher die Reichen belasten, nach einem kurzzeitigen Anstieg, zuletzt wieder an Bedeutung (gegenüber der regressiv wirkenden Mehrwertsteuer) verloren haben. Und auch die versprochene Landreform ist ausgeblieben. Von den 2,5 Millionen Hektar Land, die die Correa-Regierung verteilen wollte, sind 5000 Hektar (!) tatsächlich an Kleinbauern übergeben worden – obwohl Ecuador mit einem GINI-Faktor von 0,80 einer der Staaten mit der ungleichsten Landverteilung weltweit ist.[12]

Bolivien: Kommunitärer Sozialismus

Auch auf den Straßen von Boliviens Hauptstadt La Paz merkt man von einer Revolution wenig. Hier und da informiert die Regierung Morales auf Plakatwänden über ihre Programme, doch das Stadtbild wird von ritualisiert verlaufenden Protesten gegen den Präsidenten beherrscht. Die bürgerliche Ärztekammer, der trotzkistisch geprägte Gewerkschaftsdachverband COB, kleinere Transportunternehmer und sogar Teile der Indígena-Bewegung haben Evo Morales zuletzt keine Atempause gegönnt.

Wie in Ecuador reicht auch der bolivianische Veränderungsprozess weit hinter den Wahlsieg der Linken zurück. Die Revolten gegen die Wasserprivatisierung in Cochabamba 2000 und den Ausverkauf der Erdgasvorkommen 2003 hatten das Land faktisch unregierbar gemacht. Der uruguayische Journalist Raúl Zibechi hat in einem viel beachteten Buch (“Dispersar el poder“) darauf hingewiesen, dass diese Bewegungen jenseits der Parteien, Gewerkschaften und linken Organisationen entstanden. Es seien v.a. die kulturellen Netzwerke der vom Land migrierten Aymará-Indígenas gewesen, so Zibechi, die 2000 bis 2005 den Widerstand auf die Straße trugen.

Der Führer der Kokabauerngewerkschaft Evo Morales, der eher aus der traditionellen Linken stammt, konnte jedoch insofern die Repräsentation dieser neuen Bewegungen beanspruchen, als seine Partei Movimiento Al Socialismo (MAS) zentrale Forderungen der Proteste aufgriff und nach dem Wahlsieg umzusetzen begann. Ebenso wie in Venezuela und Ecuador berief die neue Regierung eine Verfassunggebenden Versammlung ein, die 2009, nach langen Konflikten mit den rechten Gouverneuren der Tieflandprovinzen, eine neue Konstitution verabschiedete. Ähnlich wie ihr ecuadorianisches Pendant erkennt die neue Verfassung erstmals den plurinationalen Charakter des Landes an, stärkt die Selbstregierung indigener Gemeinschaften und schreibt den gemischten Charakter der Wirtschaft fest.

Eine zweite wichtige Anstrengung der Morales-Regierung bestand – auch hier liegen die Parallelen zu Ecuador und Venezuela – auf der Hand in der Neuausrichtung der Energiepolitik. Dabei handelte es sich jedoch nicht, wie die Regierung für sich in Anspruch nimmt, um eine Nationalisierung der Vorkommen, sondern um eine Neufestsetzung der Erdgas-Royalties. War der bolivianische Staat vor 2006 mit unter 30% an den Einnahmen aus dem Gas- und Ölgeschäft beteiligt gewesen, so stieg die Quote – je nach Berechnungsart – auf 65 bzw. 73% an[13]. Genutzt wurden die neuen Einnahmen v.a. für Sozialprogramme: Mit dem Bono Juancito Pinto, einer jährlichen Zahlung an Schulkinder, wurde ein Anreiz für den Schulbesuch geschaffen, der Bono Juana Azurduy wird an Frauen gezahlt, die sich und ihre Kleinkinder medizinischen Vorsorgeuntersuchungen unterziehen, und die Rente Dignidad schließlich ist eine Mindestrente für jenen Bevölkerungsteil, der nie in eine Rentenkasse einzahlen konnte. 2010 beliefen sich diese Sozialausgaben auf 2,15 Milliarden Bolivianos (ca. 225 Millionen Euro).[14] Dazu kommen die mit venezolanischer und kubanischer Hilfe durchgeführte Gesundheits- und Alphabetisierungsprogramme.

