In den Medien wird die jüngere Entwicklung Kolumbiens gemeinhin als Erfolgsgeschichte gelesen. Während der Präsidentschaft von Álvaro Uribe (2002-2010) habe sich die Sicherheitslage spürbar verbessert, heißt es, das Land sei für ausländische Investitionen attraktiver geworden und dementsprechend auch die Wirtschaft gewachsen. Richtig an dieser Erzählung ist, dass sich Kolumbien bei ausländischen Investoren heute wieder größter Beliebtheit erfreut.
Siemens hat in der Nähe der Hauptstadt Bogotá einen der modernsten lateinamerikanischen Produktionsstandorte errichtet, von dem aus der gesamte lateinamerikanische Markt (mit Ausnahme Brasiliens) beliefert werden soll (DW-Online 28.7.2011), und die transnationalen Bergbau- und Ölkonzerne reißen sich um kolumbianische Förderlizenzen. Anders als vor zehn Jahren, als ausländische Unternehmen fast sicher mit der Entführung ihrer Manager rechnen mussten, sind die Risiken für das leitende Personal heute überschaubar. Die Wohnviertel der Oberschicht sind sicherer geworden, die Überlandstraßen, 2002 noch in den Händen der Guerillas, heute wieder gut befahrbar.
Auf den ersten Blick scheint die Sicherheitspolitik der Regierung Uribe, die von Washington mit 7 Milliarden US-Dollar gesponsert wurde (vgl. Rojas 2008), also tatsächlich Resultate gezeitigt zu haben. Die ausländischen Direktinvestitionen in Kolumbien sind von 1,7 Milliarden US-Dollar im Jahr 2003 auf 10, 6 Mrd. US-Dollar 2008 hochgeschnellt (Bonilla 2011: 60), die Arbeitslosenquote von 16,7% im Krisenjahr 2000 auf 10,6% im Jahr 2010 gesunken (ebda: 51).
Verlagerung der Gewalt
Bei einer genaueren Betrachtung fällt eine Bilanz dieser Politik allerdings längst nicht so eindeutig aus. Von der Wirtschaftsdynamik haben fast ausschließlich die Ober- und Mittelschichten. Zwar hat auch in Kolumbien der Anteil der Armutsbevölkerung abgenommen[1], doch der Rückgang liegt deutlich unter dem lateinamerikanischen Durchschnitt (CEPAL 2011: 13). Mit einem GINI-Koeffizienten von 0,58 (Bonilla 2011: 51) ist die Einkommensungleichheit Kolumbiens die größte in ganz Südamerika (CEPAL 2011: 15). Und eine Besserung ist nicht in Sicht: Die meisten Investitionen sind in den Rohstoffsektor, der kaum Wertschöpfung generiert.
Auch die Sicherheitspolitik war sehr viel weniger erfolgreich als gemeinhin unterstellt. Kolumbien mag für Investoren, Touristen und Viehzüchter sicherer geworden, in den Armenvierteln und auf dem Land hingegen sind neue Gewaltdynamiken in Gang gesetzt worden. Deutlich zeigt sich das in Medellín, wo die Mordrate nach einer Phase relativer Ruhe seit 2006 – also noch während Uribes Amtszeit – stark angestiegen ist und mittlerweile wieder bei über 2000 Morden jährlich liegt (Paz con Dignidad 2011: 34). Aber auch in jenen ländlichen Gebieten, in denen die Uribe-Regierung besonders große Anstrengungen zur Guerillabekämpfung unternahm, lässt sich eine Eskalation der Gewalt beobachten.
Die Regierung in Bogotá erklärt diese Entwicklung mit dem Erstarken krimineller Banden – der so genannten BACRIMS. Nach der Demobilisierung der AUC-Paramilitärs (Autodefensas Unidas de Colombia), die 2003-2006 im Rahmen von Verhandlungen ihre Waffen abgaben, hätten sich viele der insgesamt 30.000 entwaffneten Paramilitärs der organisierten Kriminalität angeschlossen. Da die Banden um die Kontrolle von Stadtvierteln und Drogenumschlagsplätzen konkurrieren, ereigneten sich besonders viele Gewaltverbrechen.
