Poder Popular - Volksmacht, Gramsci und die kolumbianische ELN
Keine andere Idee faszinierte die europäischen Solidaritätsbewegungen der achtziger Jahre in gleichem Maße an Lateinamerika wie die Vorstellung von "befreiten Gebieten". Der Gedanke, daß im Rahmen die Befreiungsbewegungen in ihren Regionen Selbstverwaltungsstrukturen aufbauten, schien mit dem unseligen Avantgarde-Anspruch der kommunistischen Parteien zu brechen und hatte darüberhinaus gewisse Übereinstimmungen mit den Autonomievorstellungen des westeuropäischen Linken. In keinem anderen Land Lateinamerikas verteidigt die Guerilla des Poder Popular, der Volksmacht, nun so lange wie in Kolumbien, in keinem anderen Land zeigen sich aber auch so deutlich die Grenzen eines Konzepts, das versucht die Gesellschaft innerhalb des bestehenden Systems zu verändern. Die soziale und politische Opposition ist zum Hauptangriffspunkt der Armee geworden. Die Selbstorganisierung der Bevölkerung ist wie ein Tablett, auf dem sich Oppositionelle selbst zum Abschuß freigeben. Es gibt kein richtiges Leben im Falschen???
Der Militarismus der ersten Guerillas
Für undogmatische Linke aus Westeuropa war Poder Popular der Lieblingsaspekt an der lateinamerikanischen Guerilla. Die Idee, den Aufbau eigenständiger politischer und sozialer Organisierung der Bevölkerung zu fördern, klang nach einem Schuß Anarchismus bei den Guerillas und erinnerte an den Wunsch deutscher Linker, alternative Lebensformen zu entwickeln. "Utopien lebbar machen" - so idiotisch das auch klingen mag, es verkörperte ein aufrichtiges Bedürfnis nach Veränderungen, die (anders als der Realsozialismus) über die abstrakt-staatlichen Ebene hinausgehen. Nicht nur Eigentums- und Staatsformen, das ganze Leben sollte geändert werden, und zwar sofort.
In Kolumbien entwickelte sich das Konzept des Poder Popular vor allem als Antwort auf die militaristische Vorgeschichte der Guerillas, im Besonderen der ELN. Diese Organisation, die 1964 von einer Gruppe Studenten mit Unterstützung Kubas gegründet wurde, war lange eine klassische Repräsentantin der guevaristischen Guerilla. Den theoretischen Schriften des Che zum Guerilla-Krieg folgend, ging man davon aus, daß der Aufbau einer bewaffneten Gruppe wie ein Brandherd wirke. Der Aufstand der Bevölkerung sei dann nur noch eine Frage der Zeit. So wurden alle Kräfte darauf verwendet, die Landguerilla aufzubauen. Städtische Gruppen in der Studenten-oder Arbeiterbewegung besaßen vor allem die Aufgabe, die Guerilleros auf dem Land logistisch zu unterstützen. Politische Arbeit beschränkte sich auf Propaganda gegen die Regierung und für die eigene Organisation.
Doch was auf Kuba funktioniert hatte, weil die Karibikinsel auch ohne Castros und Guevaras Bewegung 26. Juli in schwerer Unruhe begriffen war, scheiterte auf dem Rest des Kontinents. Die erwarteten schnellen Volksaufstände blieben aus, die Guerillatruppen blieben isoliert und zerfleischten sich, wie im Fall der kolumbianischen ELN selbst: Politische Entscheidungen wurden autoritär von oben gefällt und Dissidenten immer wieder standrechtlich erschossen. Der Traum der Befreiung verwandelte sich für die gescheiterten Befreier in einen wahrhaften Alptraum aus Militarismus und Isolation. (Bei der anderen großen Guerillaorganisation Kolumbiens, den FARC, ist der Fall etwas anders: Die FARC, die als militärischer Arm der Kommunistischen Partei gegründet wurden und in Land selbst deswegen lange Zeit als reformistisch galten, waren zwar nicht weniger autoritär und avantgardistisch als die ELN, aber im Mittelpunkt der Strategie stand hier nicht die Guerilla, sondern die politische Partei, die KP).
Demokratisierung und politischer Aufbruch
Vor diesem Hintergrund setzte in der ELN Ende der 70er Jahre eine gründliche Umorientierung ein. Der inzwischen tote ELN-Verantwortliche Manuel Pérez:"Wir waren eine militärische Struktur. Das militärische setzte sich durch, interne Probleme wurde in diesem Stil gelöst, und auf dem Treffen 1978 wird das viel diskutiert. Um etwas zu ändern, haben wir uns die Fehler der Einpersonen-Führung angeschaut, und als positives Gegenbeispiele andere revolutionäre Erfahrungen untersucht: den demokratischen Zentralismus, die kollektive Führung, die Arbeitsplanung." (López Vigil 1989, S. 153). Selbst die Leninschen Organisationskriterien sind für die Guerillas der 70er Jahre eine demokratische Entdeckung.