Doch auch im Fall Bolivien bleiben die realen Veränderungen weit hinter der sozialistischen Rhetorik zurück. In einem offenen Brief legten mehrere ehemalige Mitglieder der Regierung Morales ihre Kritikpunkte offen.[15] Im Widerspruch zur nationalistischen Rhetorik habe die Regierung Morales die ausländischen Öl- und Gasunternehmen großzügig entschädigt und dem halbstaatlichen brasilianischen Unternehmen PETROBRAS sogar besonders günstige Konditionen eingeräumt. Während die staatlichen Devisenreserven zu Niedrigzinsen in Europa und den USA deponiert würden, nehme Bolivien Auslandsschulden zu hohen Zinsen auf. Und gegenüber der Gesellschaft habe die Regierung gar einen „autoritären Kursschwenk“ vollzogen.

Bei genauerer Betrachtung stellt sich also auch Bolivien eher als ein staatlich reguliertes, kapitalistisches Entwicklungsprojekt denn als ein „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ dar. Die Politik der bolivianischen Regierung, die v.a. vom Vizepräsidenten Álvaro García Linera geprägt wird, zielt auf eine wirtschaftliche Integration mit Brasilien und eine Öffnung des Landes für brasilianische Direktinvestitionen ab. Das ermöglicht zwar eine gewisse Modernisierung, sozialpolitische Verbesserungen und eine größere Autonomie gegenüber den USA. Doch die ökonomische Struktur bleibt unverändert: Boliviens Wachstum beruht auf der Steigerung der Rohstoffexporte. Von den staatlichen Industrialisierungsvorhaben – u.a. will man das einheimische Lithium im Land zu Batterien verarbeiten – ist bisher keines in Gang gekommen, und das in der Verfassung verankerte „Gute Leben“ schließlich spielt in der Praxis gar keine Rolle.

Auch das Verhältnis der Morales-Regierung zu den sozialen Bewegungen ist problematischer, als es auf den ersten Blick scheint. Zwar besitzen Bauern- und Frauenorganisationen in der Regierung großes Gewicht und die Regierungskoalition MAS ist weniger eine Partei als eine Wahlplattform von gesellschaftlichen Organisationen. Doch das führt keineswegs zu einer Demokratisierung von unten. In Bolivien scheint sich eher eine Entwicklung zu wiederholen, wie sie die britische Arbeiterpartei im 20. Jahrhundert durchgemacht hat: Auch Labour war eine „Partei der sozialen Bewegungen“, nämlich der Gewerkschaften, die in der Partei über Blockstimmen verfügten. Das jedoch führte eben nicht zu mehr Basisdemokratie, sondern zur bürokratischen Verflechtung von Gewerkschaften und Partei.

Der „bolivarianische Prozess“ in Venezuela

Verglichen mit Ecuador und Bolivien reicht der Veränderungsprozess in Venezuela denn doch ziemlich weit. Das liegt nicht nur daran, dass die Linksregierung hier länger, nämlich seit  13 Jahre im Amt ist, sondern auch daran, dass es Chávez immer wieder versteht, die Unterschicht zu mobilisieren. Die Fixierung auf die messianische Führungsperson Chávez ist paradoxerweise also nicht nur Schwachpunkt, sondern auch Voraussetzung der „bolivarischen Revolution“.

Auch im Fall Venezuelas ging dem Regierungswechsel ein Kollaps des politischen Systems voraus. Der Armutsaufstand 1989 und die durchaus populären Putschversuche kritischer Militärs 1992 sorgten für ein politisches Vakuum, in dem sich drei zentrale Forderungen durchsetzten: Stopp der IWF-Sparpolitik, Neugründung des politischen Systems und Umverteilung des Reichtums. Die Regierung Chávez setzte diese Forderungen ab 1999 um: Verfassungsprozess, Re-Nationalisierung der Ölgeschäfte und Sozialprogramme.

