Raul Zelik
Dieser Text wurde für Symposium "Ersatzstadt – Krieg.Stadt.Ökonomie" am 13.-15. Dezember 2002 im Berliner Prater verfasst. Alle Beiträge des Symposiums werden unter dem Titel "Space // Trouble. Jenseits des guten Regierens " im Sommer 2003 im Verlag b_books (www.bbooksz.de) veröffentlicht.
Ich habe einmal geträumt, ich würde in der Stadt sterben. Dabei habe ich nicht gewußt, daß es diese Stadt ist.
Ein Blick aus dem Flugzeug: zwischen aufgestellte Bergwände gezwängte Viertel, Verkehrsadern, Unruhe. Ein diffuser, unzusammenhängender Traum.
Drei Jahre später kehrt das Bild zurück. Die zum Flughafen Rionegro hereinkommenden Maschinen kurven zwischen Cordillera Occidental und Wolkentürmen herum. Es ist, als müssten sie den Weg erst finden. Irgendwann reißt die Wolkendecke auf, der Blick auf Viertel mit rohen Ziegelbauten und eine Einfallstraße wird frei. Es ist das Bild aus dem Traum. Ein Anblick, der für mich gleichermaßen Normalität wie Kriegszustand repräsentiert.
Näherung
Das Erste, was einem an Medellín auffällt, ist die Metro. Auf Betonpfeilern errichtet, fräst sie sich regelrecht durch die Stadt. Der Anblick von Zement und Hochtechnologie paßt so gar nicht zu dem Bild, das einem ansonsten begegnet. Man kann das auch an anderen Orten Lateinamerikas, z. B. in Caracas, beobachten. Die Metro, in den prosperierenden 70ern, manchmal auch erst 80ern errichtet, hält jedem Vergleich mit europäischen Prestigeprojekten stand. Vollautomatisierte Technik, polierte Granitböden, parfümierte Waggons. In einer Stadt, in der sich am Straßenrand Müllhalden auftun.
An den Stationen der Medelliner Metro wartet eine ganze Armee von so genannten „Abiturpolizisten“ – Wehrpflichtigen, die hier ihren Dienst ableisten –, Wachschützern und Putzleuten. Die Metro ist zur Enklave geworden, auf viel radikalere Weise, als man sich das in Europa vorstellen kann. Auf der einen Seite Massenverkehrsmittel, auf der anderen ein steriles Extra-Territorium, in dem Armut, Lärm, Schmutz, Kriminalität, aber auch ganz gewöhnliches Leben nicht mehr vorkommen darf. „Schützen wir unsere Metro, essen und trinken wir dort nicht, transportieren kein Gepäck, hören keine Musik, unterhalten uns in einer vernünftigen Lautstärke.“ So in etwa lauten die Hinweise, die durch die Lautsprecheranlagen permanent auf einen einrieseln. Die ELN, historisch in vielen Vierteln Medellíns präsent, hat den Bau der Metro in den 80er Jahren mit Anschlägen zu sabotieren versucht. Für die zwei Strecken, die Medellín kreuzen, hat Siemens mehrere Milliarden DM erhalten. Die Stadt muß als Folge des Baus bis in alle Ewigkeit Zinsen zahlen. Der wichtigste Einwand gegen das Projekt war und ist, daß die Streckenführung die Comunas außer acht läßt - die an den Hängen gelegenen Viertel, in denen die große Mehrheit der Medelliner Bevölkerung lebt. Weil es keinen Verkehrsverbund gibt, zahlen die Leute aus den Barrios doppelt: für den Bus aus der Comuna bis an die nächste Metrostation und dann noch einmal fürs U-Bahnticket. Tatsächlich nutzen nur 12 Prozent der Medelliner Nahverkehrsfahrgäste die Metro.
Ein Vorzeigeprojekt. Exemplarisch.
Kriegszustand I: Welche Stadt?