Diese Darstellung ist nicht falsch, unterschlägt jedoch, dass bereits die AUC-Paramilitärs, die zwischen 1994 und 2006 Zehntausende von Morden an Kleinbauern, Gewerkschaftern und Linken begingen, letztlich eine BACRIM waren. Ihre Anführer stammten fast ausnahmslos aus den Reihen der organisierten Kriminalität, so etwa die berüchtigten Castaño-Brüder Carlos, Fidel und Vicente (die einst zum Umfeld des Drogen-Capos Pablo Escobar gehört hatten) oder die Nummer 3 der AUC „Don Berna“, der seine Karriere als Auftragsmörder des Medellín-Kartells begann und bis vor Kurzem als wichtigster Drogenhändler Kolumbiens galt. Politisch waren die Paramilitär-Gruppen nur insofern, als sie für Geheimdienste, Unternehmer und Militärs politische Auftragsmorde verübten. Im Gegenzug konnten sie unbehelligt ihren illegalen Geschäften nachgehen.
Die Sicherheitspolitik der vergangenen Jahre stellt sich vor diesem Hintergrund in ganz anderem Licht dar. Wie mittlerweile mehrere Zeugen ausgesagt haben (vgl. Washington Post 24.5.2010, Semana 7.9.2011), war die Familie von Ex-Präsident Uribe seit den 1980er Jahren am Aufbau paramilitärischer Gruppen beteiligt. Das Sicherheitsmodell Uribes beruhte letztlich somit auf einer stillen Allianz zwischen Staatsmacht und organisierter Kriminalität. Auf diese Weise gelang es zwar, die Guerilla zurückzudrängen, und Uribe sorgte auch dafür, die AUC-Führung ab 2006 auszuschalten. Doch insgesamt hat diese informelle Sicherheitspolitik die organisierte Kriminalität gestärkt. In Uribes Heimatstadt Medellín ist dieser Zusammenhang offensichtlich: Die Staatsmacht griff 2002 auf die organisierte Kriminalität zurück, um die von Guerillamilizen kontrollierten Armenvierteln zu erobern (Los Angeles Times 25.3.2007, El Tiempo 23.6.2009). Seit die Guerilla aus der Stadt vertrieben ist, befinden sich die entsprechenden Viertel in den Händen von Banden und Mafia-Strukturen.
Der Politikwechsel unter Präsident Santos
Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, warum der seit 2010 amtierende Präsident Juan Manuel Santos so deutlich auf Distanz zu seinem Vorgänger gegangen ist. Obwohl Santos Álvaro Uribe als Verteidigungsminister und Chef der Regierungspartei diente, leitete er – für alle Beobachter überraschend – unmittelbar nach der Wahl einen Politikwechsel ein.
Santos beendete die für Uribe so charakteristische Polarisierung und bildete seine Regierung unter Einschluss aller Parteien mit Ausnahme der Linkspartei Polo Democrático Alternativo. Weiterhin brachte der Präsident ein Gesetz zur Rückgabe geraubten Landes auf den Weg (das besonders die Interessen des von Uribe repräsentierten Großgrundbesitzes trifft), kündigte an, besonders gewerkschaftsfeindliche Leiharbeitsregelungen aufzuheben, und erkannte die Existenz eines internen bewaffneten Konflikts an – was die Tür zu Friedensgesprächen mit der Guerilla wieder einen Spalt weit öffnet.
Was Ex-Präsident Uribe jedoch besonders verstört, ist die von Santos verfolgte Annäherung an die lateinamerikanischen Nachbarstaaten. Hatte Uribe keine Gelegenheit ausgelassen, um den Konflikt mit Venezuelas Staatschef Hugo Chávez anzuheizen, pflegt Santos heute demonstrativ gute Beziehungen zu den Links- und Mitte-Links-Regierungen auf dem Subkontinent. Der außenpolitische Kurswechsel drückt sich auch darin aus, dass die oppositionelle kolumbianische Sozialdemokratin María Emma Mejía auf Vorschlag Bogotás zur Generalsekretärin der südamerikanischen Staatengemeinschaft UNASUR gewählt wurde.
In Anbetracht dieser Veränderungen haben europäische Medien von einem „Linksruck“ in Kolumbien gesprochen. Doch der politische Kurswechsel unter Santos ist machtpolitischen Kalkülen geschuldet.
Zum einen stammt Santos, anders als der die Provinzeliten vertretende Uribe, aus der traditionellen Bogotaner Oberschicht. Der Großonkel des heutigen Präsidenten war bereits in den 1930er Jahren Staatschef, der Santos-Familie gehört der wichtigste Medienkonzern des Landes (mitsamt der Tageszeitung El Tiempo) und als Politiker saß Juan Manuel Santos seit 1991 unter fast jedem Präsidenten mit am Kabinettstisch: als Außenhandels-, Finanz- und schließlich Verteidigungsminister. Vor diesem Hintergrund geht es Santos offensichtlich auch darum, die mit dem Paramilitarismus erstarkten Provinz-Eliten in ihre Schranken zu verweisen.