"Der andere wichtige Punkt war, daß wir - ohne unsere militärische Struktur aufzugeben - politischer wurden. Die militärische Aktivität war von nun an mit der politischen verbunden... Bis dahin war die politische Arbeit dazu da gewesen, Unterstützung für die Guerilla zu bekommen, aber nicht, um die Organisation der Bevölkerung bei der Verteidigung ihrer eigenen Interessen zu untestützen... Bei dem Wunsch, uns stärker den Notwendigkeiten des Volks und seiner Organisation anzunähern, haben wir sogar ein wenig übertrieben. Wir sagten: Okay, als erstes müssen wir sozio-ökonomische Untersuchung der Regionen machen. Und das waren echte Untersuchungspläne! Charakterisierung der Zonen und ihrer sozialen Widersprüche... Unsere Unkenntnis der Realität war so groß, daß wir auf befreundete Soziologen zurückgriffen, die sich in Untersuchungstechniken auskannten und sie in die Kommissionen eingliederten. Wir verwandelten uns in soziologische Studiengruppen! Wir hatten Archive voll mit Karteikarten. Enorm! Und war wir gezwungen waren, ziemlich mobil zu sein, waren diese Riesenarchive auch mobil. Was wir schleppten mußten..."
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Das Volksmachtkonzept in Kolumbien war (wie auch in Zentralamerika) zu keinem Zeitpunkt antileninistisch oder gar anarchistisch gemeint. Es ging um eine Kritik eines Guerilla-Modells, in dem nicht-bewaffnete Kämpfe (ganz ähnlich wie in der Politik der RAF nach 1975) nicht auftauchten. Folgerichtig entdeckte die ELN -oder richtiger: derjenige Teil der Organisation, der die theoretischen Debatten bestimmte (der Wunsch, daß solche Diskussionen von allen geführt werden, war zwar richtig, aber auch hier nur selten Realität) - im Verlauf der 80er Jahre Antonio Gramsci. Man verabschiedete sich von der allzu simplen Vorstellung, wonach im Kapitalismus nur zwei Klassen bestehen (Arbeiter und Kapitalisten oder noch dümmer: Mensch und Schwein), und beschrieb die Gesellschaft als Gefüge von Subklassen, die Verbindungen miteinander eingehen. Wie Gramsci untersuchte, welche sozialen Gruppen Bündnisse eingegangen waren oder eingehen könnten und wer sich zu "Machtblöcken" formiert hatte. Das Ziel war nicht mehr allein der Sturz der Regierung, sondern der Aufbau von Gegenstrukturen, die nach und nach Machtvakuen besetzen sollten. Was Gramsci als Zerstören und Neuaufbauen bezeichnet hatte - die Konfrontation mit dem Regime und die Arbeit an neuen sozialen Strukturen, fand bei der ELN seine Parallele im Poder Popular. 1989 machte der II.ELN-Kongreß mit dem programmatischen Titel "Volksmacht und neue Regierung" diese Überlegungen zur offiziellen Politik der Organisation:
"Das zentrale Ziel unserer Massenlinie ist die Entwicklung der Volksmacht, wobei an erster Stelle zu berücksichtigen ist, daß wir dies unter Kriegsbedingungen durchführen. Wir glauben, daß die Volksmacht ihren entwickeltsten Ausdruck in der Zerstörung des alten Staates und im Aufbau eines neuen besitzt. Aber gleichzeitig ist auch klar, daß man von jetzt an den Willen der Massen zur Macht stärken muß, in dem eigenständige und autonome Organisationsformen aufgebaut und Formen der Selbstregierung geschaffen werden... Die neue Legitimität stärken, während die oligarchische Legitimität erodiert."
Anders als bei der alternativbewegten europäischen Linken ging es bei dem Konzept nie einfach um den Aufbau von neuen sozialen Beziehungen "im Falschen". Die kolumbianischen Guerilleros waren überzeugt, daß sich neue, demokratischere Machtstrukturen nur in der Konfrontation entwickeln ließen. Dabei wurden auch institutionelle Spielräume (Kommunalräte, legale politische Organisationen etc.) nicht außer acht gelassen:
"Die Volksmacht wird mit Aktionen entwickelt, die einen doppelten Zweck verfolgen: Es soll nach Lösungen auf die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Volkes gesucht werden, indem der Oligarchie gegenüber Forderungen durchgesetzt werden, aber gleichzeitig ist es auch das Ziel Selbstverwaltungsformen der Gemeinschaft zu stärken.