Kritiker wenden an dieser Stelle oft ein, dass es ein Leichtes sei, Sozialpolitik mit Ölmilliarden zu finanzieren. Dabei wird jedoch unterschlagen, dass sich die Chávez-Regierung die fiskalpolitischen Spielräume hart erkämpfen musste. Die Anstrengungen Venezuelas zur Stärkung der OPEC (die 1999 für einen deutlich Anstieg der Ölpreise sorgten) und der Umbau des staatlichen Ölunternehmens PDVSA ab 2001 bescherten der Regierung die offene Feindschaft Washingtons und zwei rechte Umsturzversuche im eigenen Land. Erst nach diesem Kurswechsel waren große Bildungs-, Gesundheits- und Wohnungsprogramme bezahlbar. Das Volumen dieser sogenannten „Misiones“ sind beachtlich: Allein 2011 gab der staatliche Ölkonzern PDVSA 39,6 Milliarden US-Dollar für Sozialprogramme aus[16] - wobei die direkt vom Staat finanzierten Sozialausgaben noch gar nicht mitgezählt sind. Trotz Korruption und bürokratischer Ineffizienz hat sich die soziale Situation dementsprechend deutlich verbessert. Der Anteil der Armen an der Gesamtbevölkerung ist zwischen 2002 und 2010 von 48,6% auf 27,8% gefallen und auch die strukturelle Ungleichheit hat abgenommen. Allen wichtigen Indikatoren zufolge (GINI, Theil und Atkinson) ist Venezuela heute – noch vor Uruguay– das Land Lateinamerika mit der ausgewogensten Einkommensverteilung[17].

In Sachen Demokratie haben sich ebenfalls wichtige Dinge getan: Zwar pflegt Chávez einen autoritär-selbstverliebten Politikstil, doch muss man berücksichtigen, dass sich für die arme Hälfte der Bevölkerung überhaupt erst unter seiner Präsidentschaft Partizipationsmöglichkeiten eröffnet haben. In den Armenvierteln von Caracas herrscht heute – anders als in den meisten Nachbarländern – eine lebendige, von Versammlungen und Selbstverwaltung geprägte Kultur.

Selbst die Medienlandschaft hat sich teilweise geöffnet. Die kommerziellen Medienkonzerne werden vom Staat gegängelt, die Vielfalt jedoch hat zugenommen. Existierten 1998 neben den 331 privaten elf öffentliche Radiostationen, so sind es heute 449 private, 83 staatliche und 247 selbstverwaltete. Das gilt auch fürs Fernsehen: Vor Chávez‘ Amtsantritt waren 36 kommerzielle und acht öffentliche Fernsehstationen auf Sendung, heute sind es 67 kommerzielle, 13 staatliche und 38 selbstverwaltete.[18] Zumindest für die einfachen BürgerInnen ist der Zugang zu den Medien heute einfacher als für 15 Jahren.

Jenseits dieser sozialen und politischen Inklusion sind die strukturellen Probleme des Landes jedoch ungelöst. Was für Bolivien und Ecuador stimmt, gilt verschärft auch für Venezuela. Das Land ist völlig abhängig vom Öl, verkauft 50% seiner Lieferungen in die USA[19] und muss den Großteil der Konsum- und Bedarfsgüter importieren.

Der Fall Venezuelas zeigt emblematisch, dass Ressourcenreichtum eben durchaus ein Fluch sein kann. Die gewaltigen Ölvorkommen – der Regierung zufolge reichen die nachgewiesenen Reserven für weitere 270 Jahre Förderung auf heutigem Niveau (wobei es sich allerdings überwiegend um superschweres Teeröl handelt[20]) – verhindern die Entfaltung einer einheimischen Produktion. Denn der konstante Zufluss von Petro-Dollars wertet die einheimische Währung auf und verteuert damit die inländische Fertigung. Die Regierung könnte dem durch eine Währungsabwertung entgegenwirken. Das jedoch würde die importierten Konsumgüter enorm verteuern und eine Inflationsspirale in Gang setzen. Nicht zuletzt aus Angst vor sozialen Protesten schiebt die Regierung diese seit Jahren anstehende Entscheidung vor sich her.

