Eine Fahrt ins Guerillagebiet im nordostkolumbianischen Arauca
Originalfassung einer Reportage für Freitag und WOZ Januar 2009
Selten hat man das Glück, die kolumbianischen Schneeberge in ihrer ganzen Imposanz zu Gesicht zu bekommen. Doch an diesem Morgen erhebt sich der 5300 Meter hohe Nevado del Cocuy ohne jeden Nebelschweif aus der tropischen Savanne. Der Himmel leuchtet für wenige Stunden tiefblau. Der atemberaubende Anblick entschädigt für die kurvenreiche, von mehreren Bergrutschen unterbrochene Nachtfahrt, auf der man kaum zum Schlafen gekommen ist.
Langsam holpert der Überlandbus über die mit Schlaglöchern übersäte Staubpiste. Neben der auf einem Damm geführten Straße steht das Grasland knietief unter Wasser. Zebus und Reiher staksen durch in der Morgensonne glitzernde Weiden.
Vor einigen Jahren war der Landweg von Bogotá ins nordostkolumbianische Departement Arauca kaum zu befahren. Die Überlandstraße, die östlich der Hauptstadt steil ins Tiefland abfällt, ist zwar leidlich ausgebaut. Doch auf halbem Weg liegt das Ölfördergebiet von Yopal, in dem BP die größten Ölvorkommen Kolumbiens ausbeutet. Und seit das britische Sicherheitsunternehmen Defence Systems Limited (heute: Armour Group) dort in den frühen 1990er Jahren private bewaffnete Gruppen aufbaute, gilt die Region als paramilitärische Bastion. Die Straßenkontrollen der rechten Milizen stellten für Reisende lange Zeit ein kaum kalkulierbares Risiko dar.
Mittlerweile hat sich die Situation etwas entspannt. Zwar sind nach wie vor in ganz Kolumbien Todesschwadronen aktiv. Doch die Kontrolle der Überlandwege obliegt heute wieder den staatlichen Sicherheitsorganen. So erreicht der Bus nach 15 Stunden Fahrt und einem halben Dutzend Militärkontrollen schließlich gegen 11 Uhr morgens das nordostkolumbianische Arauca.
Dem Grenz-Departement kommt im kolumbianischen Konflikt besondere Bedeutung zu. Obwohl die Uribe-Regierung enorme Summen in den Krieg investiert, kontrolliert die Guerilla nach wie vor beträchtliche Teile des Departements, das mit 23.000 Quadratkilometern etwa so groß wie Hessen ist. Gleichzeitig stammt ein wesentlicher Teil der kolumbianischen Exporte aus der Region. Der US-Ölkonzern Oxy fördert hier seit Anfang der 1980er Jahre Öl, und es sind diese Vorkommen, die Kolumbien zum achtwichtigsten Öllieferanten der USA gemacht haben. Und schließlich ist Arauca ein Schwerpunkt der Basisbewegungen. Kein anderes Departement ist so stark von Genossenschaften, Kleinbauern- und Indigenenorganisationen geprägt.
Von den politischen Spannungen, die die Region beherrschen, ist in der Ortschaft Esmeralda auf den ersten Blick nicht viel zu bemerken. Das Dorf mit seinen vielleicht 2000 Einwohnern macht einen verschlafenen Eindruck. Die Armee, die zum Schutz der Ölpipeline eingesetzt wird, hat ihren Stützpunkt etwas außerhalb in einem Waldstück aufgeschlagen.
José González, Aktivist der Kleinbauernorganisation ADUC, 25 Jahre alt und wie viele Bewohner der Region etwas rundlich, nimmt mich in Empfang. Die Bauernorganisation will mir ihre Kampagne zur Koka-Substitution zeigen. Mit dem Motorrad geht es noch einmal ein halbe Stunde über Schlammpisten bis zum Grenzfluss, dem Arauca, der Kolumbien vom Nachbarland Venezuela trennt. „Es ist eine komische Grenze“, sagt José González etwas resigniert. „Man weiß nie genau, wo sie nächsten Monat verläuft.“ Tatsächlich sucht der Arauca in jeder Regenzeit ein nettes Bett. An dieser Stelle ist er in den letzten zehn Jahren mehr als drei Kilometer gewandert und hat dabei immer wieder quadratkilometergroße Flächen unter Wasser gesetzt, Vieh getötet und Häuser und Kakaopflanzungen vernichtet.