- Das einzig sichere Mittel, um der Oligarchie gegenüber Terrain gutzumachen, ist, Kämpfe hervorzubringen, die das Volk in der Konfrontation erziehen und gleichzeitig Selbstverwaltungsformen entwickeln, die den Massen helfen, Selbstvertrauen zu gewinnen und mit den Konzepten der bürgerlichen Demokratie zu brechen.
- An den institutionellen Spielräumen wird mit dem Ziel teilgenommen die oligarchischen Pläne zu stören und zu zersetzen, um gleichzeitig eigene Räume der Massen aufzubauen, die von ihnen selbst geleitet und als Pfeiler der neuen Legitimität begriffen werden."
(UCELN 1989, S.80-81)
Vollversammlungen, linke Bürgermeister, politische Organisationen
Die Entwicklung von eigenen sozialen Strukturen war nicht von der Guerilla eingeleitet worden. Die gesamten 80er Jahre waren in Kolumbien waren von der reger Aktivität autonomer, d.h. in diesem Fall unabhängiger sozialer Bewegungen bestimmt. Die Guerillaorganisationen hatten sich an der Entwicklung der Bauernverbände, Stadtteilorganisationen, Basisgemeinden, Arbeitsplatzkämpfe und Studentenproteste zwar beteiligt, aber sie nicht erfunden. Das Ziel des Poder Popular war nun, den soziale Bewegungen die Legitimität als eigentliche Autorität im Land zu verschaffen. In den Dörfern, Stadtteilen und Betrieben förderte man den Aufbau von räteähnlichen Strukturen, ohne jedoch die klassischen Formen von politischer Vertretung völlig abzulehnen. Die Stärkung von Gewerkschaften und autonomer Arbeitsplatzorganisationen ging ebenso Hand in Hand wie sich auch die Wahl linker Bürgermeister und Gemeinderäte bei den Kommunalwahlen mit dem Aufbau von Dorfversammlungen verbinden ließ. Kritisch war die ELN - im Gegensatz zu KP und FARC - hingegen bei der Frage, ob sich auch das Parlament in ein Forum der radikalen Opposition verwandeln lasse. Während man 1990 das Pilotprojekt startete in Einflußgebieten die Wahl linker Bürgermeister zu unterstützen, blieb man auf höherer Ebene für den aktiven Wahlboykott. Stattdessen verlangte die ELN den Aufbau einer Asamblea Nacional Popular, eines Gegenparlaments der sozialen Bewegungen und der politischen Opposition, das nicht zufällig den gleichen Namen wie das kubanische Parlament trug.
Der Aufbau des Poder Popular war und ist keineswegs marginal. In etwa 600 der 1000 Landkreise Kolumbiens gibt es deutliche Guerillapräsenz. Ende der 80er Jahre dürften etwa 50-80 Bürgermeister Kolumbiens aus der radikalen Linken gekommen sein, in Hunderten von Gemeinden gab es starke linke Präsenz, d.h. auch basisdemokratische Parallelstrukturen (z.B. Dorfversammlungen, die neben den Gemeinderäten funktionierten) und im ganzen Land oppositionelle soziale Bewegungen, die auch den Lebensalltag verändert haben.
Doch offensichtlich haben nicht nur Guerilleros in den 80ern Antonio Gramsci entdeckt. Im Washingtoner Santa Fe II-Dokument, das zur Amtsübernahme der Bush-Administration 1988 erstellt wurde und als Leitlinie für die Lateinamerika-Politik des republikanischen Präsidenten diente, wurde ausführlich auf die Gefahr der gramscianischer Strategie auf dem Subbkontinent eingegangen. Die größte Gefahr, so hieß es im Dokument, gehe von den Versuchen der lateinamerikanischen Linken aus, die Legitimität bestehender Institutionen auszuhöhlen und nach eigener kultureller und sozialer Hegemonie zu streben. Das Dokument, das von Kolumbien als dem "El Salvador der 90er Jahre" sprach, machte sich sogar die Mühe, seiner Leserschaft den kommunistischen Theoretiker aus Italien ausführlich vorzustellen. Noch mehr als bis dahin rückten damit die Pfarrer, LehrerInnen, StadtteilaktivistInnen, linken Abgeordneten etc. ins Fadenkreuz der us-amerikanischen Repressionsstrategen.