Die hohen Wachstumsraten Venezuelas können deshalb auch nicht als Erfolgsindikatoren herangezogen werden. Lohnerhöhungen und die Zunahme gesicherter Arbeitsverhältnisse haben die Binnennachfrage steigen lassen, doch davon haben in erster Linie der Handel und die Immobilienbranche profitiert. Die Landwirtschaft hingegen macht trotz staatlicher Förderung nur noch 5% des BIP aus, der Anteil der verarbeiteten Industrie ist auf 14,4% gefallen.[21] Paradoxerweise hat also offensichtlich gerade das unproduktive venezolanische Finanz- und Handelskapital von der nachfrageorientierten Politik der Regierung Chávez profitiert.

Der Ölreichtum wirkt sich aber nicht nur auf die Wirtschaft, sondern auch auf das politische System verhängnisvoll aus. Da der Staat die Ressourcen verwaltet, agieren die einheimischen Unternehmen nah am Staatsapparat, um sich Bau- und Handelsaufträge zu sichern. Auf diese Weise ergeben sich enge Verflechtungen mit der Bürokratie, und die Korruption treibt Blüten. Der bolivarisch-revolutionäre Staat ist dem Staat der 1970er Jahre viel ähnlicher, als es Rechten und Linken lieb ist. Doch eine effiziente Korruptionsbekämpfung ist nur schwer denkbar: Sie würde das Regierungslager vor eine Zerreißprobe stellen.

Eine abschließende Bilanz

Wenn man südamerikanischen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ betrachtet, drängen sich also zwei Schlussfolgerungen auf. Erstens: Es gibt durchaus Alternativen zu den neoliberalen Krisenstrategien. In den südamerikanischen Ländern hat sich eine im weiteren Sinne ‚sozialdemokratische‘ Politik durchgesetzt. Möglich war das aber nur aufgrund eines breiten gesellschaftlichen Widerstands und im Rahmen eines radikaleren politischen Projekts. Die nach wie vor begrenzte Umverteilungspolitik – der Großgrundbesitz ist in keinem der drei Länder entmachtet worden – musste gegen erbitterten Widerstand durchgesetzt werden. Der bisweilen bizarre, manchmal auch nur abstoßende Antiimperialismus der südamerikanischen Regierungen (besonders gute Beziehungen pflegt man zum Iran und Weißrussland) hat hier durchaus eine Funktion erfüllt. Denn erst die Re-Nationalisierung der Öl- und Gaseinnahmen hat die sozialpolitischen Spielräume eröffnet.

Zweitens: Trotz dieser Fortschritte sind Veränderungen, die über das kapitalistische Entwicklungsmodell oder auch nur das koloniale Erbe Lateinamerikas als Rohstofflieferant hinausweisen, nicht zu erkennen. Von einer Ökonomie des „Guten Lebens“ oder einem „republikanischen Bio-Sozialismus“ kann keine Rede sein.

Sicherlich hat das auch damit zu tun, dass der Weltmarkt wenig Raum für Alternativen lässt. Doch die Probleme sind auch hausgemacht. Die Linksregierungen halten an einer klassisch-staatszentrierten Perspektive fest. An der Genossenschaftsförderung in Venezuela kann man das Problem illustrieren: 2005 rief die Regierung Chávez zur massenhaften Gründung von Kooperativen auf, um einen gesellschaftlichen Sektor jenseits von Markt und Staat zu schaffen. Von den 181.000 gegründeten Genossenschaften existieren heute trotz umfangreicher Förderung nur noch wenige hundert. Ganz offensichtlich kann der Staat die gesellschaftliche Initiative ‚von unten‘ weder ersetzen noch in Gang bringen. Grundlegende Veränderungen gehen einfach aus gesellschaftlicher Mobilisierung hervor – so wie auch die Rückkehr der Sozialpolitik in Lateinamerika von Bewegungen erkämpft werden musste. Regierungen können dazu beitragen, den Politikwechsel zu festigen, aber als zentraler Akteur der Emanzipation taugen sie nicht.

Südamerikas „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ mag also nur beschränkt Alternative aufzeigen, doch er verweist immerhin darauf, dass es durchaus welche gäbe.

Raul Zelik ist Schriftsteller und Professor für Politik an der Nationaluniversität Kolumbiens. Im Oktober erscheint sein neuer Roman „Der Eindringling“ in der Edition Suhrkamp.



