Caracas-California, ein Mittelschichtsviertel
Seit drei Jahren, seit Beginn der Sozialreformen der Regierung Chávez, ist im Land vom drohenden Bürgerkrieg die Rede. Manchmal hat man den Eindruck, die Eskalation soll geradezu herbeibeschwört werden. Und tatsächlich waren die Jahre 2002 und 2003 alles andere als entspannt. Wer sich als Anhänger der Opposition im linken Sozialbau-Viertel 23 de Enero zu erkennen gab, riskierte verprügelt zu werden. Umgekehrt verbreiteten die von den Privatsendern hysterisierten Mittel- und Oberschichten in den wohlhabenderen Gemeinden Chacao und Baruta Lynchstimmung gegen Sympathisanten des Transformationsprozesses. „Alle haben Angst“, hieß es - was zum wichtigsten Wahlkampfargument der Bürgerlichen wurde: Chávez habe Venezuela gespalten und dem Land den Frieden genommen.
Jetzt, nach fast drei Jahren Dauermobilisierung, macht Caracas einen geradezu gelassenen Eindruck. Die Opposition führt einen gemächlichen, fast schon lustlosen Wahlkampf. Cacerolazos, das abendliche Schlagen auf Kochtöpfe, und Hupkonzerte im Rhythmus der Oppositionsparolen sind nicht mehr zu hören, an den Laternenpfahlen hängen vergleichsweise wenige Transparente für das Si, also für die Abberufung Chávez’. Selbst auf der Plaza Francia, die vergangenes Jahr noch Schauplatz einer bürgerlichen Dauerkundgebung „gegen das Regime“ war, ist Ruhe eingekehrt.
Manchmal treibt die neue Gelassenheit eigenartige Blüten. Im Mittelschichtsviertel California haben Regierungs- und Oppositionsanhänger ihre Wahlkampfzelte direkt nebeneinander aufgeschlagen. An diesem Sonntagnachmittag sind die rot gekleideten Vertreter des No gegenüber den gelbe T-Shirts tragenden Sympathisanten des Si deutlich in der Mehrzahl. Beide Gruppen stehen am Straßenrand und bieten vorbeifahrenden Fahrzeugen Flugblätter und Aufkleber an. Aus Boxen dröhnt der Salsa-HipHop-Song „Uh, ah, Chávez no se va“, der zur inoffiziellen Hymne des Regierungslagers geworden ist. Eine leichte Mehrheit der Fahrzeuginhaber reckt gegenüber den Gelben den Daumen nach oben und zeigt ihn gegenüber den Roten nach unten - wobei auffällig ist, dass die Chávez-Anhänger nur in den höchsten Fahrzeugklassen, bei den fabrikneuen verspiegelten Chevrolet-Jeeps, die mit ihren vorstehenden Stoßstangen an Panzerwagen der Bourgeoisie erinnern, gegen Null tendieren. Besonders hoch ist der Anteil der Regierungsanhänger in jenen Fahrzeugen, die in Deutschland längst dem TÜV zum Opfer gefallen wären. Aber auch bei den Mittelklasse-Autos steht der Chavismus gar nicht so schlecht da.
Die nebeneinander aufgereihten Wahlkämpfer schwingen ihre Hüften gemeinsam im Rhythmus. Obwohl der Song der Gruppe Madera, der über die Straße hallt, Chávez hochleben lässt, bewegen sich Rote und Gelbe zusammen im Takt. Flugblätter der Rechtspartei Primero Justicia lassen sich eben auch zum Sound des Chavismus verteilen.
Doch in den vergangenen drei Jahren ist zu viel passiert, als man der Volksfeststimmung trauen möchte. Auf dem Heimweg muss ich daran denken, worüber ich am Nachmittag mit Bekannten diskutiert habe: über die Milliarden-Interessen der Oligarchie. Reichtümer dieses Ausmaßes setzt man nicht einfach bei Wahlen aufs Spiel. Ich beschließe, den lustigen Frieden für eine calma chicha, eine Ruhe vor dem Sturm, zu halten.