Die Metro ist nicht das einzige Extra-Territorium. Medellín besteht, wie die meisten lateinamerikanischen Städte, eigentlich überhaupt nur noch aus einem Archipel von En- und Exklaven. Straßenzüge, die die einen nicht verlassen, weil sie Angst vor Entführungen haben, sind No-Go-Areas für andere, die in die Sperrbezirke der Besitzenden gar nicht erst hereinkommen – es sei denn, sie können sich als Chauffeure, Putzfrauen, Kindermädchen oder Bodyguards ausweisen. Es gibt keine Medelliner Realität: Es gibt nur eine Realität der Flecken. Das einzige, was die Stadt zusammenhält, ist das Mißtrauen.
Juan José, Transportunternehmer und Pflegevater von M., meiner Freundin, verheimlicht den Angestellten seinen Wohnort. Es gibt fast keine Oberschichtfamilie, die nicht schon einmal eine Entführung erlebt hätte. Ein Cousin Juan Josés wurde ein Jahr von der ELN festgehalten. Seit seiner Freilassung gibt er nicht einmal mehr Verwandten seine Adresse.
Eine Geschichte, wie sie in den Medien jede Woche erzählt wird.
Pablo und seine Familie kommen aus dem Osten des Departements Antioquia – Bauern. Wenn man sie fragt, wieso sie in die Stadt gezogen sind, sagt er – seine Frau sagt gar nichts: el orden público, die öffentliche Ordnung. ‚Die öffentliche Ordnung’ ist zum geflügelten Wort geworden. Tatsächlich wurden Pablo und seine Familie von Paramilitärs und Armee vertrieben. Bereits zum zweiten Mal in seinem Leben: erst 1986 aus der Gegend um Puerto Boyacá, jetzt erneut aus San Luis. Wenn bekannt würde, daß er ein Opfer der Ordnungsmacht und ihrer parastaatlichen Verbündeten geworden ist, würde man ihn erneut verfolgen: umbringen oder vertreiben. Die Armenviertel gelten als politische und soziale Zeitbombe, v. a. diejenigen, in denen Flüchtlinge leben. Also sagt Pablo diffus: „die Gewalt ... die Situation der öffentlichen Ordnung“. Als gäbe es keine Akteure.
Eine Geschichte, die nicht jede Woche in den Medien erzählt wird.
Kriegszustand II: Zusammenhänge
Ende der 70er Jahre bildet sich in Medellín eine neue Schicht heraus. Junge, in illegalen Geschäften erfahrene Businessmen übernehmen die internationale Vermarktung des Kokains. Im Landesinneren werden Flugpisten und Laboratorien angelegt. Die Rohkokapaste wird aus Peru und Bolivien eingeflogen und in den neuen Laboratorien weiterverarbeitet. Das sich herausbildende Medelliner Kartell um Pablo Escobar wird schnell zu einem wirtschaftlichen und politischen Machtfaktor. Escobar läßt sich in den Kongreß wählen, in der Region geht nichts mehr ohne die Capos.
1981 gründen Drogenhändler, schon damals Erpressungs- und Entführungsopfer der Guerilla, eine Privatschutztruppe. Ihr Name: Muerte a los Secuestradores (MAS), „Tod den Entführern“. Der wichtigste Partner des Drogenhandels beim Aufbau dieser Todesschwadrone-Privatschutztruppe ist das Geheimdienstbataillon Charly Solano Bince. Dutzende von vermeintlichen Guerilla-AktivistInnen werden entführt, gefoltert, umgebracht. Die Kooperation bewährt sich. Ab 1983 werden im Mittleren Magdalena, ein Stück östlich von Medellín, flächendeckend paramilitärische Gruppen aufgebaut. Diesmal mit dabei: Armee, Viehzüchter, Industrielle, die Texaco Oil Company, eine Gruppe israelischer Söldner und der Capo des Kartells, Gonzalo Rodriguez Gacha, angeblich Schwiegersohn von Pablo Escobar. Es beginnt die Zerschlagung der linken Opposition in der Region – vielleicht auch mehr. Es sind die Jahre des Iran-Contragate-Skandals.