Zum Anderen begreift Santos das Staatlichkeitsproblem in Kolumbien offensichtlich umfassender als sein Vorgänger. Setzte Uribe in erster Linie auf eine militärische Strategie, scheint Santos die Gefahren einer fortgesetzten Militarisierung des Landes zu erkennen. Mit jährlich über 4% des Bruttoinlandsprodukts steckt Kolumbien mehr in seine Militärs als jedes andere lateinamerikanische Land (vgl. Weltbank 2011)[2]. Da die Pensionskosten für die Militärs zurückgestellt werden, zeichnet sich ein gigantisches Haushaltsdefizit in der Zukunft ab. Zudem lässt sich das historische Legitimitätsdefizit des kolumbianischen Staates nicht mit Waffengewalt, sondern nur durch eine Sozialpolitik bewältigen.
Was die außenpolitische Kurskorrektur angeht, so kann man schließlich davon ausgehen, dass die Regierung Santos einen Hegemonieverfall Washingtons beobachtet. Die Annäherung an Brasilien, die südamerikanischen Nachbarstaaten und den asiatischen Raum zielt darauf ab, diese einseitige und ökonomisch unsinnige Bindung zu diversifizieren. Santos hat erkannt, dass Uribes Hardlinertum Kolumbien von den wichtigsten Absatzmärkten kolumbianische Industrieprodukte abzuschneiden drohte.
Das Alles ändert jedoch nichts daran, dass Santos in der wirtschaftspolitischen Kontinuität Uribes steht. Die Strategie bleibt neoliberal: In diesem Sinne treibt die Santos-Regierung eine Teilprivatisierung der Hochschulen und eine weitere Öffnung des Landes gegenüber transnationalen Unternehmen voran, die v.a. in Bergbau und Monokulturen investieren wollen.
Diese Strategie impliziert weiterhin hohe sozialen und ökologischen Kosten. Dem kolumbianischen NGO-Netzwerk Reclame zufolge haben Bergbauunternehmen für 40% des kolumbianischen Territoriums Schürflizenzen beantragt[3]. Und im Zweifelsfall wird diese Entwicklungspolitik auch weiterhin mit Waffengewalt durchgesetzt: Die Morde an Kleinbauern und Gewerkschaftern gehen weiter. Anfang September wurde der Pfarrer der Minenstadt Marmato José Reynel Restrepo von Unbekannten ermordet. Restrepo war der wichtigste Sprecher einer lokalen Bürgervereinigung gegen die Ausbeutung der örtlichen Goldvorkommen durch transnationale Unternehmen.
Literatur
Bonilla, Ricardo (2011): Apertura y reprimarización de la economía colombiana, in: Nueva Sociedad Nr.231, Buenos Aires
Paz con Dignidad (2011): Informe de derechos humanos en Colombia 2010, http://www.pazcondignidad.org/files/Investigaci__n%20BAJA.pdf, 20.9.2011
Ramírez, Socorro (2011): El giro de la política exterior colombiana, in: Nueva Sociedad Nr.231, Buenos Aires
Rojas, Diana Marcela (2009): El taller del imperio global. Análisis de la intervención de Estados Unidos en Colombia (1998-2008), in: Análisis Político no 65, Bogotá
Vargas, Alejo / García Pinzón, Viviana (2008): Seguridad ciudadana y gasto público, reflexiones sobre el caso colombiano, in: América Latina Hoy 50, http://redalyc.uaemex.mx/pdf/308/30810929003.pdf, 20.9.2011
Weltbank (2011): Open data, http://datos.bancomundial.org/indicador/NY.GDP.MKTP.KD.ZG/countries?page=1, 20.9.2011
[1] Der Anteil der Armutsbevölkerung sank von 54,2% im Jahr 2002 auf 45,7% im Jahr 2009; auch der Anteil der in extremer Armut lebenden Bevölkerung ging zurück: von 19,9% auf 16,5% (CEPAL 2011: 13).
[2] Vgl. die Weltbank-Daten unter http://datos.bancomundial.org/indicador/MS.MIL.XPND.GD.ZS, 20.9.2011.
Werden andere Sicherheitsausgabe mitberücksichtigt, liegt die Zahl sogar bei über 5% (vgl. Vargas / García 2008: 45)
[3] Aufruf zum zweiten Treffen des „Red Colombiana Frente a la Gran Minería Transnacional“ zum 8.-9.4.2011 in Bogotá, vgl. http://deslinde.org.co/Segundo-Encuentro-Nacional-de-la.html, 20.9.2011