Das Kokafeld, das an diesem Morgen umgegraben werden soll, liegt ein kleines Stück flussaufwärts. Im motorgetriebenen Einboot bekommt man eine Vorstellung von der Kraft des Stroms, der in den Gletscherbergen entspringt und etwa 500 Kilometer östlich in den Orinoco mündet – unterspülte Böschungen, ausgerissene Baumstämme. Wir legen an einer großen, graubraunen Sandbank an. Die Kleinbauernorganisation ADUC wird an diesem Tag von einer nah gelegenen Oberschule unterstützt. Mit Machete und Grabstöcken bewaffnet machen sich zehn Schüler und die ADUC-Aktivisten daran, die Kokasträucher auszugraben. Wie bei fast allen Feldern in der Gegend handelt es sich auch bei diesem um eine kleine Pflanzung – nicht viel mehr als ein Hektar.
González erklärt, dass die Kampagne auf Dorfversammlungen demokratisch beschlossen worden sei. Koka sei zwar das einzige Agrarprodukt, mit sich ein sicheres Einkommen erzielen lasse, doch die Folgen des Anbaus seien schwerwiegend. Der Drogenhandel stärke die Mafia, zerstöre Solidarstrukturen und diene der Regierung als Rechtfertigung für Repression. Zur Bekräftigung zeigt mir González anliegende Felder. Die trockenen Bananenstauden sind von schwarzen Flecken übersät - Folge des Monsanto-Pflanzengifts Roundup, das im Rahmen des Plan Colombia flächendeckend in ganz Kolumbien versprüht wird. Mehrere Hunderttausend Hektar Land, gerade in ökologisch sensiblen Regenwald- und Savannengebieten sind auf Anweisung Washingtons seit 1999 besprüht und vergiftet worden. Der Boden werde nachhaltig verseucht, erklärt González. Absurderweise sei der hartnäckige Kokastrauch die erste Nutzpflanze, die auf den vergifteten Böden wieder gedeihe.
Als etwa die halbe Kokapflanzung umgegraben ist, kommt ein schlecht gelaunter Mann angetrabt. Wie sich herausstellt, handelt es sich um eine Art Verwalter der Pflanzung. Der Mann war zwar über die Kampagne informiert, wusste aber nicht, dass heute sein Feld an der Reihe war. Missmutig bemerkt er, dass Koka Tausenden von Menschen in der Region das Einkommen garantiere. Auch die Oberschüler wirken im Gespräch plötzlich nicht mehr besonders überzeugt von ihrer Arbeit. Ihr Einsatz auf dem Feld werde von der Schule als Praktikumszeit angerechnet. Nur der Bauernaktivist González argumentiert hartnäckig. Wenn die Mehrheit der Bauern eine Koka-Substitution beschließe, müssten sich auch alle daran halten. Denn auch die Folgen des Anbaus seien von allen zu tragen: die Herbizidbesprühungen, die Stärkung der Mafia, die von den Drogengeldern ausgelöste Inflation.
Nicht nur bei einzelnen Bauern trifft die selbstorganisierte Koka-Substitution auf enorme Widerstände. Anders als man vermuten könnte, kann die Kleinbauernorganisation auf keinerlei Unterstützung von Seiten der Regierung oder internationaler Geldgeber zählen. Die Uribe-Administration betrachtet die linke ADUC als subversive Organisation. Dutzende ihrer Anführer sind in den vergangenen Jahren ins Gefängnis gebracht worden. Die Armee unterhält informelle Allianzen mit jenen Paramilitärs, die nach wie vor den größten Teil des kolumbianischen Drogenhandels kontrollieren. Und schließlich gibt es auch Widerstand von links. Die FARC-Guerilla, die die Kokainproduktion zur Finanzierung ihres Krieges aktiv fördert, betrachtet den Bauernverband ADUC als Konkurrenz. Wenige Tage nach dem Ortsbesuch am Grenzfluss wird ein Bombenanschlag auf den Sitz der ADUC verübt. Wie sich herausstellt, geht er auf das Konto der FARC.