In Medellín entsteht im Umfeld des Kartells eine so genannte „Kultur des Todes“. Jugendbanden, die Auftragsarbeiten für den Drogenhandel verrichten und die Armenviertel unter sich aufteilen. Schutzgeldzahlungen, Überfälle, Massenvergewaltigungen und bezahlte Morde sind an der Tagesordnung. 1988/89 erklärt die US-Drogenbehörde DEA mit Hilfe des kolumbianischen Staats, des Cali-Kartells und Abtrünnigen des Medellín-Kartells Pablo Escobar einen Krieg, der den Drogenhandel nicht beenden, aber restrukturieren wird. Die Schwächung der Medelliner Mafia führt nicht dazu, daß die Jugendbanden verschwinden. Im Gegenteil: Ihre Herrschaft wird noch willkürlicher. Der Staat macht sich ihre Anwesenheit zunutze. Wie in einem Gefängnis, in der die Anstaltsleitung Knast-Gangs deckt, um Herrschaftsverhältnisse aufrecht zu erhalten und am einen oder anderen Geschäft zu partizipieren, durchdringen sich auch in den Medelliner Slums Staatsmacht und organisierte Kriminalität, legale und illegale Varianten von Herrschaft: Die Banden verüben Auftragsmorde, Polizeibrigaden schützen Banden, solange diese ihnen zuarbeiten.
Comuna Nororiental 1992
Der Blick von den nordöstlichen Vororten auf das Stadtzentrum erinnert ein wenig an den von einem Schanzensprungturm hinunter. 400-500 Meter Höhenunterschied hat die Stadt hier. Ich mag die Aussicht. Die Berge leuchten grün. Rafita führt mich durch Straßen, es ist heiß. Am Rande einer Erosionsstelle liegen Mülltüten, Geier zerpflücken das Plastik auf der Suche nach Essensresten. Die Straßenzüge hier oben sind erstaunlich gut angelegt: keine Pappkarton-Slums, sondern asphaltierte Straßen mit unverputzten, aber geziegelten Häusern und Stromanschluß. Paulina, Rafitas Mutter erzählt, die Comunas hätten alles selbst hingestellt, in einer Gemeinschaftsanstrengung.
Rafita, der gerade 10 geworden ist, bringt mich eine Treppe hinauf zu einem Platz, an dem der Bus in die Innenstadt abfährt. Er will eine Erinnerung, ein Andenken an diesen Besuch. Ich lasse ihm einen Ring, den mir eine Freundin geschenkt hat. D. h. er eignet sich ihn mehr oder weniger selbst an. Ich mag dieses Verhältnis zu Besitz – Nicht-Verhältnis. Der Ring ist nichts wert, aber darum geht es nicht. Es geht um Freundschaft. Rafita fragt, wann ich wiederkomme. Achselzucken.
Ich frage mich, was er heute macht. Wo er steht.
Kriegszustand III – Operation Orion 2002
Comuna 13, 16. Oktober 2002
„1. Heute, 16. Oktober, fing gegen 3 Uhr morgens in der Comuna 13, im zentralen Westen Medellíns, eine Operation von Polizei und Armee an, die Bürgermeister Luis Pérez Gutiérrez zufolge das Ziel hat, die Milizen, die in diesem Sektor operieren, zu verfolgen.
2. Diese Operation ist Teil der Maßnahmen zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung, die die Stadtverwaltung Anfang der Woche ankündigte und über die aus Sicherheitsgründen nicht berichtet wurde.
3. Nach Aussagen von Bewohnern des Sektors ist die gesamte Comuna militarisiert, in den Straßen sind Panzer aufgefahren, von denen aus geschossen wird, und zwei Hubschrauber haben verschiedene Stellen des Sektors unter Beschuß genommen. Einer der Orte, von wo aus die Sicherheitskräfte das Viertel kontrollieren, ist das Gesundheitszentrum von San Javier.
4. Diese Situation hat das Leben der Bevölkerung in große Gefahr gebracht; es wird von zwanzig Verletzten und drei toten Soldaten geredet, aber bislang gibt es noch keine genauen Daten, um wen es sich handelt. Es ist unmöglich, in die Comuna 13 zu gelangen, weil die Sicherheitskräfte dies verhindern. Die Familien verbringen den Tag auf dem Boden, um sich vor den Schüssen und Maschinengewehrsalven zu schützen.
