bolivia-aguaIn Bolivien ist man an Straßenproteste gewöhnt. Es gehört zur politischen Kultur, dass gesellschaftliche Gruppen ihre Anliegen zunächst durch Blockaden kundtun. Doch in diesen Wochen kann man in La Paz den Überblick verlieren. Seitdem die Regierung Morales die Arbeitszeit in den Krankenhäusern von 6 auf 8 Stunden täglich verlängern will, befindet sich die bürgerliche Ärztekammer im Ausstand. Der trotzkistisch beeinflusste Gewerkschaftsdachverband COB hat zum Generalstreik gegen die vom Präsidenten dekretierten acht Prozent Lohnerhöhung aufgerufen, und auf dem Prado, der Flanierstraße der bolivianischen Hauptstadt, campieren seit Wochen die Angehörigen der Verschwundenen, um eine Aufklärung der während der Diktatur begangenen Menschenrechtsverbrechen zu erreichen. Bislang hat die Regierung Morales, um ihr Bündnis mit der Armee nicht zu gefährden, die Militärs vor Untersuchungen geschützt.

Der explosivste Konflikt jedoch wird im Nordosten Boliviens ausgetragen. Ende April sind mehrere Hundert Indígenas von der Grenzprovinz Beni Richtung La Paz aufgebrochen, um gegen den Bau einer Überlandstraße durch ihr Gebiet zu demonstrieren. Die Regierung Morales will mit der Straße Trinidad-Cochabamba das an Brasilien angrenzende Tiefland stärker an die Andenregion binden und die Gefahr einer politischen Sezession mindern; außerdem geht es um Ölvorkommen, die in Region vermutet werden. Der Konflikt um den TIPNIS-Nationalpark nagt am Selbstverständnis des plurinationalen Boliviens. Zwar wohnen in dem Gebiet nur etwa 20.000 Menschen, doch die Straßenbaupläne werfen grundsätzliche Fragen auf: Welche Interessen verteidigt die Morales-Regierung eigentlich? Die von Indígenas und sozialen Bewegungen, wie die Regierung selbst beansprucht, oder die eines nationalen Bürgertums, das sich Entwicklungsprogramme und einen stärkeren Staat wünscht?

María Nela Prada ist der lebende Beweis, dass sich in Bolivien tatsächlich Vieles verändert hat. Die dreißigjährige Politologin leitet das staatliche Büro für Hafenwesen. Da Bolivien seit dem Pazifik-Krieg Ende des 19. Jahrhunderts keinen Zugang zum Meer mehr besitzt, gehört die Nutzung von Überseehäfen zum Aufgabenbereich der Regierung. In der ganzen Stadt sind Plakatwände zu sehen, auf denen Präsident Morales „Boliviens Recht auf Meer“ einfordert. Auch in Pradas Büro hängen die entsprechenden Flyer und Poster – neben Che-Fotos und Kuba-Wimpeln.

María Prada ist eine sympathische Staatssekretärin: eine junge Aktivistin, die sich entschuldigt, wenn das Gespräch durch ein Telefonat unterbrochen wird, deren Antworten nicht wie aus der Pistole geschossen kommen, die auch bei Widerspruch zuhört.

Auf die Frage nach Erfolgen und Misserfolgen von sieben Jahren Morales-Regierung antwortet sie zögerlich. 2003 beim Aufstand gegen den Neoliberalismus, setzt sie schließlich an, hätten die Bewegungen zwei Hauptforderungen aufgestellt: Nationalisierung der Bodenschätze und Einberufung einer Verfassung gebenden Versammlung. Beides sei umgesetzt worden: „Früher kam der Großteil der Gaseinnahmen den ausländischen Konzernen zugute, heute bleibt der Löwenanteil beim Staat. Und auch die Verfassung ist ein Riesenfortschritt. Die plurinationale Verfassung garantiert nicht nur kulturelle und ethnische Vielfalt, sondern auch Demokratisierung. Indigene Gemeinschaften sind als Subjekte demokratischer Selbstbestimmung anerkannt worden.“

