Der österreichische Publizist Robert Misik rezensiert im Wiener Stadtmagazin "Falter" das Essaybuch "Nach dem Kapitalismus. Perspektiven der Emanzipation oder das Projekt Communismus anders denken" (VSA-Verlag). Seine Einschätzung: "Radikalismus auf der Höhe der Zeit".
Robert Misik: "Radikaler Reformismus" (Falter 22. Juni 2011)
Raul Zelik macht sich Gedanken über den „Communismus" mit C, der vielleicht nach dem Kapitalismus kommt.
Der Linksradikalismus ist ja heute keine allzu mächtige Bewegung, und kaum noch jemand glaubt ernsthaft daran, dass der Kommunismus am nächsten Donnerstag ausbricht. Dennoch hat man gelegentlich den Eindruck, dass einem gewisse Schwundformen radikaler Haltungen auf Schritt und Tritt begegnen. Nicht nur, weil es Pamphletistik, die ebenso wortradikal wie belanglos ist, gelegentlich in die Bestsellerlisten schafft.
Überall, von Simmering bis Kapfenberg, Bludenz bis Neubau begegnet man erstaunlicherweise Menschen, die glauben , dass „der Kapitalismus" einfach böse ist und innerhalb „des Systems" keine nennenswerten Fortschritte zu erzielen sind. Aber nicht immer ist dieses Umstürzlertum erfrischend: Während der Radikale vor zwanzig oder hundert Jahren noch energetisch und vital war, weil ihm seine Radikalität Schwung gegeben hat, so ist das bei der Schwundform des radikalen Bewusstseins genau umgekehrt. Weil es sich a) sicher ist, dass innerhalb „des Systems" nichts Positives erreicht werden könne, aber b) der Systemkritiker traurig feststellt, dass der Feind übermächtig ist und ohnehin immer alles schlechter wird, paart sich radikales Bewusstsein heute gerade nicht mit Schwung, sondern oft mit Depremiertheit und Larmoyanz, deren einziger Lebenssinn darin besteht, die realen, kleinen Verbesserungen, für die sich die nicht ganz so Radikalen einsetzen, verächtlich zu machen. Es ist ein Radikalismus der nicht aktiviert, sondern passiviert. Diese Form traurigen Dagegenseins macht also die Luft nicht immer besser, oft mieft sie recht ordentlich.
Der Theoretiker und Aktivist Raul Zelik, der einen heftigen europäisch-südamerikanischen Pendelverkehr lebt, weil er in Berlin wohnt und im kolumbianischen Medellin an der Universität unterrichtet, hat nun ein Buch geschrieben, das manche der nervtötenden Aspekte der radikalen Publizistik teilt, etwa diesen Hang zum Jargon oder die Verhandlung von Fragen, die sich niemand stellt („Rätedemokratie: Gut oder schlecht?"). Dennoch hebt sich sein Buch „Nach dem Kapitalismus?" erfreulich von den üblichen, wortgewaltigen Anklagen gegen die Schlechtigkeit der Welt ab.
Raul Zelik sieht genau hin, hat ein offenes Auge für die Realitäten der wirklichen Welt, statt dass er sie sich zurechtmodelliert. Er will ein System, das nach anderen Rationalitäten funktioniert als das simple Profitsystem, er will eine radikale Demokratie, die sich nicht darin erschöpft, alle paar Jahre die Stimme abzugeben und er will einen „Communismus", den man heute neuerdings mit C schreibt, um so die „commune", also die gemeinschaftliche, gemeingüterhafte, gemeinwesenhafte Seite der alten Idee wiederzubeleben, die als „Kommunismus" mit K so gründlich diskreditiert worden ist. Und indem er auf die realen Tendenzen der wirklichen Welt blickt, stellt er fest, dass kaum etwas eindeutig ist, „nur" gut oder „nur" schlecht, sondern ambivalent.
Und deshalb ist sein Buch voller kluger Beobachtungen. So ist eine der positiven Tendenzen, die er ausmacht, die „Peer-to-Peer"-Technologie und die „Commons-based production", die in der Computer-, Software- und Kreativbranche längst üblich ist. Das selbe gilt für die Idee des „Green New Deal", die Idee also, mit reformerischer Industriepolitik das Produktionssystem und die Energiesysteme ökologisch umzurüsten, und damit zwei Fliegen gleichzeitig zu schlagen: Einerseits die ökologische Krise zu bekämpfen, andererseits die Wirtschaft in Schwung zu bringen und neue, hochqualitative Arbeitsplätze zu schaffen. Diese Idee, die nicht nur von deutschen Grünen, sondern auch von amerikanischen Regierungspolitikern propagiert wird, ist eine jener positiven Symptomatiken für eine Umorientierung, die Zelik anführt. Gleichzeitig erkennt er scharfsichtig eine fragwürdige Seite der „Green-New-Deal"-Idee: dass sie so tut, als wäre eine solche Umrüstung erstens einfach eine sachlich kluge Lösung, die zweitens zum Vorteil für jeden wäre und drittens niemandem etwas kosten würde. Dass sie also, kurzum, vom Geist des Technokratismus durchdrungen ist, der unterstellt, aufgeklärte Eliten könnten in einer Demokratie Probleme analysieren, Lösungen finden und sie dann nach Sozialingeneur-Art in die Realität umsetzen; dass man also an der bisherigen Art des Funktionierens unseres Wirtschaftsystems nur ein paar Zahnräder verstellen müsse. Dass ein echter New Deal, ob green oder sonst wie gefärbt, auch Machtfragen aufwerfen würde, das wird dabei gerne übersehen.
Zelik stellt die Frage, „ob die Ökologieforderungen nicht strukturell radikaler sind als diejenigen, die sie vertreten". Und er fragt paradox: Hat sich nicht die alte Arbeiterbewegung als deutlich weniger radikal erwiesen, als ihre Begründer das glaubten, da die Sozialreformen, die sie durchsetzte, den Kapitalismus stabiler und erfolgreicher gemacht haben? Was aber, wenn die Ökologieforderungen sich nicht so einfach in die Logik dieser Wirtschaftsform integrieren lassen, obwohl sich die, die die Forderungen erheben, als gar nicht so radikal verstehen?
Über weite Strecken argumentiert Zelik gewissermaßen gegen die „eigenen Leute", also gegen linksradikale Simpifizierungen. Etwa dagegen, sich in aseptischen Utopien neue Wirtschaftsarrangements auszudenken, denen der historische Prozess dann immer ein Schnippchen schlägt. Auch von schneidigen Revolutionskonzepten hält er nicht viel, wer wirkliche Änderungen wolle, müsse eher über Verschränkungen von „Bruch, Kontinuität und Transformation" nachdenken. Er zitiert, durchaus sympathisierend, den Begriff des „radikalen Reformismus".
Raul Zelik hat ein optimistisches Buch geschrieben. Er denkt über die wirkliche Welt nach. Und er denkt zwei, drei Schritte über die bloß notwendigsten Reformen hinaus, ohne gleich realitätsvergessen ins Wolkenkuckucksheim abzudriften. Ein Radikalismus, der auf der Höhe der Zeit ist.
Raul Zelik: Nach dem Kapitalismus. VSA-Verlag, Hamburg. 144 Seiten, 13,20 Euro