Sozialismus des 21. Jahrhunderts?
(Kommentar in der TAZ, Januar 2007)
Was Präsident Chávez diese Woche an Reformen angekündigt hat, ist zumindest in einer Hinsicht das genaue Gegenteil einer diktatorischen Ermächtigung: Die Regierung kommt damit dem Wunsch der Bevölkerungsmehrheit nach Umverteilung des wirtschaftlichen Reichtums und einer anderen Form der Demokratie nach.
Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Linke jene Reformen umsetzt, die die Rechte machen möchte, aber politisch nicht durchsetzen kann. Rot-grün hat Deutschland zurück auf globale Kriegsschauplätze geführt, Tony Blair die Briten in die imperiale Allianz mit den USA getrieben, und die brasilianische Regierung Lula – um ein lateinamerikanisches Beispiel zu nennen – neoliberale Sozialreformen durchgepaukt. Präsident Chávez hingegen nimmt die Wünsche der Mehrheit offensichtlich ernst: Der Reichtum soll allen zugute kommen, der klientelistische Parlamentarismus von realeren Formen der Demokratie abgelöst werden.
Dass Venezuelas Präsident bei diesem Vorhaben verstärkt mit Dekreten regieren will, ist als solches noch kein Beweis für die Abschaffung von Freiheiten. Man sollte sich nichts vormachen: Der real existierende Parlamentarismus garantiert der armen Bevölkerung auch keine realen Mitsprachemöglichkeiten. Auch die von Chávez angestrebte Verstaatlichung der Elektrizitäts- und Telefonsparte hat mit Unfreiheit nichts zu tun. Ihre Privatisierung hat in Lateinamerika zur Beseitigung von Sozialtarifen geführt und damit die ökonomische Zwangssituation der Ärmsten verschärft. Ja, selbst die Tatsache, dass der oppositionelle Fernsehsender RCTV wahrscheinlich seine Lizenz verlieren wird, muss unter einem anderen Aspekt diskutiert werden. Es ist einfach nicht wahr, dass Meinungsfreiheit mit der Existenz von kommerziellen Privatsendern identisch ist. Sie hat vielmehr mit der Möglichkeit aller Bürger zu tun, sich zu artikulieren und mit unzensierten Informationen zu versorgen. Sollte die bisher privat genutzte Frequenz partizipatorischen Nachbarschafts- und Kulturprogrammen zur Verfügung gestellt werden (wie es der zweite staatliche Sender VIVE TV ist), wäre die Meinungsfreiheit nicht beschnitten, sondern erweitert.
Trotzdem ist die Entwicklung in Venezuela auch kritisch zu betrachten. In den letzten Jahren ist in dem südamerikanischen Land viel von partizipatorischer Demokratie die Rede gewesen. Man hat Gesetze zur Bürgermitverwaltung verabschiedet und so genannte Munizipal- und Kommunalräte geschaffen. Während sich die Gremien auf lokaler Ebene (vor allem in den Armenvierteln) gut entwickeln, sind sie auf höherer Ebene, etwa im Großraum Caracas, nur ein weiterer Apparat mehr. Gleichzeitig beschäftigen sich die Regierungsparteien – wo wie früher die Systemparteien AD und COPEI – intensiv mit dem Verteilen von Listenplätzen und dem Verschieben von Posten. Und auch die Rolle von Chávez ist problematisch. Er hat der armen Bevölkerungsmehrheit Selbstbewusstsein eingeflößt und damit eine produktive, mobilisierende Rolle gespielt. Andererseits verstellt er mit seiner Omnipräsenz aber auch Räume der Debatte und Kritik. In Venezuela dreht sich heute alles um den Präsidenten – was dazu führt, dass Aktivisten und Staatsangestellte in erster Linie ihrem Chef gefallen möchten. Die kleineren und größeren Katastrophen, die bei einem Transformationsprojekt wie dem venezolanischen unvermeidbar sind, können in diesem ‚claqueuristischen’ Klima nicht offen diskutiert werden.
Venezuelas Zukunft wird sich daran entscheiden, ob der soziale Umbau gelingt. Demokratie bedeutet immer auch die Demokratisierung der Ökonomie. Die Gesellschaft muss über die Formen und Ziele von Arbeit und Produktion entscheiden können. Dass in Venezuela in diesem Zusammenhang Schlüsselbereiche vergesellschaftet werden sollen, gebietet der gesunde Menschenverstand. Das große Problem ist jedoch, dass Verstaatlichungen nach kubanischem Vorbild weder Reichtum noch Macht besser verteilen, die meisten der von der Chávez-Regierung geförderten Kooperativen bislang nicht wirklich funktionieren und die Arbeiterselbstverwaltung in den Industriebetrieben eine Farce ist. Chávez hat Recht: Eine andere Welt ist nötig. Weil wir uns nicht in einem herrschaftsfreien Raum bewegen, müssen die Veränderungen auch außerhalb existierender Institutionen durchgesetzt werden. Andererseits: Eine radikale Demokratisierung von Gesellschaft, Medien und Ökonomie, die in Venezuela (und anderswo) so dringend nötig wäre, wird sich nicht machen lassen, wenn Staatschef und revolutionäre Partei als Überfiguren agieren.
Raul Zelik, Schriftsteller, veröffentlichte zu Venezuela zuletzt den wissenschaftlichen Aufsatz „Mit Gilles Deleuze in Caracas“ (Prokla 142). Im Mai 2007 erscheint sein neuer Roman „Der bewaffnete Freund“ im Blumenbar-Verlag.
Kontakt: www.raulzelik.net