Prada verweist auf die symbolische Dimension der Veränderung. Frauen, die als Kinder Schweine hüten mussten, seien heute Staatssekretärinnen. Es gebe ein Ministerium für Entkolonialisierung und eine Abteilung für Entpatriarchalisierung. „Und dann sind da auch noch die Sozialprogramme. Wir haben heute eine Altersrente für alle, Mütter mit Kleinkindern werden unterstützt, jedes Kind erhält eine jährliche Prämie für den Schulbesuch.“

Spontan ruft die Behördenleiterin eine Power-Point-Präsentation auf und führt auf ihrem Laptop Statistiken vor. Die bolivianischen Wachstumsraten liegen über dem lateinamerikanischen Durchschnitt, der Staat hat die Kontrolle über Schlüsselbranchen wie Energieversorgung und Telekommunikation zurück erlangt, die Staatsverschuldung ist, auch dank eines internationalen Schuldenerlasses von 85% auf 35% des Bruttoinlandsproduktes gefallen.

Auf die Frage, ob das nun der „Anden-Kapitalismus“ sei, von dem der Vizepräsident und Intellektuelle Álvaro García Linera gesprochen habe, reagiert Prada irritiert. García Linera gilt als der eigentlich mächtige Mann in der Regierung Morales und als Befürworter eines an Brasilien angelehnten, rohstoffzentrierten Entwicklungsmodells. Sie kenne die Formulierung vom „Anden-Kapitalismus“ nicht, antwortet Prada, der Vizepräsident rede normalerweise vom „kommunitären Sozialismus“. Aber natürlich sei der Einwand nicht falsch, dass der revolutionäre Impetus abgenommen habe. „Wir bräuchten mehr Selbstkritik“, gibt sie zu, ohne sie erläutern, was denn genau kritisiert werden müsste.

Am darauf folgenden Tag in El Alto, auf 4000 Meter Höhe. Der Panoramablick hat etwas Einschüchterndes. In drei Richtungen ist die karge, nur mit Grasbüscheln bewachsene Hochebene von 6000er-Gipfeln umstellt. Die gletscherbedeckten, zerklüfteten Anden erinnern an Marslandschaften. Moränenschutt türmt sich zu surrealen Figuren, wegen des Eisengehalts des Gesteins schimmern die anliegenden Hänge rotbraun. Die Luft ist stechend und dünn, jeder Schritt fällt schwer, die Höhe sorgt für Benommenheit und Schwindel.

El Alto ist ein Zuwandererviertel. Da La Paz in einem steil abfallenden Tal liegt, hat sich die Migration in den vergangenen 20 Jahren in der Hochebene angesiedelt. Auf diese Weise ist El Alto zu einer Millionenmetropole mit mittlerweile mehr Einwohnern als La Paz herangewachsen. Und El Alto ist auch mehr als nur eine Wohn- und Schlafstadt: Ein Großteil des Handels wird hier abgewickelt. Der internationale Flughafen von La Paz liegt hier oben, die Straßen nach Chile und Peru führen hier vorbei.

Es ist Markttag, an Hunderten von Ständen wird Gemüse verkauft. Obwohl es kalt ist, unter 10 Grad, tragen die meisten der Aymara-Frauen nur Sandalen. Eine seltsame Geruchsmischung aus Autoabgasen, frisch geschnittenem Gras und Frittenöl liegt in den Straßen. Von Revolution ist hingegen nichts zu merken. Politische Parolen sieht man, anders als in Venezuela oder selbst Kolumbien, kaum.

Das einzige bemalte Gebäude weit und breit ist das Kulturzentrum Wayna Tambo. Es erinnert an südeuropäische Jugendzentren: eine schwarze, vollgekritzelte Metalltür, der Theater- und Konzernsaal riecht muffig, in einem Anbau oberhalb der Veranstaltungsräume hat ein alternativer Radiosender sein Studio.

Mario Rodríguez hat das Wayna-Tambo-Kollektiv vor 17 Jahren mit gegründet. Koka kauend berichtet der Pädagoge und Basisaktivist von dem Stadtteilprojekt, das sich mit der indigenen Kultur der Vorstädte beschäftigt und als politische Stimme ‚von unten‘ begreift. Denn auch wenn Wayna Tambo ein Kulturprojekt ist, begreift man die Arbeit doch als politisch. El Alto war das Epizentrum der politisch-sozialen Revolte 2003. Hier entzündeten sich die Proteste gegen die Privatisierung der Erdgasvorkommen, hier organisierten Nachbarschaftsnetzwerken den diffusen, militanten und doch zivilen Ungehorsam, der schließlich zum Sturz der Regierung Sánchez de Losada führte.