(...) 6. Der lokalen, nationalen und internationalen Öffentlichkeit ist die Stigmatisierung bekannt, mit der Gewaltanwendung, Übergriffe und Aggressionen gegen die Bevölkerung der Comuna 13 gerechtfertigt werden. Auf diese Weise werden die in nationalen und internationalen Regelwerken anerkannten Normen ignoriert, die festlegen, daß die verschiedenen bewaffneten Akteure die nicht-kämpfende Bevölkerung schützen müssen.“
Aus einem Kommunique Medelliner Menschenrechtsgruppen
Oficinas - Büros
In dem Roman Sangre Ajena schildert der kolumbianische Schriftsteller Arturo Alape die Geschichte von Ramon Chatarra, eines Bogotaner Kindes, das vor der eigenen Familie flieht und sich mit seinem Bruder nach Medellín durchschlägt. Als gamín, als Straßenkind, wird er schließlich vom Betreiber einer so genannten oficina, eines Büros, adoptiert. In diesen Büros kann man Überfälle und Morde in Auftrag geben. Und so wird Ramon Chatarra von seinem Gönner zum Killer ausgebildet. Er lernt, wie man Juweliere ausraubt, Leute erschießt und sich nicht allzu schnell mit Kokapaste das Hirn wegraucht. Nach ein paar Jahren sind so gut wie alle Akteure der Geschichte tot. Ramon Chatarra geht nach Bogota zurück, als Müllsammler. Alles nur nicht mehr weiter Mordaufträge ausführen.
Eine These: In der organisierten Kriminalität werden die Ideen kapitalistischer Erneuerung geboren. Die Oficinas verbinden schon seit 10 Jahren in der Praxis das miteinander, was Unternehmens-Chefs heute propagieren: Out-Sourcing, Ich-AG, Flexibilisierung, Niedriglohnsektor, Networking. Wenn ich in Medellín jemanden umbringen lassen will, schicke ich eine Mittelsperson zu einer Oficina. Ohne daß der Betreiber des Büros von mir und meinen Gründen erfährt, gibt er den Auftrag weiter an junge, dynamische Einzelunternehmer – viele von ihnen sind erst 15 oder 16 Jahre alt –, die auf eigene Faust den Mord durchführen. Bei größeren Aufträgen können verschiedene Oficinas auch wie ein Netzwerk zusammenarbeiten. Die Kette der Hintermänner bleibt im Dunkeln.
Comuna Noroccidental 1992 / Barrio Paris
Horacio, Gewerkschafter, vielleicht 40, steigt zügig neben mir den Hang hinauf. Paris ist nicht genauer definiertes Gebiet. Die Straßenzüge hangabwärts werden von einer Bande kontrolliert, die sich selbst als „unabhängige Miliz“ bezeichnet, „weil Milizen Prestige besitzen“, wie Horacio sagt. Die Gasse, in der er wohnt, gehört allen und niemandem. Aber auch wenn es nicht so wäre, könnte er sich nicht anders bewegen: Die Nachbarn wissen nicht, was er macht, seine Arbeitskollegen und die Companeros aus der Gewerkschaft haben keine Ahnung, wo er wohnt. Aktivisten versuchen, nicht dort organisiert zu sein, wo sie zu Hause sind.
Ich bleibe eine Woche bei ihm. Emilia, seine Frau, hält nicht viel davon, daß er politisch aktiv ist. Sie streiten sich oft. Zu mir ist sie trotzdem nett. Besuch lenkt ab, oder: Das Problem hat ja nichts mit Besuch zu tun.
In einer dieser Nächte fallen Schüsse. Ich weiß nicht mehr, ob ich sie höre oder ob mir Emilia später davon erzählt. Am nächsten Morgen heißt es, die Bande aus den Straßenzügen hangabwärts sei von der Polizei ausgehoben worden. Wenn ich mich richtig entsinne, stirbt niemand.
Im Gedächtnis bleibt mir außerdem der Blick vom Dach des Hauses über das Valle de Aburra. Die Regenzeit fängt gerade an. Wolkenfäden kleben an Bananenstauden und erodierter, tropisch-roter Erde, Bello versinkt im Norden im Dunst. Die Stadt ist leise hier oben, man hört sie manchmal als knatternden Bus, dann wieder nur als dünnes, graues Rauschen.