Die Strategie des Terrors
In Einklang mit den in Fort Bragg und Fort Benning geschulten Richtlinien zur Aufstandsbekämpfung in Lateinamerika und mit aktiver Unterstützung ausländischer Söldner (gesichert ist die Präsenz von ehemaligen britischen und israelischen Geheimdienstagenten) wurden in Kolumbien ab 1983, parallel zur Entwicklung der sozialen Bewegungen, hunderte von paramilitärischen Gruppen aufgebaut. Finanziert und ausgerüstet wurden diese Todesschwadrone geminsam von Armee, Bananenunternehmen, Drogenhändlern und Viehzüchtern. Die Angriffe richteten sich sowohl selektiv gegen die AnführerInnen der Opposition als auch allgemein gegen die Bevölkerung von als aufsässig geltenden Dörfern und Stadtteilen.
Allein die sozialdemokratische Wahlallianz Unión Patriótica hat seit 1984 an die 4000 AktivistInnen verloren, viele von ihnen BürgermeisterInnen oder Abgeordnete. In Dörfern, in denen Vollversammlungen zusammentreten oder auch einfach nur kooperative Einrichtungen existieren, werden Massaker verübt, in den als links geltenden Stadtteilen Bogotás und Medellíns kommt es häufiger vor, daß Unbekannte fußballspielende Jugendliche auf einem Bolzplatz einfach mit der Maschinenpistole ummähen.
Das soziale Geflecht, das eine Ahnung einer anderen, solidarischeren Gesellschaft vermitteln könnte und Ausdruck eben jenes Poder Popular ist, wird stets zum ersten Angriffsziel der Paramilitärs. So wurde im vergangenen Oktober Osten der Provinz der Antioquia, eine ganze Ortschaft gesperrt und durckämmt: 500 Menschen wurden festgenommen, 50 von ihnen ermordet. Als die British Petroleum 1996/97 die Pipeline Cusiana-Coveñas durch das als "rote Zone" geltende Gebiet um Segovia (ebenfalls Antioquia) verliegen ließ, waren Mitglieder des örtlichen Menschenrechtskomitees und Stadtteilorganisationen Hauptziel der Anschläge. In einem Jahr zählte man etwa 140 Opfer, und das in einer Stadt, die kaum 50.000 EinwohnerInnen zählt.1 Ähnliche Beispiele ließen sich dutzendweise aneinanderreihen.
Das Volksmachtkonzept ist so gesehen eindeutig. Anstatt den Aufbau einer neuen Gesellschaft zu fördern, hat es dazu geführt, daß eine bis dahin verborgene Opposition öffentlich und damit angreifbar geworden ist. Ein einziger Informant der Armee oder Paramilitärs in Ortschaften und Stadtteilen reicht aus, um oppositionelle Strukturen durchsichtig zu machen. Der einzige Ausweg wäre eine reale Autonomie von Gebieten in dem Sinne, daß der Armee der Zugang völlig gesperrt wird, doch das ist einer Guerilla praktisch unmöglich, besteht doch ihre Stärke darin, daß sie keine festen Positionen hält. In den letzten Wochen hat sich dieses Problem erneut bestätigt. In Südkolumbien, in dem von der Armee für die Verhandlungen geräumten Gebiet, einer Region immerhin etwa von der Größe der Schweiz, drohten die Paramilitärs mit Massakern. Selbst hier, wo seit vergangenem November nur noch die Guerilla, in diesem Fall die FARC, auf den Straßen patrouillieren, wird die Bevölkerung also einen Teufel tun, offen die eigenen Meinung zu sagen oder sich öffentlich zu organisieren. Im Ernstfall ist die Guerilla nicht in der Lage ein Strafexpedition in das 40.000 Quadratkilometer große Gebiet zu verhindern.
Noch kritischer ist die Lage im wichtigsten Goldfördergebiet Kolumbiens, in der Provinz Bolívar (etwa 300 Kilometer nördlich Bogotás). Mitte April entführte die ELN ein Flugzeug in das Gebiet und forderte Gespräche mit der Regierung Pastrana. Doch dieser verweigerte nicht nur die Kontaktaufnahme, sondern ließ Armee und Paramilitärs aufmarschieren. Als die Militärs nicht in der Lage in das von der Guerilla gehaltene Gebiet vorzudringen, wurden die Ortschaften zwischen den Städten San Pablo und Simití bombardiert. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen wurden - bei völliger Nachrichtensperre in den Medien - mehrere Tausend Flüchtlinge von Lebensmittellieferungen abgeschnitten und aus der Luft angegriffen. Das Patt hielt wochenlang an und erzeugte ein neues Problem. Sowohl die Dörfer als auch die Flüchtlinge, die sich in diese Richtung (und nicht in die von der Armee besetzten Städte) zurückggezogen haben, sind gebrandmarkt. Jede kommunale Einrichtung in den betroffenen Ortschaften ist von nun an erklärtes Angriffsziel der Militärs.