In Puerto Nidia, etwa 50 Kilometer südlich der Grenze, wird deutlich, wie komplex der kolumbianische Krieg tatsächlich ist. Am Ortseingang steht ein großes Schild mit dem Gemälde Manuel Pérez', eines 1997 gestorbenen spanischen Guerillapfarrers. In der Ortschaft sind keine Bewaffneten zu sehen, doch die Anwohner geben zu verstehen, dass die gesamte Gegend unter Kontrolle der ELN stehe, der zweiten großen kolumbianischen Guerilla. Während ein Armeehubschrauber in einigen Hundert Metern Höhe über das Dorf hinwegfliegt, erklärt Miguel Flores, Lehrer an der Oberschule von Puerto Nidia, die Situation. Die Armee führe seit einigen Wochen eine Militäroperation durch und habe etwa fünf Kilometer entfernt eine Basis eingerichtet. Es gebe fast täglich Scharmützel mit der ELN. „Aber wirklich Angst macht uns vor allem der Konflikt mit den FARC. Beide Guerillas kennen das Terrain.“
Tatsächlich sind die beiden Guerillas FARC und ELN in Arauca – und einigen anderen Landesteilen – im offenen Krieg miteinander. Die paradox anmutende Konfrontation, immerhin nehmen beide Guerillas positiv auf die Linksregierungen Lateinamerikas Bezug, hat in der Region eine lange Vorgeschichte. Die in Arauca aus der Landlosen- und Kleinbauernbewegung entstandene ELN baute zwischen 1980 und 2000 ein dichtes Geflecht von Kooperativen und Sozialprojekten auf. Mit Waffengewalt sorgte die Guerilla in Arauca dafür, dass Ölkonzerne und staatliche Einrichtungen Infrastrukturprogramme finanzierten und dass Politiker über die Verwaltung von Geldern Rechenschaft ablegen mussten. Das machte die Organisation unter den Bauern sehr populär. Als die militärisch stärkeren FARC nach Arauca vorzurücken begannen, kam es schnell zu Konflikten zwischen den beiden Guerillas. Die FARC beanspruchten eine Führungsrolle, führten Zwangsrekrutierungen durch und förderten, anders als die ELN, die Aussaat von Koka. Als die Kriegslogik der FARC, die bei Angriffen auf Polizeiposten regelmäßig ganze Straßenzüge in Schutt und Asche legten, die politische Organisationsarbeit der ELN systematisch zu untergraben anfing, eskalierte der Konflikt auch militärisch: Die ELN tötete einen lokalen FARC-Kommandanten. Seitdem sind die beiden Organisationen im Krieg miteinander, der allerdings in erster Linie auf dem Rücken von Unterstützern und Bauern ausgetragen wird. Hunderte von Tote haben die Auseinandersetzungen, die von der Armee mit Falschinformationen gezielt geschürt werden, in der Region bereits gekostet.
Oberstufenlehrer Flores bekräftigt, dass die Bewohner der Region unter nichts so sehr leiden wie unter diesem Konflikt. Trotzdem glaubt er immer noch positive Aspekte der Guerilla erkennen zu können. „In Arauca gibt es eine einigermaßen gerechte Landverteilung, selbstverwaltete Wasserwerke, Genossenschaften, Weiterbildungsprogramme für Bauern. Wir hatten sogar die effizienteste Krankenkasse Kolumbiens, bis die Uribe-Regierung sie zwangsweise aufgelöst hat. Das alles war auch ein Ergebnis der Guerilla-Präsenz, vor allem der ELN. Und auch dass die Paramilitärs in Arauca nie Fuß fassen konnten, haben wir im Wesentlichen der Guerilla zu verdanken.“
Der kolumbianische Krieg sei kompliziert, erklärt Flores, der ursprünglich aus Bogotá stammt, aber seit fast 20 Jahren auf dem Land arbeitet – aus Überzeugung, hier als Lehrer etwas bewirken zu können. Der Krieg werde von Lokal- und Eigendynamiken durchkreuzt. Der Drogenhandel, die massive Militärhilfe der USA, der flächendeckende Einsatz von Herbiziden – all das habe den Krieg verschärft und undurchsichtig gemacht. Und trotzdem werde in diesem Konflikt auch immer wieder etwas Alternatives geschaffen. Der Kleinbauernverband habe in einer selbstorganisierten Kampagne mehr als 3000 Hektar Koka substituiert. Nach Venezuela geflüchtete Bauern hätten begonnen, auf der anderen Seite der Grenze eine Genossenschaftsbewegung aufzubauen. Mit den Organisationserfahrungen aus Kolumbien und der staatlichen Unterstützung in Venezuela würden die Kooperativen im Grenzgebiet florieren. Und bei ihm in der Schule habe man mit der Dorfbevölkerung eine demokratische Ko-Verwaltung etabliert. Man betreibe unter anderem ein landwirtschaftliches Projekt zur Finanzierung der Schulkantine. „Wir haben dafür Mittel der Schulverwaltung umwidmen müssen. Das ist zwar verboten, aber es funktioniert.“
In Arauca, das noch lange nicht befriedet scheint, spürt man, dass der kolumbianische Krieg eben nicht nur tragische oder dramatische Seiten hat. Wie in fast allen bewaffneten Konflikten fällt auch schwer zu sagen, wer hier ‚die Guten’ sind. Aber zumindest gibt es vieles, das einen positiv überrascht; das einem Hoffnung macht, das in Kolumbien neben, mit und nach dem Krieg doch noch Veränderung möglich ist.
Raul Zelik