In Erinnerung bleibt mir auch, daß Horacio mir in jenen Tagen auf der anderen Seite des Tals ein paar Kommandeure der Milicias Populares vorstellt – der Eindruck ist besser, als das Wort auf deutsch vermuten läßt: Milizionär. Keine Uniformen, keine Waffen, zumindest keine, die zur Schau gestellt werden, kein autoritäres Gehabe. Einer von den Kommandeuren ißt immer wieder Joghurt. Er leidet an Gastritis, an der Grenze zum Ulkus. Als ich 1996 wiederkomme, ist er noch am Leben: trotz Magengeschwürs und schmutzigen Kriegs. Ich verbuche das als positiv. Als sehr ermutigend.
Kriegszustand IV – Operation Orion 2002
Comuna 13, 21. Oktober 2002
„Seit Freitag finden kaum noch Schußwechsel statt. Statt dessen kamen 3.000 Mann von Armee, Polizei, DAS, CTI und Staatsanwaltschaft in die Comuna, um eine ‚Operación rastrillo’ (eine Art Groß-Razzia) durchzuführen, d.h. von Haus zu Haus Durchsuchungen vorzunehmen.
Das offizielle Ergebnis der Operación Orión sind bisher 45 Verletzte und 14 Tote. Die Leute, die in den hochgelegenen Teilen der Comuna leben, reden jedoch von weiteren 25 Toten, die noch nicht geborgen werden konnten. Diese Information konnte nicht verifiziert werden, wurde jedoch von zwei Personen unabhängig voneinander bestätigt.
Armee und Polizei haben bislang 130 offizielle Hausdurchsuchungen durchgeführt (aber natürlich gab es viel mehr) und 180 Verhaftungen, von denen bisher erst 28 gerichtlich behandelt wurden. Besorgniserregend ist außerdem, daß die Sicherheitskräfte bei den Verhaftungen von vermummten Informanten begleitet werden, die für ihren ‚Dienst’, Leute zu denunzieren, bezahlt werden.
Bislang wurden 500 Familien aus der Comuna vertrieben.
(...) Vor dem Hintergrund der in der Erdölstadt Barrancabermeja erlebten Übernahme einer ganzen Stadt durch die Paramilitärs, stellt sich die Frage, ob hier nicht dasselbe passieren wird; d.h. vor drei Jahren tauchten die Paramilitärs in der Comuna 13 auf, um die schmutzige Arbeit zu machen, jetzt die Sicherheitskräfte, um das Terrain endgültig zu ‚säubern’, damit dann die Paramilitärs ihre autoritäre Kontrolle übernehmen, wie es heute in den Barrios von Barranca der Fall ist.“
Aus dem Bericht einer deutschen Beobachterin
Weltmarktintegration - Zentrum 2000
Am Ausgang der Metrostation Parque Berrio sitzen Indigenas. Ich wundere mich. In Kolumbien machen Indigene gerade einmal 3 Prozent der Bevölkerung aus, in den Städten noch weniger. Die einzigen traditionell gekleideten Indigenas sind ecuadorianische Händler, die mehr oder weniger wohlhabend sind.
Die Frau hier jedoch bettelt.
Am Abend erfahre ich, daß es Embera-Katios gewesen sein müssen. Vertriebene eines Staudammprojekts bei Urra, Teil des Großprojekts in Nordwestkolumbien. Geplant sind dort im Zusammenhang mit der Einführung der Freihandelszone FTAA im Jahr 2005: ein so genannter „trockener Kanal“ in Form einer Eisenbahntrasse, zwei Überseehäfen, eine Straßenverbindung Richtung Panama, die Ansiedlung von Industrien.
Ich habe von dem Projekt und den Auseinandersetzungen um das Land immer wieder im Internet gelesen. Es ist trotzdem seltsam zu sehen, wie real diese Dinge bisweilen werden. Die Vertreibungen laufen auf Hochtouren.