Auf die Frage nach den Konflikten zwischen Präsident Morales und den sozialen Bewegungen antwortet Rodríguez mit einem dünnen Lächeln. Es sei typisch für andine Widerstandstradition, holt er etwas weiter aus, dass man seinen Anführern misstraue. „Die andine Kultur beruht auf Reziprozität: ‚Ich mache etwas für dich, wenn du etwas für mich tust‘. Das gilt sogar für das Verhältnis zu Heiligen. Ein Schutzpatron, der seinen Aufgaben nicht nachkommt, wird bestraft. So ähnlich stehen die Leute auch zu Morales. Man wählt ihn, aber man bestraft ihn auch. Evo hat viel Unterstützung verloren. Trotzdem würde er im Moment wiedergewählt werden.“

Anders als die meisten linken Intellektuellen ist Rodríguez weder ein glühender Verteidiger des Präsidenten noch hat er sich enttäuscht von ihm abgewandt. Es sei nicht einmal gelogen, sagt Rodríguez, wenn sich die Morales-Regierung als „Regierung der sozialen Bewegungen“ bezeichne. „Bauern- und Frauenorganisationen haben wirklich viel Macht im Staat bekommen. Das Problem ist nur, dass daraus nichts entsteht. Die Organisationen sind bürokratisch eingebunden worden, sonst nichts.“ Und eine Änderung sei nicht in Sicht. Die Regierungspartei MAS, die mehr eine bürokratische Bewegungskoalition denn eine Partei ist, betrachte Kritik tendenziell als Verrat. Rodríguez wirkt ein wenig ratlos, als er die Situation schildert, aber auch nicht wirklich entmutigt. Als habe die vor einigen Jahren gemachte Erfahrung, die politische Situation völlig auf den Kopf stellen zu können, für unerwartete historische Zuversicht gesorgt.

Einige Tage später begegnen wir uns in Cochabamba wieder. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung veranstaltet in der Stadt ein Seminar über „Alternativen zur Entwicklung“. Am Rande der Konferenz besichtigen wir ein Wohnprojekt. In der von Frauen gegründeten und geleiteten Comunidad María Auxiliadora leben mittlerweile an die 1000 Familien. Die Landtitel sind kollektiv, nur Frauen können die formalen Nutzungsrechte halten. Auf diese Weise wird gewährleistet, dass prügelnde Ehemänner jederzeit aus dem Viertel geworfen werden können.

Wir schlendern durch die überraschend großzügige Anlage, vorbei an Gärten, der selbst gebauten Kanalisation, einem Sportplatz. Eine Nachbarin lädt zu sich nach Hause ein, zu vierzigst essen wir in ihrem Wohnzimmer Maisbrei. Eine der Frauen berichtet, dass Alkoholismus und häusliche Gewalt, in Bolivien ansonsten omnipräsent, fast ganz aus der Nachbarschaft verschwunden seien. „Für uns ist eine Utopie Wirklichkeit geworden“, sagt sie. Und die Regierung Morales? Macht es sich für die Frauen bemerkbar, dass Bolivien links regiert wird? Es sei einfacher geworden, mit dem Staat in Gespräch zu kommen, erzählt jemand. Man habe eine Gesetzesinitiative gestartet, die die Finanzierung kollektiver Wohnprojekte erleichtern soll. Die Regierung habe die Initiative positiv aufgegriffen, doch direkt unterstützt werde man nicht.

Mario Rodríguez hört die Bemerkung und lächelt verschmitzt. Es sei nicht so, dass der emanzipatorische Prozess in Bolivien am Ende ist, hat er vor einigen Tagen in El Alto gesagt; er finde nur nicht in erster Linie im Staat statt.

Raul Zelik

 

 

Design zersetzer. freie grafik / Berlin

Programmierung, Umsetzung G@HServices Berlin V.V.S.

Kopfbild Freddy Sanchez Caballero / Kolumbien