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Los Sepes, ein Fischerdorf
Dabei gibt es genau genommen bisher eigentlich keinen Grund für einen Bürgerkrieg. Aller Regierungspropaganda zum Trotz hat in Venezuela eben keine Revolution stattgefunden. Es gibt eine neue Verfassung, die direktdemokratische Elemente integriert, und eine Regierung, die die Repression gegenüber der Bevölkerung eingestellt hat, eine gegenüber den USA und der EU eigenständige Außenpolitik verfolgt, Sozialprogramme finanziert und die lateinamerikanische Wirtschaftsintegration fördert. Eine im besten Sinne sozialdemokratische Politik. Aber das macht noch lange keine Revolution, wie man in Los Sepes, einem Fischerdorf westlich von Caracas feststellen kann.
„Sargento maricón“, schreit Doña Juana, die Ladenbesitzerin am Ortseingang über die Straße. Hey, schwuler Polizeiwachtmeister. Der Angesprochene reagiert nicht. Er begleitet einige Frauen, die gerade ihren Unterricht beendet haben, durch die Nacht. Los Sepes liegt einige Kilometer vom Strand entfernt, und wenn die Schülerinnen der Misión Ribas, eines Programms des Zweiten Bildungsweges, um neun Uhr abends aus der Schule kommen, fährt kein Fahrzeug mehr durch die Kakaopflanzugen zu ihren Häusern am Meer. „Warum ruft ihr nicht euren Comandante an, damit er euch einen Helikopter schickt?“ grölt Doña Juana der Gruppe um den Polizisten gut gelaunt zu. „Klappe, escuálida“, stänkert eine der Schülerinnen zurück. Escuálido ist das beliebteste Schimpfwort für Oppositionelle. Es bedeutet so viel wie ‘Häuflein’, obwohl in den vergangen drei Jahren ziemlich deutlich geworden ist, dass ‘das Häuflein’ immerhin aus ein paar Millionen Menschen besteht. „Dass kein Bus fährt, liegt an der Kreisverwaltung, und die ist von euch.“
Doña Juana, die im 1000-Seelendorf Los Sepes zu den Wohlhabenderen gehört, aber im landesweiten Durchschnitt doch eher die Unterschicht repräsentieren dürfte, gibt sich als stolze AD-Anhängerin zu erkennen. „Ich war immer Adeca.“ Die sozialdemokratische Acción Democrática und die christlich-soziale COPEI hatten das Land 40 Jahre unter sich aufgeteilt - Apparate zur privaten Bereicherung, die Politik in eine Mischung aus Klientelismus und sinnentleertem Spektakel verwandelt hatten. „Chávez ist doch Scheiße.“
Die Runde, die gemeinsam mit Doña Juana vor dem Laden sitzt, zählt positive Veränderungen auf: die Alphabetisierungskampagne, das Programm für den Zweiten Bildungsweg, die neuen Gesundheitsposten, und dass unter dieser Regierung die Armen erstmals überhaupt angehört würden. Doch Doña Juana lässt sich von solchen Einwänden nicht beeindrucken. „Das ist alles Indoktrination.“ Die Runde lacht.
Die große Mehrheit der Dorfbevölkerung, erzählt man, werde beim Referendum mit nein stimmen. Doch ansonsten geht hier alles seinen normalen Gang. Die Arbeitsmethoden haben sich in der Gegend schon vor einigen Jahren verändert - vor der Regierung Chávez. Die Fischer fahren seitdem nicht mehr im Auftrag von Chefs, sondern als Gesellschafter zur See. Die Anteile am Fang bemessen sich nach Arbeitskraft und Besitz am Boot. Die Kakaoplantagen betreiben die Bauern als Assoziation. Ein Bauer, der im Gegensatz zur Mehrheit der Dorfbevölkerung talaufwärts Kochbananen und Mais anbaut, berichtet, dass es leichter geworden sei, Agrarkredite zu bekommen. Außerdem könnten alle, die wollten, auf die Schule gehen. Und schließlich ist am Hauptplatz des Dorfes ein sogenanntes Info-Centro entstanden, eine Bibliothek mit kostenlosem Computer- und Internet-Zugang, deren Betrieb allerdings Züge niedrigschwelliger Korruption aufweist. Neben den zehn Computern stehen sechs unbeschäftigte Arbeitskräfte. Es ist okay, dass man Leuten Jobs und Einkommen verschafft, aber noch ‘okayer’ wäre es, wenn sich die Investitionen in etwas Anderem niederschlagen würden als in gelangweiltem Herumstehen. In dieser Hinsicht ist das neue Venezuela dem alten, wo ein einziger Pförtnerposten bisweilen mit 40 Beschäftigten besetzt wurde, ähnlicher als vermutet.