Zusammenhänge II
Als Reaktion auf den Terror der Banden bilden sich Anfang der 90er Jahre in den Comunas Selbstschutzgruppen heraus. Ein paar dissidente Guerilleros widmen sich dem Projekt. Guerillanahe Milizen gibt es in Medellín schon seit den frühen 80er Jahren, aber was jetzt entsteht, ist ein neues Phänomen. Innerhalb von zwei Jahren gründen sich in fast allen Barrios so genannte Milicias: manche unabhängig, andere ELN, FARC oder EPL-nah. Um die 8000 Menschen sollen darin organisiert sein.
Die Milicias Populares del Valle de Aburra sind die anerkanntesten. Sie sehen sich als Ausdruck der sozialen und politischen Organisierung der Viertel und als Teil der Opposition. Ihre Aktionen richten sich aber v. a. gegen die Banden. Den Jugendlichen werden Ultimaten gestellt, ihre Gang-Geschäfte einzustellen oder aus dem Viertel zu verschwinden. In vielen Vierteln wird der deklarierte Krieg auch geführt. Jugendliche aus den Barrios, die in Milizen organisiert sind, töten Jugendliche aus Barrios, die in Banden organisiert sind, und umgekehrt. In einigen Gegenden beruhigt sich die Lage. Man kann immerhin wieder mit dem Bus ins Stadtzentrum fahren, ohne ausgeraubt zu werden. Die Linke gewinnt ausgerechnet als Ordnungsmacht Ansehen.
Es gibt Diskussionen über den Charakter der Milizen. Über ihren Militarismus und das Fehlen sozialer Organisierung. Man kritisiert, daß man sich benehme wie die Gegenseite. „Mimikry an den Feind“, würden Terkessidis / Holert das wohl nennen. Aber nicht diese Debatten sind es, die die Lage nachhaltig ändern. Sondern eine Initiative des Staates.
Ab 1993 beginnt die Regionalregierung Verhandlungen mit den moderateren unter den Milizen. Im Labyrinth der Medelliner Realitäten werden viele Gruppe durch Abkommen demobilisiert, einige sogar in private Sicherheitsdienste verwandelt: Paramilitarismus in immer wieder neuem Gewand. Der linke Teil der Milizen existiert weiter, allerdings stark dezimiert. Er versucht neu Fuß zu fassen: als Bestandteil einer sozialer Organisierung der Bevölkerung, aber auch als Ordnungsmacht. „Companero, trink nicht! Zu Hause wartet deine Familie!“ steht an den Wänden vieler Comunas. Darunter das Zeichen der Miliz.
Kriegszustand V – Logiken
Geschichten des Terrors: Ein Freund erzählt vom Tod eines Verwandten: „Man hat ihn beim Autofahren erschossen. Er hat einem Motorradfahrer mit dem Wagen aus Versehen die Vorfahrt genommen. Der Motorradfahrer ist ihm hinterher und hat ihn angehalten. Der Mann hatte eine Waffe in der Hand. Er hat gefragt, ob er sterben will. Mein Verwandter hat mit den Achseln gezuckt. Da hat ihn der andere erschossen.“
Paulina, die Mutter Rafitas, hat eine Bekannte, die nicht mehr Busfahren kann. Ein paar Mal wurde sie ausgeraubt und einmal dann auch Zeugin eines Mordes. Einige pillos, vielleicht waren es auch paras oder milicianos oder Leute vom cartel, hatten den Bus angehalten, haben sich die Passagiere von vorne angeschaut und dann auf den Mann geschossen, der neben ihr saß. Der Typ ist 30 Zentimeter neben ihr von Kugeln zerfetzt worden. „Aber sie hatte Glück: Andere sterben an den Querschlägern. Seitdem will sie nicht mehr in Busse steigen. Aber was soll sie machen? Sie muß ja irgendwie arbeiten gehen.“
Direkte militärische Auseinandersetzungen haben da fast schon etwas Erleichterndes: Sie besitzen eine klare Struktur. Im Sommer 2002 schreibt Matilde, eine deutsche Freundin, daß sie nachts wach liegt, weil man Schüsse und Explosionen aus den westlichen Comunas hört. Die Paramilitärs versuchen die letzten Bastionen der Linken zu erobern. Es sind die Wochen vor der Operación Orión. Matilde hat Angst. Sie hat in Barrancabermeja miterlebt, wie eine Stadt gesäubert wurde: 800 Tote in einem Jahr – bei gerade einmal 400.000 Einwohnern. So gut wie alle sozialen Organisationen wurden zerschlagen. Matilde ist deshalb nach Medellín gezogen. Jetzt passiert dort das gleiche.