[1] Dieser Text verdankt der Arbeitsgruppe „Más allá del desarrollo / Jenseits der Entwicklung“ wichtige Anregungen. Diese von der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisierte Gruppe führt AktivistInnen und AkademikerInnen aus zehn Ländern zusammen. Besonders hervorheben möchte ich die Aufsätze von Pablo Ospina (Ecuador), Carlos Arze Vargas (Bolivien) Victor Álvarez und Edgardo Lander (beide Venezuela).

[2] Der indigene Intellektuelle Floresmilo Simbaña definiert das andine Konzept des „guten Lebens“ folgendermaßen: 1) Reziprozität (Sozialbeziehungen, die nicht auf Tausch, aber doch auf ausgleichender Wechselseitigkeit beruhen), 2) Gemein(schafts)eigentum, 3) die Verbindung mit der Natur (im Gegensatz zur Trennung von Mensch und Natur im modernen Denken), 4) soziale Verantwortung, 5) Konsens in den Gemeinschaften.

[3] Palacio wurde zunächst zu drei Jahren Haft verurteilt. Nachdem Correa seine Anzeige jedoch zurückzog, wurde auch die Strafe kassiert (vgl. El Tiempo / Peru 28.2.2012).

[4] Pablo Ospina „Transiciones en Ecuador. La revolución ciudadana, los cambios en el modelo de acumulación, la redistribución y la democracia” (Draft), S.35

[5] CEPAL (2012): Anuario estadístico de América Latina y el Caribe 2011, S.97, Santiago / Chile, http://www.eclac.cl/publicaciones/xml/7/45607/LCG2513b.pdf

[6] Ospina: ebda, S.3

[7] Acosta war maßgeblich an der Ausarbeitung des Yasuní-Projekts beteiligt. Im Rahmen dieses Plans schlug Ecuador der internationalen Gemeinschaft vor, Ölvorkommen im Regenwald nicht auszubeuten, wenn sich die Industriestaaten im Gegenzug verpflichteten, die Hälfte der zu erwartenden Öl-Erlöse in einen Sozial- und Strukturfonds einzuzahlen. Präsident Correa, der zuletzt neue Öllieferverträge mit China abgeschlossen hat, scheint nicht besonders unglücklich darüber, dass dieses Projekt – nicht zuletzt an der Haltung des deutschen Entwicklungshilfeministers Ingo Niebel – scheiterte.

[8] Banco Central de Ecuador: Información Estadística Mensual, No 1922, April 2012, (http://www.bce.fin.ec/home1/estadisticas/bolmensual/IEMensual.jsp).

[9] Ebda.

[10] Ebda.

[11] Secretaría Nacional de Planificación y Desarrollo / René Ramírez Gallego: „El socialismo del sumak kawsay o el biosocialismo republicano“, Quito 2009, http://www.senplades.gob.ec/web/senplades-portal/biblioteca-senplades

[12] Ospina, ebda: S.19.

[13] Der staatliche Anteil an den Gewinnen stieg von 25% auf 65%. Rechnet man hier noch Unternehmenssteuern hinzu, stieg der government take von 29% im Jahr 2004 auf 73% im Jahr 2010 (Carlos Arze Vargas: ”Bolivia: ¿el ‘proceso de cambio’ nos conduce a vivir bien?“, 2012, S.16.)

[14] Vgl. Carlos Arze Vargas: ebda, S.31.

[15] Manifiesto “Por la recuperación del proceso de cambio para el pueblo y por el pueblo”, http://www.praxisenamericalatina.org/9-11/boliviamanifesto.html.

[16] PDVSA: „Informe des Gestión anual 2011“, (http://www.pdvsa.com/interface.sp/database/fichero/free/7364/1568.PDF), S.158.

[17] CEPAL: „Panorama social de América Latina y el Caribe 2011“, S. 17 und 54.

[18] Victor Álvarez: „La transición al socialismo de la Revolución Bolivariana” (Draft), S.34

[19] PDVSA: ebda, S. 131.

[20] Ebda: S. 61.

[21] Álvarez, ebda: S.15f.

 

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