Man könnte es so zusammenfassen: Die Veränderungen sind auch auf dem Land angekommen. In diesem Fischerdorf toben anders als im Süden und Westen Venezuelas keine Landkonflikte. Die Stimmung ist entspannt. Man ist für die Regierung, doch von Revolution ist nichts zu spüren. Nur von etwas mehr Sozialstaat.
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Caracas - 23 de Enero, westliche Innenstadt
Die Sozialbau-Siedlung 23 de Enero ist die linke Bastion in Caracas. Auf den Dächern der 15-stöckigen Sozialbauten wehen die rot-schwarzen und rot-blauen Fahnen linker Organisationen.
Die Blocks hier entstanden in den 1950er Jahren während der Diktatur von Marcos Pérez Jiménez. Das Viertel wurde entworfen, um die Ranchos, die Elendssiedlungen, in der Innenstadt zu beseitigen. Doch der Widerstand v.a. von Sozialdemokraten und Kommunisten führte 1958, vor der Übergabe der neuen Gebäude, zum Sturz der Diktatur. Fast die Hälfte der Wohnungen wurden besetzt, viele von Aktivisten der Bewegung gegen die Diktatur. Die Squatter holten Familien und Bekannte nach und aus der übersichtlichen Sozialbausiedlung wurde ein dichtbesideltes Barrio-Labyrinth wie andere auch. Die Sozialbaublocks erheben sich heute wie Festungen aus einem Meer von unverputzten Ziegelsteinhäuschen. Das Bewusstsein der Revolte gegen die Diktatur blieb dem Viertel allerdings bewahrt. In den darauf folgenden Jahrzehnten war das 23 de Enero immer ein Ort der Unruhe. Im Viertel waren Stadtteilorganisationen, Linksparteien und Guerillagruppen aktiv - genauso wie Banden, die manchmal in Einklang mit der Linken, meist gegen diese territoriale Ansprüche anmeldeten.
Nach neun Monaten Abwesenheit fallen mir die Veränderungen sofort auf. Zwar ist hier weniger Geld investiert worden als in anderen Vierteln, aber auch hier hat sich einiges getan. Mehrere Schulen sind saniert worden, und auch im 23 de Enero sind im Rahmen von Barrio Adentro neue Gesundheitsposten errichtet worden. Die von kubanischen Ärzten betreuten Praxen sind überall nach dem gleichen Modell gebaut. Es sind kleine sechseckige Türmchen, in deren Erdgeschoss Wartezimmer und Behandlungsraum und im oberen Stockwerk die Unterkunft des Arztes untergebracht sind. Barrio Adentro ist das erfolgreichste und v.a. sichtbarste Sozialprogramm der Regierung Chávez. In den Barrios von Caracas hat es die medizinische Grundversorgung flächendeckend verbessert.
Die linken Stadtteilorganisationen, die sich ihre Skepsis gegenüber den Regierungsparteien bis heute bewahrt haben, machen Wahlkampf für das No. Oberhalb von La Cañada ist an diesem Nachmittag eine Veranstaltung von Fundabarrios im Gange. Das Institut führt Sanierungsarbeiten in Armenvierteln durch: Ausbesserung von Häusern, Sicherung von Wegen und Treppen im meist steilen Gelände der Armenviertel, Errichtung von Sportplätzen. Auch hier wird für das No geworben, was streng genommen illegal ist, weil ein Staatsprogramm nicht Wahlkampf betreiben darf, aber in Anbetracht einer Opposition, die immerhin zwei Putschversuche durchgeführt hat, auch nicht besonders verwerflich erscheint.