Einige Tage später schreibt sie, in der Innenstadt seien Autobomben detoniert, in den Geschäftsstraßen. Ich habe den Eindruck, sie freut sich.
Das, was man ansonsten als Terrorismus bezeichnen würde, hat bisweilen eine Logik gegen den Schrecken: Anschläge in der Innenstadt zwingen Armee und Polizei, ihre Kräfte auseinanderzuziehen. Sie müssen Banken und Anlagen schützen, anstatt weiter auf die Viertel an der Peripherie vorzurücken. Das läßt sich auch in anderen kolumbianischen Regionen beobachten. Die Anschläge auf Pipelines, Strommasten, Brücken und Straßen sind nicht nur Angriffe auf die ökonomische Infrastruktur. Manchmal sind sie auch einfach nur eine Entlastung für Dörfer, die unter dem Druck von Armeeoperationen stehen. Antonio, ein Freund aus Cali, sagt: „Jeder Soldat, der eine Brücke bewachen muß, ist ein Soldat weniger, der Leute massakrieren kann.“
Einwände
J. sagt, ich verstünde die Stadt nicht. Ich hätte keinen Begriff von ihrer Energie. Ich sähe nur das Politische. Oder was ich dafür hielte. „Okay, jeder kennt Geschichten von Morden. Aber auch jeder diese eigenartige Freundschaft. Du rennst einem Bus hinterher, der gerade anfährt, und es gibt eine Hand, die dich reinzieht und festhält. Es gibt Überfälle, aber eben auch diese Momente, in denen man dir die Tasche abnimmt, weil sie zu schwer für dich aussieht. Und neben der Angst ist immer auch Intensität. Nirgends sonst habe ich erlebt, daß Menschen so viel über Augenblicke reden. Über Himmel, Farben, Musik, Stimmungen. Die mögen alle Gedichte. Wer liest heute sonst noch Gedichte?“
Ich antworte nicht. J. sagt, ihre Medelliner Freunde nähmen den Augenblick deshalb so sehr wahr, weil sie nicht wüßten, wie viel Zeit ihnen bleibt. Der Zusammenhang leuchtet mir ein. Er leuchtet mir sogar zu sehr ein. Daß das Leben erst in der Nähe des Todes groß wird, das erzählen einem alle: Ernst Jüngers Stahlgewitter, Steven Spielbergs Private Ryan, Danny Boyles The Beach. Wer Narben trage, fühle seinen Körper. Abhärtung, Sehnsucht nach Selbstverstümmelung, Extremerlebnisse –Mystifizierung des Soldatischen. Nie werde man so sehr Mensch. Aber wahrscheinlich ist es genau anders herum. Wahrscheinlich ist die Wertschätzung des Augenblicks vorher da. Vor der Konfrontation mit dem Tod. Denn mit jeder Narbe spürt man seinen Körper weniger, jeder Tod macht die Augenblicke stumpfer. Es ist nicht die Nähe des Abgrunds, die Medelliner haben einfach Ahnung vom Leben.
„Ich bin nirgends so viel ausgegangen wie dort“, sagt J., „wir haben jeden Abend eine andere Kneipe entdeckt, Läden, die die Leute in ihren Wohnungen aufgemacht haben. Wir haben Salsa getanzt. Rock alternativo, Mano Chao, HipHop. Ich stehe auf diese Stadt. Ich will da wieder hin.“ Ich versuche mich zu erinnern. Nur das Bild eines Sonntagnachmittags fällt mir ein: Vor der Kathedrale waren die Subkulturen der Stadt, ich habe Jugendliche mit rot-schwarzen Armbändchen und der Aufschrift EZLN gesehen. Mir ist das aufgefallen: Mexico schien näher zu sein als Kolumbien. Auch eine Form der Flucht.