Poder militar statt Poder Popular?
Irreguläre Armeen (zumal ohne ausländische Unterstützung) können offensichtlich keine autonomen Gebieten verteidigen. Sobald jedoch ein Konflikt eskaliert, verwandelt sich die soziale oder politische Organisierung der Bevölkerung in das wichtigste Angriffsobjekt der Armee. Wenn die Guerilla nicht zu fassen ist, wird das soziale Geflecht zerschlagen, aus dem sich die Opposition nährt. Der einzige zivile Schutz dagegen wäre eine internationale Öffentlichkeit, die wie in El Salvador in den 80er Jahren den schmutzigen Krieg zumindest bremsen kann. Doch das wird immer schwieriger: Zur integralen Kriegsführung des anbrechenden Jahrtausends gehört auch eine repressive Medienpolitik: gezielte Falschinformation, Informationssperren, Bedrohung kritischer JournalistInnen, Aufbau systemnaher NRO, Unterstützung der allgemeinen Entpolitisierung etc.
Als einziger Ausweg bleibt die Rückkehr in die Klandestinität. In den kolumbianischen Guerillas wird es heute als Fehler begriffen, sich in den 80er Jahren so viel öffentlich gemacht zu haben. Politische Organisierung muß wieder unter konspirativen Voraussetzungen gemacht werden, das heißt: Kleingruppen statt Vollversammlungen, kein öffentliches Auftreten, beschränkter Zugang zu Informationen. Aber vor allem bedeutet es: die Militarisierung von sozialen Organisationen. Wenn sich heute Bauern und StadtteilbewohnerInnen zusammenschließen, dann oft, um eigene Sicherheitsinteressen durchzusetzen. Die eigene Bewaffnung ist in vielen Landesteilen der einzige Schutz gegenüber möglichen paramilitärischen Überfällen. Was an öffentlichen Bewegungen in den vergangenen zehn Jahren zerschlagen wurde, hat sich zu einem Teil in bewaffneten Milizen wiedergefunden. Das heißt nicht, daß es keine Massenmobilisierungen mehr geben würde: Die Bauern- und Gewerkschaftsproteste in Kolumbien im Oktober 1998 und April/Mai 1999 haben Hunderttausende auf die Straßen gebracht. Doch die Organisierung dieser Menschen ist sporadischer. Man demonstriert und verschwindet wieder.
Der Aufbau neuer sozialer Beziehungen und demokratischer Machtstrukturen, also des Poder Popular, leidet sichtlich unter solchen Voraussetzungen. Direkte Demokratie ist ohne öffentliche Debatten nicht vorstellbar. Natürlich bleibt die Hoffnung, daß die noch existierenden Organisationen ihren Anspruch weiter ernst nehmen, doch da bleiben eigentlich nur noch zwei große Pole: die vergleichsweise linken Gewerkschaften (die aber auch von kleinen Kernen von AktivistInnen bestimmt sind) oder die Guerilla selbst, doch die wiederum besitzt bei allen Demokratisierungsbemühungen eine militärische Dynamik.
Wie man es auch dreht und wendet: Autonomie, die ein herrschendes System grundsätzlich in Frage stellt, wird ab einem bestimmten Punkt zerschlagen werden. Es gibt kein richtiges Leben im Falschen. Andererseits wird es aber auch nie "Richtiges" geben, solange man nicht versucht, es im Falschen zu antizipieren. Die Quadratur des Kreises als die Frage fürs nächste Jahrhundert.
1Der Sicherheitsplan für den Pipeline-Bau war vom britischen Sicherheitsunternehmen Defense System Colombia erarbeitet worden, das von ehemaligen MI-5 Geheimdienstleuten gegründet wurde und von der britischen Botschaft in Bogotá protegiert wird. Involviert wardesweiteren der paraguyaische Sicherheitsexperte Oscar Ricardo Zayas Marini, der dem britischen Militärexperten Roger Brown von Defense Systems Colombia im Juni 1996 unter anderem ein Seminar zum Thema psychologische Operationen und Spionage vorgeschlagen haben soll. Zu diesem Zweck wollten Zayas und Brown den ehemaligen Militärattaché Israels in Kolumbien, Asaf Nadel, sowie zwei weitere Fachleute einfliegen. Zayas bekräftigte ausdrücklich, daß man vor allem die zivilen Unterstützer der Guerilla im Blick haben sollte.
Raul Zelik