Ich frage meine Bekannten von der Stadtteilorganisation Coordinadora Simón Bolívar, ob sich ihr Bild von Chávez geändert habe. Ob sie die Kritik, die sie 2002 an ihm hatten, immer noch aufrecht erhalten würden: seine Unentschiedenheit gegenüber der Rechten, seine oft völlig kontraproduktive Verbalradikalität, die caudillistische Eitelkeit. „Man muss anerkennen“, antwortet Lupe, „dass er sich nicht verkauft hat. Und man merkt, dass er wirklich Projekte für die Bevölkerungsmehrheit machen will.“ Dass die Stadtteilorganisation Wahlkampf führt, habe jeoch nichts mit Sympathien für die Regierungsparteien zu tun. Man wirbt für das No, weil man weiß, dass die Rückkehr der alten Eliten mit einer brutalen Repression gegen die sozialen Bewegungen einhergehen würde. Unter Präsident Chávez wird die politische Betätigung zum ersten Mal seit 40 Jahren nicht verfolgt. Es gibt keine politischen Gefangenen, keine systematische Folter und keine bewaffnete Niederschlagung von Demonstrationen mehr. In mancher Hinsicht lohnt es sich mehr, diese Regierung dafür zu unterstützen, was sie nicht tut, als für das, was sie tut.
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Caracas, Universidad Bolivariana
Neu ist auch die Universidad Bolivariana, eine Universität, die v.a. Schulabgängern aus armen Familien das Studium ermöglichen soll. An diesem Morgen findet hier eine Konferenz über „Volksmacht und die Schlacht von Santa Inés“ statt. Der Vertrag von William Izarra, der zum basisorientierten, revolutionären Flügel in der Regierungspartei MVR gehört, macht deutlich, welche eigentümliche Mischung von Ideen die bolivarianische Bewegung auszeichnet. Mystisch-militärisch beruft man sich auf die Kämpfe der Unabhängigkeitsarmeen im 19. Jahrhundert, zitiert die Werte der französischen Revolution, bekennt sich zur maoistischen, kommunistischen und guevaristischen Tradition der venezolanischen Guerillagruppen, beschwört die Befreiungstheologie und ihren Spiritualismus, lässt den Antiimperialismus hochleben und verlangt gleichzeitig den Aufbau eines Volksmacht-Sozialismus, in dem die politische Repräsentation völlig von direktdemokratischen Elementen ersetzt werde. „Wir wollen keine Bürgermeister und Gemeinderäte mehr, sondern Stadtteil-Versammlungen und soziale Kontrolle.“ Die Erfahrungen mit Korruption, aber auch mit der Deformation selbst ernannter Avantgarden haben dazu geführt, dass man in Venezuela neue Wege der Politik einzuschlagen versucht. Ein gesellschaftliches Modell, das sich den Vertretungsansprüchen der Führungen entzieht. Am Ende seiner Rede lässt Izarra die Anwesenden auf das Gemeinwohl und gegen die Korruption schwören. Danach nehmen sich die 300 Zuhörer wie bei einem Gottesdienst gegenseitig in die Arme. Die Grenzen zwischen politischem Kitsch, revolutionstheoretischer Debatte und religiöser Symbolik sind fließend.
Ich frage Gonzalo Gómez von der alternativen Nachrichtenplattform www.aporrea.org, wo er die Bruchlinie innerhalb der extrem heterogenen bolivarianischen Bewegung sieht. Er ist sich nicht sicher. „Es gibt hier keinen eindeutig definierten Lager. Es gibt zwei Grundkonzepte: Zum einen diejenigen, die nur Reformen innerhalb des Systems anstreben, einige soziale und demokratische Verbesserungen. Und zum anderen die, die tatsächlich eine neue Art von Gesellschaft wollen, also so etwas wie Volksmacht. Bisher haben sich diese Pole nicht klar herausgebildet. In den Regierungsparteien MVR, PPT und PODEMOS ist eher die erste, reformistische Option tonangebend. Aber auch dort hast du Anhänger von einer grundlegenden Veränderung. Genauso in der Armee. Hier ist eben alles sehr durcheinander.“
Und das Referendum? Wenn es nicht zum Wahlbetrug komme, so Gómez, wird die Opposition verlieren.
Raul Zelik veröffentlichte zuletzt „made in venezuela - notizen zur bolivarianischen revolution“ (Verlag Assoziation A)