Es ist so: J. kennt die Stadt, sie hat sie erlebt, sich in ihr treiben lassen, ich hingegen hab sie nur gefürchtet. Sie hat Freundschaften geschlossen, ich bin zu Hause bei einem Freund gehockt und habe gehofft, daß die Bullen nicht kommen. J. war feiern in den Comunas, ich habe die Barrios v. a. als Mosaiksteine gesehen. Als Teil eines Prozesses, von dem ich hoffte, daß er eine Zukunft besitzt, obwohl ich eigentlich wußte, daß er jeden Tag ausgelöscht wird. Ich habe zu selten einen Blick für den Moment. Ich bin kein Medelliner.
„Die paisas bescheißen einen, aber sie sind freundlich. Sie haben Humor. Nirgends haben sie so geilen Humor ... Mann, diese Stadt sprüht vor Leben. Du verstehst sie nicht. Du siehst sie immer noch von oben, aus der Luft. Aber diese Perspektive ist nur ein Ausschnitt. Ein winziger Teil.“
Ich denke, daß sie recht hat. Daß ich immer noch im Flugzeug sitze.
Ökonomie des Überlebens
Vor einigen Jahren hat die Nahrungsmittelgewerkschaft SINALTRAINAL ein Projekt vorgestellt, das die Ernährung der kolumbianischen Bevölkerung gewährleisten soll. Der praktische Teil des Projekts besteht im Aufbau von Konsumenten- und Produzentenringen: Nahrungsmittel sollen direkt von ländlichen Kooperativen zu den gewerkschaftlichen Verbrauchergenossenschaften gehen. Keine Zwischenhändler, keine TNUs, die Märkte monopolisieren oder verseuchte Agrarprodukte verscheuern. Das Problem ist jedoch: Immer wenn der Organisierungsprozeß auf dem Land so weit ist, daß sich Kooperativen bilden, kommen Paramilitärs und vertreiben die Bevölkerung aus der Region. Die konkrete Veränderung, die von bürgerlicher Seite so oft eingefordert wird, wenn es darum geht, linke Kritik als Wolkenkuckucksheim zu diskreditieren, wird – wenn sie ihre Nische verläßt – ebenso gnadenlos verfolgt wie abstrakte Umsturzkonzeptionen. Vielleicht sogar noch gnadenloser.
Matilde erzählt von einer bizarren Entwicklung. In den letzten Jahren seien eine Reihe von Fabriken pleite gegangen. Die Belegschaften hätten keine Perspektive. Es gebe keine Jobs, Zigarettenverkäufer stünden auch so genug am Straßenrand, und aufs Land könne man nicht zurückkehren. Die Arbeiter hätten deshalb, trotz der Situation in der Stadt, ihre stillgelegten Fabriken besetzt. Um weiter zu produzieren. Allerdings nicht das, was man bisher hergestellt hat.
Sie halten Kleinvieh. Der Prozeß der forcierten Weltmarktintegration führt zur Subsistenzwirtschaft zurück – allerdings prekärer als zu Beginn der Modernisierung. Zwischen den alten Lagerhallen füttern Arbeiter, die bisher Schrauben oder Plastikformen hergestellt haben, Hühner und Schweine. Natürlich gibt es Streit: jemand möchte auf eigene Rechnung arbeiten, andere beschweren sich über den beißenden Geruch des Hühnerfutters. „Das hält kein Mensch aus.“
Alles andere als ein Idyll: Im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Milizen fallen Sondereinheiten im Herbst über die besetzten Fabriken her. Dort, wo die Geschichte zu Ende ist, weil der Kapitalismus auf ganzer Linie siegt, wird selbst die Organisierung der Subsistenz zum Terrorismus. Fukuyama meets Nine-Eleven. Die Fabrikbesetzer hoffen, zumindest ihre Tiere in Sicherheit bringen zu können.
Eine Stadt als Archipel von Alltag, Überlebenskampf und Schrecken.
Buch
Becker, Jochen / Stephan Lanz (Hg.) | metroZones 1 | Space//Troubles | Jenseits des Guten Regierens: Schattenglobalisierung, Gewaltkonflikte und städtisches Leben | 2003 · 232 S. · 12 € · ISBN 3-933557-51-8: http://www.b-books.de/verlag/space-troubles/index.html